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Die Etappen der zeitgenössischen Musik

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Daß neues Kunstschaffen, besonders neue Musik, nicht ohne weiteres aufgenommen und verstanden wird, daß sie dem Nichtverstehen in allen Schattierungen von gutwilliger Ratlosigkeit bis zu leidenschaftlicher Anfeindung ausgesetzt ist, das ist eine altgewohnte Erscheinung, für die sich in der Musikgeschichte zahllose Belege finden. Wenn sich solche Umstände jedoch in neuerer Zeit, zum aber in der Gegenwart, immer nachdrücklicher, offensichtlicher und gehäufter bekunden, so hat das zunächst seinen Grund in der soziologischen Umwandlung des Musiklebens, durch welche die Diskussion auf eine viel breitere Basis gestellt wird als früher, zum ändern aber und vor allem in der Artung des historischen Moments, in dem sich unsere Tonkunst im großen Zug ihrer Entwicklung zur Zeit befindet. Denn tatsächlich handelt es sich heute nicht nur um einen Wechsel der Generationen mit seinen üblichen Gegensätzlichkeiten, um eine Ablösung von jung und, alt, oder auch um die Auswertung des Vorhergegangenen in überraschenden Konsequenzen, sondern wir erleben einen tiefergreifenden grundsätzlicheren Wandel, der in gesteigertem Maß verwirrend wirken muß, gleichwohl aber historisch bedingt ist und als unabänderliche Tatsache hinzunehmen ist.

Was also derzeit in unserer Tonkunst vor sich geht, das ist nichts Geringeres als die Ablösung einer großen, drei Jahrhunderte umspannenden Epoche, die so ziemlich alles umfaßt, was uns als lebendiges Musikgut gilt, durch eine neue Epoche. Die Folge von Dreijahrhundertperioden ist in der Entwicklung der abendländischen Musik durch die historische Forschung erwiesen, ebenso ihre im wellenförmigen Verlauf wechselnde Tendenz zwischen polyphoner und homophoner Grundhaltung, zwischen vorherrschendem Raum- oder Zeitempfinden, zwischen Objektivismus und Subjektivismus, Verstandes- und Gemütsbetonung. Die Epoche nun, deren letzte Ausläufer noch in unsere Gegenwart hereinragen, begann etwa mit dem Jahr 1600, das heißt mit dem beherrschenden Hervortreten der Monodie, deren sichtbarstes Ereignis die Entstehung der Oper ist, und mit der daraus sich ergebenden Entwicklung unseres tonalen, diatonischen Harmönie- systems. Die aufsteigende neue Epoche wird wieder wesentlich polyphon sein, wie jene bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gewesen war. Sie wird sich aber auch eines neuen Tonsystems bedienen, und auch damit ergibt sich eine Parallele zu der Zeit vor dreihundert Jahren. Denn wie damals an die Stelle der kirchentonartlichen Modi das diatonische Dur-Moll-Sy stem trat, so räumt dieses nun einem zwölftonigen chromatischen System das Feld. Das bedeutet keineswegs „Atonalität", sondern Wandlung des Tonalitätsbegriffs. Wem aber viel leicht die Einführung der chromatischen Skala als Grundlage des ganzen Systems als eine Uniformierung und Verarmung erscheinen mag, der möge bedenken, daß der gleiche Einwand gegenüber dem diatonischen System im Vergleich mit der Vielfalt der Kirchentonarten hätte geltend gemacht werden können, sind doch unsere gewohnten Tonarten lediglich Transpositionen eines einzigen Modells. Und welch einen harmonischen Reichtum umschlossen doch die letzten drei Jahrhunderte! Das neue System, der neue Tonalitätsbegriff, wird uns neue Möglichkeiten und Reich- tümer erschließen, was wiederum keineswegs bedeutet, daß wir etwas von den bisherigen preiszugeben brauchten oder sollten. Man wird sich aber mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß die Geschichte unserer Musik in gewissem Sinn eine Geschichte des Dissonanzbegriffs ist und daß wie bisher, so auch jetzt Zusammenklänge, die als Dissonanzen aufgefaßt wurden, zu Konsonanzen werden.

Von den entscheidenden Entwicklungen im Sinne dieser Ablösung und Wandlung gibt uns das Schaffen der lebenden älteren und jüngeren Komponisten Zeugnis. Die Ereignisse und Erscheinungen drängen sich in dichter Reihenfolge, überkreuzen sich in verwirrender Fülle, gleichwohl aber läßt sich eine ganz klare Linie und Ordnung erkennen. Da ist zunächst die Generation der in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhund-.rts Geborenen: Debussy und Busoni, Hugo Wolf und Mahler, Richard Strauß, Hans Pfitzner, Max Reger und ihre Altersgenossen. Jeder wohl eine scharf umrissenę Persönlichkeit und eine Welt für sich, doch aber den anderen durch ein gemeinsames Gesetz verbunden. Sie weiten die überkommene Tonalität, deren Krise man bereits in Wagners „Tristan“ erkannt hat, bis zu den letzten Möglichkeiten und bis zu den äußersten Grenzen' aus. Praktisch ist mit ihnen das chromatische System erreicht, wenngleich ihre Klangbildungen mit Hilfe von Kunstgriffen noch diatonisch erklärbar sind. Debussys „Pelleas und Mčlisande", Straußens „Salome“, Regers Orgelphantasien, Pfitzners „Palestrina" sind Marksteine. Wenn sich dann gerade bei diesen Meistern weiterhin eine Abklärung und Vereinfachung der Harmonik, verbunden mit Straffung der Form, bemerkbar macht, bei jedem in seiner besonderen Weise, aber übereinstimmend in der grundsätzlichen Haltung, so bedeutet das keineswegs etwa eine resignierende Umkehr, sondern ein allgemeingültiges Symptom, Ausblick auf eine neue Klassizität.

