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MAN LIEST WIEDER DRAMEN

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Auch dem weniger aufmerksamen Beobachter des ständig einlaufenden Bücherangebotes wird es nicht entgangen sein, daß in den letzten Jahren die Diskussion um das Theater nicht mehr allein von der Bühne her geführt wird, sondern auch wieder vom Buch her, vom Drama. Unsere Zeiten haben sich soweit wieder normalisiert, daß die Frage um Wert und Bedeutung des Dramas nicht mehr ausschließlich vom Theaterbetrieb her aufgerollt wird, sondern eine intensivere Beschäftigung damit, auch von seilen des Publikums her, eingesetzt hat, wie sie nur durch den gedruckt vorliegenden Text ausgelöst werden kann.

Möglicherweise haben wir einen Anstoß zu dieser Intensivierung, die einer persönlich verantwortlichen Urteilsbildung gleichzusetzen ist, in der Tatsache zu suchen, daß der moderne Theaterbetrieb heute einerseits weitgehend organisiert ist (durch gewerkschaftlichen oder parteigebundenen Zubringerdienst etwa), anderseits Einzelinteressen und allen möglichen m.ehr oder minder obskuren Imponderabilien (Rollenbesetzungsmöglichkeiten, zeit- und politische Interessen usw.) unterworfen scheint und damit einer objektiven Wertbestimmung — einem freien Markt sozusagen — entzogen ist.

Das Vertrauen, im Spielplan eine freie Wertgültigkeit (zeitbezogen oder künstlerisch) zu finden, ist ebenso geschwunden wie das Vertrauen, das Dargebotene in authentischer Wiedergabe zu sehen.

Aber Genauigkeit ist wieder gefragt. Das Theater rückt wieder an die Fronten weltanschaulicher und geistiger Auseinandersetzungen, hält wieder einen Platz, der ihm seit Anbeginn zusteht, ist wieder Forum geworden. In einer Welt publizistischer Geschwätzigkeit, geistreichelnder oder auch nur primitiver Verfälschungen von allem und jedem, greift der Zuschauer über das Theater wieder auf das Wort zurück, auf das Wort des einen, der es geprägt, der es niedergeschrieben hat.

Zum Mißtrauen gegenüber jeglicher Art von Schwatzhaftigkeit tritt zudem die Angst, die uns heute nie und nimmer verläßt: die Regisseure sind unter uns! Hat der Zuschauer denn heute noch eine Sicherheit, wenn er im Theater sitzt und die Vorgänge auf der Bühne verfolgt, ein Stück vor sich zu haben, das ein Dichter, ein Autor geschrieben hat, oder geht es nur darum, einer Demonstration der „starken Hand“ des Regisseurs beizuwohnen? Jahrzehntelang hat man von Bühnenwirksamkeit gesprochen, hat mit Ausdrücken, wie bühnengerecht und theaterbedingt, herumgeworfen, bis es dahin gekommen ist, wo wir heute stehen: welcher Name auf dem Theaterzettel ist verantwortlich für das, was wir zu sehen bekommen, der des Autors oder der des Regisseurs?

Die einzig mögliche objektive Orientierung des Zuschauers erlaubt das gedruckte Stück, das Drama. Es ist heute jedem möglich nachzuschlagen, was Goethe, Shakespeare, Schnitzler oder Hofmannsthal geschrieben haben, wirklich geschrieben haben. Welch einer Welt aber von geistig abenteuernden Regisseuren und Bearbeitern sieht, sich ein moderner Autor gegenüber? Christopher Fry greift dieses Thema im Vorwort zu seinem Stück „The Ladys not for burning“ auf und bittet darin jene „Theatergefahr“, die er vornehm als „this perhaps impossible person“ anspricht, lieber davon abzusehen, das Stück zu bearbeiten und die Komödie so zu lassen, wie er sie geschrieben habe. — Die Legende von der Bühnenunerfahrenheit des Autors ist heute weitgehend überholt, und die Bearbeitung von Stücken hat sich zu einer Hydra entwickelt. Der eine Grund: Strebsamkeit am falschen, weil fast immer unvermögenden Platz; der andere, der besonders bei Übersetzungen immer wieder zu bemerken ist: der Regisseur, der die Erstaufführung einer „deutschen Bühnenfassung“ herausbringt, möchte gerne für seine „Mühe“ am prozentuellen Honorarschacherbetrieb teilnehmen.

Wenn wir hier vom Mißtrauen gegenüber dem Theater sprechen, müssen wir aber auch vom Mißtrauen einer gewissen verlegerischen Tätigkeit gegenüber sprechen Mehrere Jahre wurde unser Wissen um den französischen Autor Jean Genet allein von der Skandalpresse genährt. Man hörte und las von Aufführungserfolgen in Paris, London; im deutschen Sprachraum hörte man davon in Klatschspalten, und die Sammler von Erotikas zeigten sich interessiert. Der Grund? Ein deutscher Verlag hatte das Hauptwerk Genets, „Der Balkon“, in einer für normale Verhältnisse unmöglichen Ausgabe herausgebracht: 500 Exemplare zu horrendem Preis. So mußte es sich der Autor gefallen lassen, ausschließlich als zwielichtige Verbrechergestalt in unserer Vorstellung Raum zu finden, und es wäre wohl auch weiter dabei geblieben, hätte nicht ein mutiger Theatermann in Berlin das Stück aufgeführt. Die überaus positive Aufnahme bei Kritik und Publikum ging durch die ganze deutsche Presse. Mit dem Tag dieser deutschen Erstaufführung war Genet für das deutsche Publikum aus dem Verbrecheralbum in das Literaturlexikon übersiedelt. Und das Ergebnis: Genets „Balkon“ liegt heute mit den beiden Einaktern „Unter Aufsicht“ und „Die Zofen“ in der billigen Fischer-Bücherei zu jeder Diskussion über Autor und Werk bereit.

