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Theater, Literatur und Krise

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Was tut ein Privattheater mit seinem Spielplan, wie versucht es, auf der einen Seite der Forderung nach Literatur und Erziehung des Publikums, auf der anderen (zahlenden) Seite aber auch dem Verlangen nach dem Hanswurst nachzukommen? Welche Überlegungen sind maßgebend für die Bildung des Repertoires, das dann von dem durchaus sachkundigen Publikum und der noch sachkundigeren Kritik als ziellos und schwach erklärt wird? Sowohl Schauspieler wie Publikum stehen der Literatur mit äußerstem Mißtrauen gegenüber, in des- letzten Zeit haben sich aber sogar die Kritiker für den Schwank und das Volksstück entschieden, wahrscheinlich weil sie zum Wiener Charakter besser passen als Pariser Pessimismus. Trotzdem hat nun irgendein Idealtheater, das hier unter die Lupe genommen werden soll, den löblichen Vorsatz, bis an die Grenzen der Selbstvernichtung literarisch zu sein, und zu diesem Beginnen steht ihm auch da gesamte Dramenlager aller Kulturepochen sowie die tägliche Produktion zur Verfügung. Ein Dramaturg liest im Jahr durchschnittlich dreihundertfünfzig Stücke. Zehn bis zwanzig werden gespielt. Und davon waren mindestens vier nicht unter den dreihundertfünfzig, die der Dramaturg gelesen hat. Man fragt: In diesem Überfluß war nichts Besseres zu finden? Nun, um ein Stück auf die Bretter zu bringen, braucht man zunächst eine bestimmte Bühnengröße. Der Rütlischwur in der Westentasche ist kein Programm. Es ist auch nicht zu empfehlen, ohne Drehbühne Dramen mit etlichen dreißig Schauplätzen in Angriff zu nehmen, so schön diese Werke auch sein mögen. Nach solchen Überlegungen ist die zur Verfügung stehende Anzahl von Stücken schon um einiges geringer. Jetzt aber kommt die Besetzungsfrage. Wir leben in einer Zeit, die angeklebte Bärte, weiße Perücken und falsche Bäuche verabscheut. Der Schauspieler soll womöglich alles für seine Rolle mitbringen, um die Echtheit seiner Darstellung bis ins Letzte zu steigern. Der Film arbeitet nur nach diesem Rezept, und das Publikum ist längst von der Notwendigkeit dieser typmäßigen Besetzung überzeugt. Man braucht also zu einer Aufführung von „Julius Cäsar” nicht nur eine große Bühne, Rundhorizont, Drehbühne and eine Menge Statisten — man braucht auch die richtigen, haraktermäßig überzeugenden Typen für Cäsar, Marc Anton, Brutus, Cassius, Casca, Cinna — und so weiter bis zum letzten Bürger, der Marc Antons Rede unterbricht. Und nicht nur die Typen, sondern auch gute Schauspieler; und nicht nur gute Schauspieler, sondern im Falle Cäsars noch Menschen von geradezu überwältigender Persönlichkeit. Ist ęin Typ nicht vorhanden, muß man versuchen, ihn außerhalb des Theaters aufzutreiben und für die betreffende Rolle zu engagieren, was nicht immer möglich sein wird. Ist es aber möglich, verteuert es auf jeden Fall die Kosten. Das Beste erscheint demnach, viele Typen im Hause zu haben. Abgesehen von der hiedurch natürlich entstehenden riesigen finanziellen Belastung, begegnet man aber hier außerdem einem neuen Problem: dem Problem, daß nämlich jeder fix engagierte Schauspieler das Recht auf angemessene Beschäftigung besitzt und im Falle der Nichtbesdiäftigung seinen Direktor wegen künstlerischer Schädigung sogar gerichtlich belangen kann. Das bedeutet, daß ein Theater gesetzlich verpflichtet ist, seinen Schauspielern Rollen zu geben; daß es künstlerisch verpflichtet ist, die passenden zu finden. Erfolg: das Theater sucht keine Stücke mehr, sondern Rollen. Freilich gibt es noch Direktionen, die diesem Schicksal entgehen wollen, daher auf Spitzenschauspieler verzichten müssen und den Haupt wert auf das Repertoire legen. Sie sind aber nun gezwungen, bedenkenlos zu besetzen, und das ist in einer Großstadt, die alle Vergleichsmöglichkeiten besitzt, sehr gefährlich. Sie bringen gute Stücke in mäßiger Inszenierung, während die normale Bühne eher mäßige Stücke, aber in bester Inszenierung aufs Programm setzt. — Zwingt nun die möglichst hochwertige und passende Besetzong, geplante Stücke in erster Linie nach dem Vorhandensein bestimmter Rollen zu beurteilen, so zwingt die Forderung nach einer völlig durchgeprobten, ausgeglichenen uiid ausgereiften Inszenierung zur Wahl eines Stückes, das durch seine lange Laufzeit eine möglichst lange ‘Probenzeit für das nächste Stüde gestattet. Das Stück soll also Rollen enthalten, die im Haus besetzt werden können und die den Schauspielern gute Entfaltungsmöglichkeiten geben. Es soll literarisch sein, aber dem breiten Publikum gefallen; es soll die technischen Möglidikeiten der Bühne nicht übersteigen und — jetzt kommt noch der geschäftliche Leiter zu Wort es soll kostümmäßig und aus- stattungsmäßig nicht allzu teuer sein. Außer-’ dem soll ein Theater, das zum Beispiel sechs wirklich große .Schauspieler in seinem Ensemble hat, diesen pro Spielzeit zwölf Hauptrollen bieten können, denn jeder Spitzenschauspieler will im Jahr seine zwei Hauptrollen spielen. Unter allen diesen Bedingungen soll dann eine derartige Stückauswahl erfolgen,’ daß man nach der Saison von einer konsequenten Linie des Theaters sprechen kann, von einem literarischen Verdienst und von einem (allerdings in Klammern der Bescheidenheit gesetzten) finanziellen Erfolg.

