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Am liebsten verkitschte Abziehbilder

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Der verstorbene Volkstheaterdirektor Leon Epp hat es sich einmal allen Ernstes verbeten, daß Kritiker sein Publikum rezensierten. Sie sollten alles in seinem Haus kritisieren, aber sie hätten kein Recht, das Publikum zu tadeln. Ein paar Jahre später schleuderten vier Schauspieler im Josefstädter Konzerthauskeller in Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ Invek-tiven ins Parkett, gegen die alle bösen Kritikerbemerkungen, die je über das Wiener Publikum gemacht worden waren, vergleichsweise wie verbindliche Höflichkeitsfloskeln wirkten. Nun darf man, ehe man hier eine Gedankenbrücke schlägt, nicht übersehen, daß Epp als Theaterdirektor ein passionierter Erzieher war — das Volkstheater hatte zu seiner Zeit den mutigsten Spielplan aller Wiener Theater —, und daß Handke sein Stück keineswegs auf die Wiener Verhältnisse gemünzt hatte.

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Der verstorbene Volkstheaterdirektor Leon Epp hat es sich einmal allen Ernstes verbeten, daß Kritiker sein Publikum rezensierten. Sie sollten alles in seinem Haus kritisieren, aber sie hätten kein Recht, das Publikum zu tadeln. Ein paar Jahre später schleuderten vier Schauspieler im Josefstädter Konzerthauskeller in Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ Invek-tiven ins Parkett, gegen die alle bösen Kritikerbemerkungen, die je über das Wiener Publikum gemacht worden waren, vergleichsweise wie verbindliche Höflichkeitsfloskeln wirkten. Nun darf man, ehe man hier eine Gedankenbrücke schlägt, nicht übersehen, daß Epp als Theaterdirektor ein passionierter Erzieher war — das Volkstheater hatte zu seiner Zeit den mutigsten Spielplan aller Wiener Theater —, und daß Handke sein Stück keineswegs auf die Wiener Verhältnisse gemünzt hatte.

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Aber Epps Geste des Beschützers seines Publikums und Handkes „Publikumsbeschimpfung“, mit der er trachtete, die Zuschauer aufzustören und zu kräftigeren Äußerungen hinzureißen, ihnen mehr als den rituellen Schiußapplaus abzupressen, diese beiden Beispiele markieren nur scheinbar extreme Positionen. In Wahrheit wollte auch Epp sein Publikum aktivieren, es zum Denken animieren, obschon mit ganz anderen Mitteln. Er hat in seinem Haus mit dieser Methode doch einige beachtliche Teilerfolge erzielt, wohingegen Handke — sieht man von einer erfolgreichen „Kaspar“-Inszenierung ab — sich auf den Wiener Bühnen nicht durchgesetzt hat.

Die Schocktherapien der Avantgarden haben in Wien selten heilsame Wirkungen. Eher wird ein Wiener Durchschnittspublikum, das man Kaltwasserbehandlungen aussetzt, verstockt. Emotionelle Reaktionen, empörtes Verlassen einer Vorstellung unter heftigem Türenzuschlagen, sind meist schon Höhepunkte kritischer Anteilnahme. Man erhitzt sich lieber und ausführlicher an personellen Fragen. Jedes Wiener Theaterproblem wird zu einem personellen Problem. In den Debatten über den nächsten Burgtheaterdirektor, die unmittelbar nach dem Amtsantritt seines Vorgängers beginnen, täuscht man sich über die tieferliegenden Krisen hinweg.

Mit populären Künstlern Unpopuläres spielen

Nun gibt es ein beliebtes feuilleto-nistisches Klischee, mit dem man sich einigermaßen bequem, und ohne sich schlimmen Verdächtigungen auszusetzen, aus der Affäre ziehen kann. Jeder kleine Moritz der Wiener Kulturpublizistik kennt es: Das Wiener Theater ist ein Theater der Schauspieler, das Wiener Publikum geht nicht in die „Burg“ oder in die „Josefstadt“, um ein Stück, eine Interpretation oder eine interessante Aufführung, sondern, um seine Lieblinge zu sehen. Daran ist natürlich etwas Wahres. Aber wie jede Formel, die zu pointiert ist, steckt auch in dieser bestenfalls die halbe Wahrheit.