Die folgende Generation, im allgemeinen Angehörige der achtziger Jahre, vollzieht den revolutionären Durchbruch. Hieher gehören in erster Linie Strawinsky, Bartok, Casella, Szyma-iowsky, aber auch schon Arnold Schönberg, der Systematiker der

Zwölftonmusik. Sie fangen alle noch in der Wagner-Nachfolge und in der Nähe der vorher genannten Spätromantiker an, machen aber dann eine radikale Wendung, stecken ihrem Alter entsprechend ihre Ziele weiter, verfolgen sie in ausgeprägterer Entschiedenheit, die die evolutionäre Entwicklung zeirweise zu gefährden scheint. Aber auch von ihnen gilt Regers Wort: „Was wollen wir entsetzlichen Modernen denn anders, als auf unsere Weise regenerieren.“ Und auch für sie ist die Hinwendung zu einer Klassizität in entschiedener Abwendung von den Verfallserscheinungen der Romantik symptomatisch. Das neue Tonsystem aber, die neue Tonalität, ist bei ihnen nicht mehr letzte Konsequenz der alten, sondern eine selbständig gewordene Tatsache, die ihrerseits ihre Konsequenzen erheischt.

Damit ist die Ausgangsstellung für die Jüngeren gegeben, die Vertreter der sogenannten „neuen Musik“, also die Geburtsjahrgänge der neunziger Jahre und der Jahrhundertwende, die Gruppe der „Six“, aus der Milhaud und Honegger sich herausheben, Prokofieff, Hindemith, Krenek, aber auch noch Schostakcwitsch, Carl Orff, Werner Egk und manche andere. Sie haben sich vielfach im Sturm und Drang der Jugend seinerzeit einem Radikalismus hingegeben, der, wie Krenek einmal sagte, „im Grunde sehr leicht war", sie haben in übermütigem Auftrumpfen das „Spater le bourgeois“ wohl auch bewußt etwas zu weit getrieben und haben damit sich und ihrer Aufgabe manchmal mehr geschadet, als nötig war. Denn diese Aufgabe ist keine andere, als daß gerade diese Generation Träger einer Entwicklung zu sein hat, die von den Vorgängern ins Rollen gebracht wurde und die nun ihren Eigenwert, ihre Zukunftsträchtigkeit, aber auch ihre Verbundenheit mit der großen Tradition unvergänglicher Kunst zu erweisen hat. Wir können heute schon sagen, daß dieser Nachweis überzeugend geführt worden ist. Die jungen Wildfänge von damals sind inzwischen selbst zu Meistern, ihrer Sendung bewußt und ihrer Aufgabe gerecht geworden. Sah mancher Überängstliche durch iene jugendlichen Ausbrüche das Ethos der Kunst überhaupt gefährdet, so finden wir es heute in Wort und Tat bestätigt und betont. Man denke an die beispielhaften Entwicklungen Hindemiths und Kreneks und nebst ihren Werken an den Geist ihrer theoretischen und ästhetischen Auslassungen.

Die heute Jungen folgen in etwas langsamerer Gangart. Das ist natürlich, denn nun muß nach dem ersten Sturmlauf das neu eroberte Gebiet erst wirklich gewonnen werden. Ebenso natürlich ist, daß die breite Öffentlichkeit noch langsamer folgt, sich erst allmählich mit dem Neuen, dem sie gegenübersteht, vertraut machen kann. Wesentlich aber ist, daß sie überhaupt und in zunehmendem Maße den guten Willen dazu aufbringt, daß sie Scheu und Mißtrauen, abor auch Bequemlichkeit und geistige Trägheit überwindet, um teilzunehmen an einer Entwicklung, die dieser Teilnahme bedarf. Und darin liegt auch eine Aufgabe und eine Verpflichtung. Kunst ist ja nicht dadurch allein existent, daß sie geschaffen wird, sondern erst dadurch, daß das Geschaffene ein Echo findet, gehört und aufgenom/nen wird.

Wer heute schafft, auf billiges Epigonentum verzichtend, aber auch den Lärm der Sensationen verachtend, wer also wirklich der Entwicklung der Kunst dient, der arbeitet an einer schweren and im Grunde, wenigstens äußerlich, undankbaren.Aufgabe, mit der Aussicht, vor der Geschichte einmal nicht mehr zu sein als ein Wegbereiter und

Vorläufer der Großen, die die Epochen krönen. Ihm sollte die lebendige Teilnahme und Verbundenheit der Zeitgenossen nicht fehlen, die nur durch solche Teilnahme sich würdig erweisen der Segnungen, die sie von der Kunst der Vergangenheit empfangen.

bildern gesteigert, wobei die Möglichkeiten des Klaviers manchmal fast überschritten werden. Die junge Pianistin Erna Heiller hat sich an diesen Kompositionen, die den Ausführenden nicht nur vor dankbare, sondern auch v6r neuartige und lohnende Aufgaben stellen, glänzend bewährt.

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