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Kirchenmusik — heute

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Anton Bruckner hat seine zweite Symphonie mit vielen Generalpausen ausgestattet, und die Musiker hatten bald das Epitheton „Pausensymphonie“ zur Hand, ohne zu wissen, daß es bei diesen Pausen um eine dynamische Sammlung für die explosive Entladung folgender musikalischer Ideen ging. Befindet sich auch die Kirche und die Kirchenmusik in einer solchen Phase schöpferischer Umgestaltung, um den auf sie zukommenden Anstoß des neuen Jahrtausends wagen und kontrapunktisch durchführen zu können?

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Anton Bruckner hat seine zweite Symphonie mit vielen Generalpausen ausgestattet, und die Musiker hatten bald das Epitheton „Pausensymphonie“ zur Hand, ohne zu wissen, daß es bei diesen Pausen um eine dynamische Sammlung für die explosive Entladung folgender musikalischer Ideen ging. Befindet sich auch die Kirche und die Kirchenmusik in einer solchen Phase schöpferischer Umgestaltung, um den auf sie zukommenden Anstoß des neuen Jahrtausends wagen und kontrapunktisch durchführen zu können?

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Nach der fast völligen Erforschung des menschlichen „Innenrauimes“ durch die Psychoanalyse und die ihr verwandten Wissenschaften müßte die Sinnfrage nach dem Eigentlichen des Menschen mit aller Vehemenz gestellt werden und sich nach den Richtlinien der Metaphysik neu orientieren. Die Hilfsdienste der Kirche würden, wie schon oft vorher, sich erneut anbieten und nach dem Versagen der Musik des vergangenen Jahrhunderts, Religionsersatz zu sein, der Kirchenmusik einen entscheidenden Platz zuweisen. Aber noch sehen wir nur bruchstück- und umrißhaft. Das Organisatorische verdrängt allzusehr die eigentlichen Aufgaben der Kirche, dem Menschen in der Liturgie und im Kult die

jahrtausendealten Quellen fündig zu machen. Das heißt: Ehrfurcht vor dem Vergangenen ebenso wie Respekt vor dem vor uns Liegenden. Die musikalische Pause würde sich dann in eine sehr notwendige Klammer zweier aufeinanderstoßender Trennwände verwandeln und würde Orgelpunkt für Altes und Neues!

Das Gebiet kirchlicher Musik ist heute sehr ausgedehnt und vielfältig. Aus den echten soziologischen Spannungen der vergangenen Perioden kirchenmusikalischen Auftrages

wußte sich immer wieder aus dem gesellschaftlichen Bezug der Musik „von oben“, den oberen Ständen, und der Musik „von unten“, dem Volk, ein ausgleichendes Korrektiv einzustellen. Gregorianischer Choral und Canmina burana, der Mönch und die studentische Jugend der Klöster, edelstes Solistenensemble im Chorgestühl und die Bauern und Grundholden mit primitiver Melodik, halb Latein und halb Volkssprache, um einen musikalischen Ausgleich ringend ... Darum mußten ja alle künstlichen Versuche und Ansätze, den Gregorianischen Choral „ins Volk“ zu bringen, zum Scheitern verurteilt sein. In einer ähnlichen Utopie befand sich in der höfischen Musik der Renaissance der geschulte Chor als Allroundkünstler zwischen Tafel und Hofkapelle des Fürsten. Mit seinen einfachen Liedern und zaghafter Mehrstimmigkeit schauten die Bauern und Bürger zu den blitzenden Sternen am Musikhimmel der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit. Die Archive unserer Dorfkirchen waren noch bis in unsere Zeit angefüllt von den schlichten Landmessen der Komponisten, die es den großen Meistern des Barock gleichtun wollten. Der Vollzug des Ausgleichs „von oben“ zum Volke war dann die Stunde des Genius.

Heute geht der Vorstoß „von unten“ so intensiv vor sich, weil „das oben“ nicht mehr oder noch nicht existiert Daher der Sog der sogenannten „rhythmischen Messe“ und des Jazz. Erst bis sich die neuen „oberen Stände“ musikalisch konso-

lidiert haben, wird es wieder eine Ausfächerung in der Kirchenmusik geben. Oder ist es schon so weit, daß sich die Auflösung des Volkhaften vollzogen hat und es ohne Basis auch kein Gegenüber gibt? Die Zeit des Drei- und Viervierteltaktes scheint auch für Europa vorbei zu sein, denn die Welt ist klein geworden. Mit der kleinen Welt ist auch der Rhythmus in Fluß geraten und könnte so den Wegbereiter für eine Weltzivilisation abgeben, auf dessen Humus sich die ersten Spuren einer nachfolgenden Weltkultur abzeichnen.