Es wäre dann auch alles viel einfacher. Man könnte mit Hilfe der Publikumslieblinge die unpopulären Stücke durchsetzen, aber diese Rechnung geht selten auf. Ein Josef Meinrad, wenn er nicht gerade Musical spielt, ein Leopold Rudolf, wenn er gerade in Wien ist, oder eine Alma Seidler, wenn man sie einmal einsetzt, erwecken gewisse Erwartungen. Wenn sie sie nicht erfüllen, würde das auf die Dauer, wie man in dem in diesem Zusammenhang gar nicht so unzutreffenden Werbejargon sagt, ihrem Image schaden, aber der Literatur, der sie helfen sollen, nur wenig nützen.

Dennoch hilft uns das Klischee von der Schauspielerstadt Wien, das zumindest so alt ist wie das Wiener Theaterfeuilleton, weiter. Wenn man nämlich daran denkt, daß schon ein Liebling wie Nestroy die Ungunst seiner Zeitgenossen zu spüren bekam, wenn er ihnen zuviel zumutete. Das Wiener Publikum war dem Neuen gegenüber schon immer höchst mißtrauisch, was manchmal auch seine Vorteile hat, aber, wenn dieses Mißtrauen in Muffigkeit und reaktionäres Sumpertum umschlägt, auch sehr gefährlich werden kann.

Progressives Idyll

Ist das Wiener Publikum alsc reaktionär? Es gibt dafür erschrek-kende Anzeichen. Daß es konservativ ist, sind sich alle einig; gegen der Vorwurf, es sei reaktionär, würder es wahrscheinlich viele verteidigen nicht zuletzt vermutlich jene, die mitgeholfen haben, daß es jetzt in diesem trüben Licht dasteht.

Aber sehen wir uns zuerst einmal um. Die unerschrockenen Kämpfei für ein moderneres Wiener Theatei halten uns immer die deutscher Spielpläne vor. Nur: wer sie genau studiert, wird seine Überraschungen erleben. Die vermeintliche Progressivst des deutschen Stadttheaters und seines Publikums ist ein Idyll das eine Berichterstattung ausmalt, die sich seitenlang verzückt über Novitäten ausläßt, aber verschweigt, daß sie nur für eine Minderheit gespielt werden. Ein Theater, das viermal in der Woche „Das weiße Rößl' aufführt und nur am Montag den neuen Edward Bond in einer Zadek-Inszenierung, hat mitnichten ein fortschrittliches Publikum. Dennoch ist es in Wien schlimmer.

Ich gestatte mir hier eine Abschweifung auf das Gebiet der bildenden Kunst. Es ist heute längsl nicht mehr richtig, daß Wien kein Boden für die Malerei und die Graphik sei. Der florierende Kunsthandel ist der beste Beweis, welchen Aufschwung die Kunst in Wien in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung genommen hat. Aber welche Strömung verbucht den größten Erfolg, in deren Kielwasser andere Richtungen gerade noch einigermaßen mitschwimmen können? Jener sogenannte Phantastische Realismus, der die rückwärtsgewandten Utopien verschollener Stile aufbaut, der Fluchtwelten des Biedermeier heraufbeschwört und dessen Protagonisten so tun, als hätten sie eine zeitgemäße Variation des Surrealismus kreiert, während sie doch nur späte Epigonen einer Wiener Jugendstilkunst sind, die schon zu ihrer Hochblüte dem Wiener Bürgertum goldene Käfige gebaut hat.

Nur nicht die Wirklichkeit!

Nun ist Kunst immer Ablenkung. Darin hat die Neue Linke schon recht, die das ja nicht entdeckt, sondern nur lauthals als ihre Erfindung ausgegeben hat. Aber es kommt eben auf die Nuancen an. Das Wiener Theaterpublikum will unterhalten werden. Dagegen ist nichts einzuwenden, das hat sogar ein sonst vom Theater als Instrument der Aufklärung überzeugter Mann wie Brecht nicht bestritten. Theater ist Spiel und Verwandlung, was immer man aus ihm macht und wozu immer man es benützt. Aber in Wien möchte man am liebsten im Theater von der Wirklichkeit überhaupt nicht behelligt werden, sondern hat am liebsten ihre verkitschten Abziehbilder.

Dafür gibt es Indizien und Beweise. Die Theaterdirektoren, die an der Misere nicht ganz unschuldig sind, lesen es aus ihren Kassenrapporten, die Kritiker, falls sie nicht selbst Opfer der Wiener Situation sind, merken es an den Reaktionen bei den Premieren. Natürlich gibt es Unterschiede, ist alles viel differenzierter. In der „Josefstadt“ gelten die Gesetze einer vielleicht nur noch fiktiven guten Gesellschaft, im Volkstheater die eines arrivierten Kleinbürgertums und eines zu Ansehen gekommenen Mittelstandes. Natürlich gibt es die Avantgardebühnen mit ihrem Minderheitenpublikum, ebenso wie es das größte Theater Österreichs, das Fernsehen gibt, das es sich noch am ehesten leisten kann, an wenigen gezählten Abenden sozusagen hinter dunklen Schirmen zu spielen.