Und nun erscheint plötzlich die Krise. Woher sie kommt, ist allgemein bekannt. Die wichtigsten Bedarfsgegenstände sind wieder im Handel erhältlich. Das Geld ist abgewertet und flößt Vertrauen ein. Die Leute sparen; und sparen nicht etwa auf einen Theaterbesuch, der außerdem viel zu teuer käme. Die Theater sind leer, und es ist nicht abzusehen, wie lange dieser Zustand dauern wird. Allzu großer Optimismus ist keinesfalls am Platz, wenn man erstens die Gründe deą Krise und zweitens den Theaterbetrieb in früheren, hormalen Zeiten in Rechnung stellt. — Wie reagieren nun Publikum und Direktionen auf diese Katastrophe? Das Publikum bleibt aus, und die Gescheiten sagen: „Warum habt ihr nicht bessere Sachen gespielt?” Was man hiebei unter besser zu verstehen hat, ist je nach Veranlagung des Nörglers abgestuft zwischen „Weißem Rößel” und Kraszinskis „Ungött- lichcr Komödie”. Die Direktionen schimpfen zunächst auf die Literatur, wie sie das meistens tun. Aber siehe da, es erweist sich, daß es ziemlich gleichgültig ist, was man spielt — ‘der Besuch bleibt in allen Fällen äußerst gering. Die derzeitige Krise hat eben nichts mit dem Spielplan zu tun, sie leitet bloß eine andere Theaterzeit ein, auf die sich umzustellen nötig sein wird. Das heißt aber nicht etwa, daß nun nur mehr Kitsch gespielt werden dürfte oder wie eine andere Stelle meint — daß nun eine Art natürlicher Stückauswahl stattfände und also nur mehr hochwertige Dramen gebracht würden. Das heißt vielmehr, daß wir nun erfahren werden, ob die Kunststadt Wien überhaupt genug kunstverständige Theaterbesucher hat, um sechs oder sieben literarische Bühnen am Leben zu erhalten. Das heißt, daß ab nun ein Stück nicht unbedingt dreißigmal laufen muß und trotzdem gut probiert werden kann. Daß die Einkünfte der Schauspieler nicht unbedingt so in die Höhe geschraubt werden müssen, daß das Spitzenhonorar das Hundertfache des Mindesthonorars ausmacht, eine Spanne, die sich sonst bei keinem Beruf vorfindet. (Dieser Maßstab ist nicht willkürlich gewählt, sondern jederzeit zu beweisen.) Die Krise wird uns ferner lehren, daß zwar ein Theater kein Geschäft ist, daß njan es aber geschäftlich verantwortungsvoll führen muß zwei Grundsätze, die bisher leider oft gerade gegenteilig ausgelegt wurden. Nein, diese Krise ist keine Angelegenheit des Repertoires, sie ist einfach eine Krise des sorglosen Verdienens, das Abflauen eines abnormen „boom”, sie geht Hand in Hand mit dem’Bankrott der Schleichhändler. Es gibt keine Krise des Theaters — das Theater wird bestehen, solange es Menschen gibt. Es gibt auch keine Krise der Literatur, so gerne die Kritik das auch feststellt (und zu jeder Zeit festgestelilt hat; denn es gehört zum Vorrecht der Kritik, sich auf weite Sicht zu blamieren). Und die berühmte Ausweglosigkeit der modernen Dramatik, die man ihr so sehr zum Vorwurf macht, als wäre die Kunst ein Kräuterladen gegen politische Bauchschmerzen — diese Ausweglosigkeit wird bestimmt verschwinden, wenn die Staatsmänner endlich den Ausweg gefunden haben, den man so völlig unberechtigt vom Dichter verlangt. Und muß man nicht wirklich sagen, daß ein Staatsvertrag in der Hand hundertmal besser ist ab verkrampfter Optimismus auf der Bühne?

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