Wir stehen noch voller Mißtrauen in diesem gewaltigen Amalgamie-rungsprozeß. Aber die Musikgeschichte mag uns heilsame Lehren geben, mit wieviel Geduld wir im kirchlichen Raum uns noch zu wappnen haben. Auch die hellerleuchtete „strada des sol“ der Wiener Klassik führt über unbekannte Zubringer. Wer kennt sie noch oder wagt gar ein Werk der Unbekannten aufzuführen? P. Carolomannus Pach-schmidt (1700 bis 1734) war einer der vielen. Die Annalen des Schottenstiftes in Wien nennen ihn einen „egregius Organista; non minus praestans Compositor musices“. Er kommt vom musikgesättigten Eisenstadt und eröffnet, auf J. J. Fux und A. .ldara folgend, die musikalische Landschaft, als deren Gipfel sich Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert abheben. — Franz X.Brixi (L.732 bis 1771) könnte als böhmisches Pendant zum Schottenorganisten Pachschmidt gelten. Schon sein Vater, Simon Brixi (1693 bis 1735), war nur einer aus einer weitverzweigten Musikantenfamilie, half den böhmischen Barock vorbereiten und glich

durch 105 Messekompositionen an Quantität aus, was da und dort an Qualität fehlte.

Wir werden von der Zeit um Nachsicht und Geduld gebeten. Wie aber sollen wir die kirchenmusikalisch divergierenden Strömungen unserer Zeit bewältigen, wenn die Räume ihrer Darbietung uns so wenig zum Singen und Musizieren anregen? Denn mit den uns zugedachten mo-

demen Kirchen, als Mehrzweckhallen uns bestens empfohlen, nicht mehr Gotteshaus im ursprünglichen Sinn, könnte dann auch die Funktion des kirchlichen Gesanges „rnehr-zweckhaft“ werden und so in das Di-

lemma des Priesters, Kultdiener oder Sozialfunktionär zu sein, hineingezogen werden. — Für den gläubigen Komponisten kann die Kirche kein Feld für stilistische Experimente sein! Die Grenzen von Religion zum Nur humanen waren immer fließend: Im Vordergrund stand aber die Ehrfurcht! Ihr Fehlen läßt uns heute nur allzu leicht den nötigen Takt vermissen.

Die letzten musikalischen Aussagen vollziehen sich im Lied und der symbolischen (wort- und kommentarlosen) Musik. Mit welcher Sorglosigkeit meint mancher, für die Kirche etwas schreiben zu müssen! Ohne Selbstdisziplin und religiöse Haltung wird nur Banales daraus. Und wie tief sitzen in uns die Modelle des Gesamtkunstwerkes der barok-ken Welt. Wahllos reihen sich die Versatzstücke verschiedenster Stilepochen in unseren Kirchen aneinander. Ein eigenartiges „mixtum compositum“, das nach Messegestaltung aussieht, aber von Messekultur wenig erfüllt ist. War es Hochmut oder Zweckmäßigkeit, daß wir so leicht uns mit der lateinischen Sprache auch des Inhalts begaben? Und nimmt das Wort erst dann Fleisch an, wenn wir es mit den Lippen beten oder ihm in den Tiefen unseres Herzens Leben geben, um es Mittler zwischen Gott und uns werden zu lassen? Die Ersatzhandlungen des vorigen Jahrhunderts, Musik in die Gleichung Religion einzubeziehen, haben für die Phänomene der Liberalisierung kirchlicher Musik besten Vorschub geleistet. Der gemeinsame Urgrund war arg verwischt. Nun, da das Humanuni auch in der Kirche voll zum Zuge kommt, stehen auch von dieser Seite für die Kirchenmusik die Tore weit offen.

Aber es gibt in der Geschichte, wie in der Kirchengeschichte, eigenartige „Racheakte“ für eine gewaltsam unterdrückte Entwicklung durch mutwillig herbeigeführte Revolution. Unterschwellig tauchen dieselben Häresien wieder auf, die wir schon längst überwunden glaubten. Und

warum sollte es nicht ,auch so bei den ewig gültigen Werten der Kunst sein? So leben wir jetzt noch von den Rückstrahlungen der Güter, welche die Kirche durch Jahrhunderte an die Menschen großzügig verschenkt hat. Aus einer Komplexhandlung heraus sind wir im Begriffe, den Gregorianischen Choral leichtfertig vom Aktivposten der Kirchenmusik abzuschreiben und trotz der Empfehlungen des Zweiten Vatikanums abzutun, bis er uns über die Profanmusik wieder zur Kenntnis gebracht wird. In diese Phase

der kommenden Kunst werden wir ohne unser Zutun gedrängt, weil es auch bisher eine innerweltlich ausgleichende Gerechtigkeit gegeben hat.