Wenn man Revue passieren läßt, was an wichtiger zeitgenössischer Dramatik in Wien noch nicht oder mit jahrelanger Verspätung gespielt worden ist, bekommt man eine ungefähre Vorstellung von dem, was gerade noch geduldet wird. Es ist schon langweilig und fast schon unfair, die Josefstädter Direktion anzugreifen, die immer wieder ihre

Renommierdurchfaller präsentiert, um zu beweisen, daß es eben nicht anders geht. Es kommt auch gar nicht auf die Zahl der Uraufführungen oder zeitgerechten österreichischen Erstaufführungen an; viel schlimmer als eine versäumte Uraufführung ist das Klima der Intoleranz, der Muffigkeit, zu dem auch die einschlägige Publizistik beiträgt, die nicht nur die Kunstkritik zugunsten der Starreportage und der Sensationsmache zurückdrängt, sondern auch die Erfolge des Mediokren manipuliert, in der Hoffnung, an ihnen partizipieren zu können.

Die Erscheinungen sind international, aber die Akzente, die in Wien gesetzt werden, oft besonders pikant. Wenn — wie es vor ein paar Jahren passiert ist — Verantwortliche des Theaters der Jugend eine Anzen-gruber-Vorstellung des Volkstheaters nicht in das Theater-der-Jugend-Abonnement aufnehmen, weil in dieser Vorstellung triste Familienverhältnisse vorgeführt werden („Die braven Leut' vom Grund“), dann fragt man sich, wie es bei solcher Führung um das Publikum von morgen bestellt sein wird, das heute schon auf andere, wirklich fragwürdige Informationsquellen und Unterhaltungsangebote ausweicht.

Das Theaterpublikum ist immer nur Teil einer Gesellschaft, aber vermutlich ein sehr repräsentativer. Reden wir nicht davon, daß es Intellektuelle gibt, die kein Theater besuchen und nur die Nase rümpfen, wenn sie das Wort Staatsoper hören. Da steckt auch oft Dünkel und Snobismus dahinter. Aber welche Chancen auf Besserung bestehen, wenn der Rezensent eines Massenblattes ein Theaterstück erbarmungslos verhöhnt, in dem die Problematik des Arbeiters angeschnitten wird, der als Spezialist die Zusammenhänge in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr begreift; ein Stück also, in dem ein brisantes Thema berührt wird, von dem die halbe Million Leser dieser Zeitung kein Wort erfährt, von vornherein vernichtet wird? Und vergessen wir nicht, daß dieses Publikum, das natürlich Milderungsgründe verdient, immer wieder bevormundet wurde. Zuerst durch die Kunstkammern des Dritten Reiches, später aus einer anderen Richtung in Form der Brecht-Blockade, die hier am längsten durchgehalten wurde, und noch immer durch das Vorenthalten von i Informationen, was zwar nicht mehr i aus — jedenfalls nicht durchsichtigen — ideologischen Gründen, aber

■ immerhin aus Ignoranz und Impo-i tenz geschieht. Picasso am Vorhang Es ist ein ironischer Treppenwitz

■ der Kunstgeschichte, daß die gleichen i Menschen, die Picasso-Motive schon

• als Vorhangmuster in ihren Wohnun-i gen haben, noch immer gegen den

■ Maler Picasso auf die Barrikaden i der Borniertheit steigen würden, , würde man sie dazu nur aufmun-

■ tern. In Wien kann es einem passie-i ren, daß der gleiche Mann, der noch s gestern im Fernsehen widerspruchs-

• los die Rückblendetechnik akzeptiert

■ hat, heute im Theater gegen sie murrt. Ein Detailaspekt, gewiß, so

• wie diese ganze Betrachtung aus

■ Detailaspekten zusammengesetzt ist, . die vielleicht deutlicher als abstrakte

• Überlegungen die Situation veran-

• schaulichen; aber ein Zeichen für das niedere Reflexionsniveau, auf das man hier in Kunstdingen immer wieder stößt, viele Rezensionen nicht ausgenommen.

Ich will gar nicht unterschlagen, daß es auch Anzeichen gibt, die man als Lichtblicke deuten kann, daß sich da und dort Gruppen und Kreise bilden, die hoffen lassen. Aber ihre Wirkungen gehen oft über ihren Gesichtskreis nicht hinaus; sie ändern kaum etwas an der tristen Gesamtsituation.

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