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Wiederentdeckung des Menschlichen

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Wer die Programme der großen europäischen Konzerthäuser und der Rundfunkstationen aufmerksam verfolgt, kann feststellen, daß auf ihnen auch eine ganze Reihe neuerer und zeitgenössischer Werke figurieren, die ebensooft gespielt werden, wie viele Meisterwerke des 19s Jahrhunderts (wenn wir nicht gerade an die Fünfte von Beethoven oder die Sechste von Tschaikowsky denken). Zahlreiche Stücke von Strawinsky, Hindemith, Honegger, Martin und anderen haben gewissermaßen schon Heimatrecht in den „normalen“ Konzertprogrammen erworben. Dagegen darf von der gegenwärtigen großen Oper mit Breitenwirkung nur als von einer „res non facta“ gesprochen werden. Sie existiert nicht. Warum? Ist das Publikum übersättigt, geht es nicht mehr ins Theater, ist das ganze Genre unzeitgemäß geworden? Dies trifft keineswegs zu. Das Publikum ist nach wie vor vorhanden, und käme heute ein neuer Richard Strauß, er könnte auf die Treue seiner Anhänger und die Neugier der anderen zählen, genau so wie der Meister der „Salome“ und des „Rosenkavalier“. Woran liegt es also, daß die moderne Oper für das Publikum nicht existiert?

Es liegt doch wohl an den Komponisten. Als erster Grund scheint mir bei fast allen eine gewisse Scheu, geradezu eine Furcht vor Breitenwirkung gegeben. Das mag sonderbar sein, da doch im allgemeinen das Streben jedes Künstlers dahin geht, von möglichst vielen anerkannt zu werden. Und doch ist dieses Phänomen fast allgemein zu konstatieren. Es liegt meiner Meinung nach in der Schwierigkeit begründet, verständlich und gut im gleichen Moment zu sein. Da, wo Güte mit einem Fragezeichen versehen werden muß, ist die Unverständlichkeit vielfach der einzige Schutz vor plakatierter Sicherheit dieses Interpunktionszeichens. Und wo Qualität wirklich vorhanden und wahrhaftig vorhanden ist, scheut sich die Einfachheit, weil zu viele abschreckende Beispiele der andern Alternative die Runde machen.

Ein weiterer Grund für das Fehlen einer wirklich modernen Oper ist der Mangel an guten Libretti. Der Zug weg vom Gegenständliehen, hin zum Geistigen, der die moderne Literatur beherrscht, ist' ein Merkmal, das sich wohl auf die Oper übertragen läßt, ihr aber damit schon die Tendenz ins Geistig-Abstrakte und damit Esoterische verleiht, das der „großen“ Oper absolut feindlich ist.

Als dritten Grund der Opernabsenz möchte ich schließlich noch die gegenwärtige Problematik in der Daxstellung des Visuellen erwähnen. Die seinerzeitige „raison d'etre“ der szenischen Opernkomponente war das große Spektakel, das seitdem fast vollständig durch den Film entwertet wurde. Auch die Darstellung naturalistischer Vorgänge, die als Verismo oder andere Modeerscheinungen ephemer auftauchte, konnte sich auf die Dauer nicht behaupten und verschwand gleichzeitig mit den Parallclerscheinungen des Sprechtheaters. Wohl deshalb, weil diese Form des Theaters ganz im Subjektiven wurzelte und daher einem der wichtigsten Gesetze des überzeitlichen Theaters, dem Gesetz der Allgemeingültigkcit, widersprach. Und dann kam die nächste, noch jetzt bestehende Epoche, die der Transposition des Geistigen auf die Bühne; im Einklang mit jenen Problemen, die sie den Librettisten stellt, hat sie auch Regie und Inszenierungskunst durchgreifend verändert. Die Abstraktion regierte und regiert, und sie führt so gerne, so „logisch“ in die Esoterik.

Das müßte keineswegs so sein. Denn Abstraktion ist eine Form des künstlerischen Denkens, die absolute Gültigkeit besitzt. Abstraktion ist ja nichts anderes als Stilisierung, also jene Umwandlung konkreter Geschehnisse in eine Kunstform, die mit an der Wiege der Bühnendarstellung stand. Abstraktion wird sogar notwendig, wenn gewisse konkrete, zeitgebundene Bestandteile eines Kunstwerkes ihrer aktuellen Gültigkeit hinderlich werden: ich erinnere etwa an die Salzburger „Cosi-fan-tutte“-Aufführung, in der das spanische Rokoko ebenso eliminiert wurde wie. das naturalistische Bühnenbild in den Bayreuther Wagner-Aufführungen. Aber Abstraktion kann auch zu weit führen. Vielleicht kann man tatsächlich von allem abstrahieren, was dem Gedanken als Gefäß dient. Von einem aber nicht, niemals: von jenem, der den Gedanken hervorbringt, vom Menschen. Gerade den Menschen aber versuchte die Kunst, und auch die Oper, des letzten Halbjahrhunderts systernatisch zu eliminieren, im Gefolge jener politischen Ideen, die ihm seinen politischen Wert nahmen und ihn zum kleinen, unbedeutenden Partikel degradierten, dessen „Liquidierung“ als vollendeter Akt der Abstraktion gewertet wurde. Mit dieser Einstellung zum Menschlichen mußte der Pessimismus Fuß fassen. Und so stehen wir heute auf unseren Bühnen, den Guckkasten des Zeitgeistes; Abstraktion vom Menschlichen und Pessimismus herrschen — und das ohne Publikum, das sich lieber das konkrete Welttheater und den herrlichen Optimismus unserer Klassiker zu Gemüte führt.