Der zweite „Revancheakt“ läge in einem großmütigen Mäzenatentum der Kirche, das eine tragende Brücke für die Musik des Jahres 2000 sein könnte. Vielfach haben wir mit dem Aufhören der Tradition jener Männer vergessen, die im Auftrage sich dem Mäzen und dem hinter ihm stehenden größeren Herrn verpflichtet wußten. Intensiver als bisher sollte von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, mit ganz konkreten Kompositionsaufträgen ins Spiel zu kommen, was natürlich auch bei den diversen „rhythmischen Gesängen“ und Jugendmessen zu beachten wäre. Musikalische Qualität und wertvolleres Singgut wären bei den jungen Komponisten auf dem Wege der Ausschreibung und entsprechenden Dotierung vermutlich zu haben._Eine Wiener Pfarre (der Entdecker der Zwölftonmusik Josef Matthias Hauer war in ihr durch 40 Jahre beheimatet) erachtete es als ihre Ehrenpflicht, dessen unvollendete „Lateinische Messe“ vollenden zu lassen und zur Aufführung zu bringen. Das 75-Jahr-Jubiläum der Kirche brachte an einen jungen Komponisten der Pfarre, Dieter Gaisbauer, den Auftrag für ein Requiem und Georg Aranyi-Aschner den für eine Festmesse. Was auf pfarrlicher Ebene möglich ist, sollte für die Diözese nicht der letzte und geringste Posten ihres Haushaltsplanes sein. So könnte der Weg von der „Wiener Klassik“ zu einem „Wiener Frühling“ führen.

Das Konzil sagt: „Nicht zu billigen ist der Brauch, den ganzen Gesang einem Sängerchor zuzuweisen und das Volk von der Teilnahme am Gesang auszuschließen“ Musikinstruktion 16 c. Der Anachronismen ergeben sich hier mehrere. Meint die Instruktion ein gemeinsames Zusammengehen von ' Volk und Chor in .einer Opferfeier oder parallele Ebenen in zwei verschiedenen Kultakten mit dem Volk und dem Kirchenchor

allein? Die Entwicklung, vor allem in den Städten, kann aus der bisherigen Erfahrung nur schwer rückgängig gemacht werden, da es das Kir-chenvolk zwar gibt, das sich aber mehr und mehr als Publikum etabliert. Durch die Kosumimusik ist es nur mehr sehr schwer zur aktiven Teilnahme zu bewegen. Vom un-rhythmisierten Psalmodieren sich eine Neubelebung des Gesanges zu erwarten, wo doch schon zu den Zeiten der Reformation sich dieser Weg als ungangbar erwies und zum Psalmlied führte, wird mit neuerlicher Enttäuschung honordert werden. Daß das „neugeschaffene“ Einheitsgesangsbuch mehr Freude am Singen bringen wird, wäre zu wünschen. Aber doch nicht um den Preis der Uniformität! Denn so schwerwiegend waren die Unterschiede der Text-und Melodievarianten unserer Kirchenlieder nicht. Vielleicht lösten sie nur beim ersten Hinhören Verwunderung aus, der sich bald Bewunderung des Formenreichtums unseres Liedgutes anschloß.

Die Einbeziehung des Volkes in den musikalischen Ablauf, Hand in Hand mit der Einführung der volkssprachlichen Liturgie, ist zu begrü-ßen.Trotzdem muß Platz bleiben für die Darbietung musikalischer Kunstwerke der Vergangenheit und Gegenwart (auch solcher in lateinischer Sprache), die nur von qualifizierten Kräften aufgeführt werden können. Die Anonymität des Chorsängers ist nicht mehr sehr gefragt. Während in ländlichen Gegenden die Musikkapellen aus dem Boden schießen, wird die Existenz der Chöre immer uneffektiver. Der Instrumentalist fühlt sich als Solist, der Chorist als Mitglied. Von daher gesehen müßten die Chöre kleiner, aber jeweils in der Lage sein, auch anspruchsvolle Chorwerke zu realisieren, und zwar nicht als pfarrfremder Klangkörper, sondern eben „als ein mit einer besonderen Aufgabe betrauter Teil der versammelten Gemeinde der Gläubigen“ (Musikinstruktion 23 a). Freilich wird da mit ausschließlich „Ehrenamtlichen“ nicht viel zu holen sein. Wieder die leidige Geldfrage, wo der Kirche auf dem Organisa-tions-, Seelsorge- und Sozialgebiet so viele Aufgaben zugewachsen sind! Aber ist die Kirchenmusik bisher nicht ein integrierender Teil des Kultes gewesen und sollte nicht der Kult der katholischen Kirche vom Zentrum religiösen Fühlens erschlossen werden, wo sich das Wort und der Intellekt den Hauptteil zugesichert haben?

Das Pascalsche „Dieu sensible au coeur“ wird sich als Schrittmacher echter und großer Werke der Kirchenmusik herausstellen. Denn schon immer galt die Gesangstimme als der unmittelbarste Ausdruck der Seele und zu allen „Hoch-zeiten“ als Grundlage des inneren Gottesdienstes menschlicher Kreatur, im Gesang das Gebet zu verdoppeln! Wenn heute kein Theater, kein Konzert, keine Schule, kein Museum sich selbst finanzieren kann, wie sollte denn dann die „musica egregia“ oder festliches Singen dn der Kirche ohne „Subvention“ (zu Hilfe kommen mit Geld!) gedeihen?

Wie sehr aber dürstet der Mensch in der Mühsal des Alltags darnach, sich in einem Fest-Gottesdienst mit den Cherubsflügeln gottmenschlicher Kunst erheben zu lassen! Wir brauchen daher nicht um die Kirchenmusik zu bangen, da ihr Gott eine einmalige Aufgabe für die Zukunft gläubiger Menschen zuweisen will.

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