Aber damit halten wir schon wieder bei einem anderen Mißtrauen: dem Mißtrauen, in der Provinz zu leben. 1957 hob sich für das Publikum in London zum erstenmal der Vorhang über dem 1955 geschriebenen Schauspiel „Der Balkon“. 1959 spielte man das Stück in Berlin. Im Jänner 1960 erschien der Text in der Fischer-Bücherei. Und von Berlin bis Wien ist es noch weit. Nirgends ist die Angst vor der Provinz so groß wie bei uns in Wien; und meist: mit Recht! Es gibt ein paar Leute, die fahren nach Paris, nach Berlin, nach München; die berichten dann, was vorgeht in der Welt des Theaters, wir lesen es und müssen es hinnehmen und glauben. Dabei ist das Mißtrauen in die Kritik nicht minder verbreitet und berechtigt als das Mißtrauen gegenüber all den anderen Faktoren, die das moderne Theaterleben bestimmen. Und der einzige Halt in dieser Situation ist das Stück! Und darum, Gott sei Dank, druckt man wieder Dramen!

Das Mißtrauen macht sich aber nicht allein im gegenwärtigen Theaterschaffen breit, sondern greift auch auf das historische, alteingesessene Theatergut zurück. Neuübersetzungen sind heute an der Tagesordnung. Der moderne Mensch hat ein ganz anderes, bedeutend kritischeres Verhalten zu fremden Sprachen und damit auch Übertragungen gegenüber als früher. Der moderne Mensch verlangt Authentizität! Er will den Autor hören, nicht seinen Interpreten. Er strebt nach Gültigkeit und Objektivität, und die kann nur das Wort vermitteln, wie es sein Schöpfer geformt hat. Die Zersplitterung des Urteils, die Mühseligkeit der Urteilsbildung, wie sie in der Theaterkritik so häufig zu beobachten sind, resultieren nicht zuletzt aus der Tatsache, daß es gilt, das Werk als solches unter den verschiedenen Hüllen herauszuschälen. In extremen Fällen verfährt man mit dem Drama heute wie mit dem Film: man schneidet sich die Version, die gerade opportun ist. Sicherlich — das sei unwidersprochen — liegt gerade in dieser Möglichkeit auch das schillernde Phänomen des Theaters, dieser Kunst, die wie keine Proteus verhaftet ist, dem Vielgestaltigen, Wandelbaren. Hofmannsthal, der wie wenige wußte, was Erbe ist und was Verpflichtung zu diesem Erbe, auch in der Kunst.bedeutet, hat es einmal formuliert: „Der dramatische Text ist etwas Inkomplettes, und zwar um so inkompletter, je größer der dramatische Dichter ist.“ Dennoch kann eine Rechtfertigung zur Ausgestaltung, zur Kommentierung des „Inkompletten“ erst bestehen, wenn der Text, die Vorlage gegeben ist. Theater ist Spiel. Wir wollen, wir wünschen das Spiel, seine magische Anziehungskraft, seine Wandlungsfähigkeit; aber ein Spiel ohne Spielregeln hebt sich selbst auf. Und beim Theater heißt die erste und oberste Spielregel: Texttreue!

Wenn man heute also wieder Dramen druckt, ist diese Entwicklung sowohl geistesgeschichtlich als auch psychologisch zu erklären. In einer Welt der Auslegungen, der Interpretationen, der Wortspalterei, der zerschwataten und zerspielten Kunst rückt das Wort wieder in den Vordergrund. Das Wort, das einmal geprägt wurde, im vollen Bewußtsein dieser Prägung, in der vollen Verantwortung des schöpferischen

Das persönliche, ; IWreil des' “Zuschauers macht wieder seinen Anspruch geltend gegenüber jeglicher Interpretation. Das ist ein Reifungsprozeß, der nicht gering zu achten ist. Das Bewußtsein der eigenpersönlichen Verantwortlichkeit bricht hier auf und — das macht den Vorgang so erfreulich — in einer künstlerischen Disziplin, in der höchste Imagination ebenso wirksam gemacht werden kann wie dialektische Aussage. Der moderne Mensch wird sich langsam wieder bewußt, was Theater ist, was auf der Bühne und von der Bühne her geleistet werden und bewirkt werden kann und will. Und aus diesem Grunde will er die Bühne der entscheidenden Wirklichkeit rein erhalten wissen, aus diesem Grund mitsprechen dürfen über Recht und Unrecht, das am Theater, von der Bühne her, begangen werden kann. Das Wort gilt wieder, hat wieder Wert. Das Mißtrauen gegenüber dem modernen Theater ist also nichts anderes als ein Streben zur Wirklichkeit. Das Theater beginnt endlich wieder von innen heraus zu leben, aus dem Wort.

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