Vielleicht ist es der Lauf unserer Zeit, der gebieterisch diese Einstellung erfordert und unsere Kunst so düster prägt. Ich glaube nicht daran. Eines aber ist sicher: dieser Zeitgeist, dieser Pessimismus wird durch den Mangel ah Produktion das Theater, die Oper, das Massenschaustück töten. Betrachten wir nur, wie viele Opern, denen man, wenn schon nicht Ewigkeitswert, so doch einige hundert Jahre Gültigkeit prophezeit hatte, innerhalb der letzten zwanzig Jahre von den Bühnen weggeblasen wurden. Wie selbst sogenannte „klassische“ verschwunden sind. Wo wird noch heute „Martha“ aufgeführt, welche Bühne spielt noch den „Postillon von Lonjumeau“, an dem sich unsere Großeltern entzückten? Das „Glöckchen des Eremiten“ hat ausgebimmelt, die „Hugenotten“ sind friedlich entschlafen, und selbst Verdis „Macbeth“ hat Ruhe gefunden.

Doch glaube ich an den Bestand des Theaters, an den Bestand der Oper und vor allem an den Bestand des Menschen. Meiner Meinung nach kann es nur einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise geben: Die Wiederentdeckung des Menschen, des Menschlichen. Das bedeutet weder eine direkte Abwendung vom geistigen Theater noch den Verzicht auf Abstraktion. Aber es wird wieder der Mensch sein müssen, der auf dem Theater denkt und handelt, und wenn abstrahiert wird, dann mag man sich Realität, Naturkopie, Nebensächliches der Handlung und der Idee wegdenken — nur eines nicht: den Menschen. Denn schließlich sind es ja Menschen, die im Zuschauerraum sitzen und die nur dann etwas verstehen können, wenn es auch verständlich ist, wenn es sie selbst angeht und .sie sich selbst auf der Bühne sehen. Wandelnde Symbole werden ihnen das Einfühlen unmöglich machen: denn sie wollen nicht belehrt werden, sondern erleben.

Das gilt für die Libretti, und das gilt für die Inszenierungen. Ich will keineswegs irgendeinen bestimmten Stil als den einzig gültigen und zukunftsträchtigen hinstellen, jeder kann der

Aussage und dem Sinn des Werkes als fördernder — oder abträglicher — Vermittler zur Seite treten. Aber wenn er sich bemüht, Gedanken zu verkörpern, die nicht aus der Menschen-bezogenheit der Handlung und des Geschehens zu erklären sind, wird er seine Aufgabe verfehlen: denn diese heißt Dienen, dem Menschen dienen. Wenn dies am besten durch den Grottenbahnstil geschieht, dann in Gottes Namen.

Auch mit der Musik ist es so: Jeder Stil kann der rechte sein, wenn seine Abstraktion nicht so weit geht, daß sie die Verständlichkeit gefährdet. Es mag sein, daß für ein breites Publikum diese Grenze noch sehr tief liegt. Daß sie für ein Genie zu tief gesetzt ist, glaube ich aber nicht. Denn ich glaube an das Genie.

Und ich glaube an das Publikum. Freilich muß man auch ihm Gerechtigkeit .widerfahren lassen. Diejenigen, die so gerne das Menschliche auf der Bühne ausschalten, sähen nur gar zu gerne die Parkettreihen von Gedankenmaschinen bevölkert, die die geheimsten Hintergründe eines Werkes — seien sie selbst so geheim, daß sie nicht einmal den Autoren zu Bewußtsein kamen — im Handumdrehen erfassen. Dies wird nie der Fall sein. Aber wir können sicher sein, daß unser „Alltags“-Publikum „versteht“ — um jenes Wort zu verwenden, das leider zur Bezeichnung des intuitiven Erfassens zu dienen pflegt —, daß es reagiert, wenn es angesprochen wird. Und ich bin überzeugt: wenn einmal wieder das Menschliche im Zuschauer berücksichtigt wird, dann wird auch wieder das Genie eines Librettisten erwachen, ein musikalisches Genie wird das Buch komponieren, geniale Helfer am Werk werden ihm das Leben verleihen — und das Publikum wird „seine“ Oper haben. Darin sehe ich die Chance der modernen Oper. Die einzige.

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