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Kirchenmusik zwischen Beat und Tradition

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„Das kirchenmusikalische Leben bedarf nicht nur einer Reform, sondern eines völligen Gestaltwandels. Ich würde für jede Gemeinde wünschen, sie möchte einmal für einige Zeit auf die Leistungen des Kirchenchores und sogar der Organisten verzichten. Es würde dann offenbar werden, welche liturgische Leere und Hilflosigkeit, welcher Tiefstand des Singens und Sprechens von der gewohnten Kirchenmusik verdeckt wird. Wie dürftig, öde und mechanisiert, aller Frömmigkeit bar, der alltägliche Gemeindegesang ist, wie erlebnisfern Text und Weise den Singenden sind. Es würde dann auch unübersehbar bleiben, wie wenig die gebotene Musik noch mit der Gemeinde zu tun hat, wie wenig sie hilft, Gemeinde aufzubauen und wie wenig Lebenskraft sie tatsächlich von der Gemeinde zurückempfängt“: Eine Bemerkung aus jüngsten Diskussionen über Jazz in der Kirchri oder über die Rechtfertigung „Rhythmischer Messen“? Keineswegs. Geschrieben wurden diese Zeilen 1935 von Felix Messerschmidt in der Festschrift zu Guardinis

50. Geburtstag. Nun, die Bestrebungen zu einer Umgestaltung und Erneuerung der religiösen Musik und besonders der Kirchenmusik sind gar nicht so neu, wie die meisten vermuten. Die Aufforderung des Psalmisten: „Singt dem Herrn ein neues Lied“, hat durch alle Jahrhunderte gegolten, besonders bedeutend und dringlich wurde sie aber erst während deę letzten zwanzig Jahre. Nicht ohne Grund sprechen Fachleute von einem „Notstand“ der Kirchenmusik. Die alten tradierten Lieder sind vielfach abgesungen, die Texte antiquiert und der jetzigen Glaubenssituatiön fremd. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß in sehr vielen, besonders in katholischen Kirchen der Meßgesang zu einem faden, begeisteturigslosen und leiernden Absingen altertümelnder Weisen geworden ist. Schema und Gewohnheit, ein mechanisches Geriesel, ersticken Lob, Freude, Begeisterung und lebendigen Glauben im Keim. Das wohl charakterischeste Beispiel ist der Kirchenschlager „O stille mein Verlangen, du Seeleribräutigam“. '

Die Spiritualität, die Ausdrucksform des Glaubens, hat sich besonders stark in diesem Jahrhundert verändert. Die Zeitsituation in all ihrer Differenziertheit nimmt nicht nur wesentlich Einfluß auf das Alltagsleben des Menschen, sondern auch auf sein religiöses Leben. Schlagworte wie „Technisierung, Anonymität, Kontaktstille, Establishment“ usw. werden auch in der Kirche Wirklichkeit. Dazu kommt noch ein Faktum: Sehr vieles wird gerade durch die wissenschaftliche Forschung erklärbar, die Distanzen zwischen Ahnung und Wissen, zwischen Möglichem und bisher scheinbar Unmöglichem, werden verkürzt, sehr vieles wird,„deutbar und ihtėrpfę'bierbar. ' Dinge, die than früher in die Tabelle oder in den Index der Geheimnisse eingereiht hatte oder einfach unter die Wunder Gottes, sind heute seziert, klarer zumindest, liegen offen und stehen unter dem Primat der Logik. Das Mysterium tritt hinter das Wissen zurück. Damit setzt selbstverständlich — deutlich und offen — Kritik ein, gleichzeitig positiv und negativ, und Zweifel vor allem an den bisher erfahrenen oder eingedrillten Werten der Tradition. Die beginnende zweite Hälfte dieses Jahrhunderts ist nicht nur eine Welt des Fortschritts, als die man sie, gerne stolz hinstellt, sondern auch eine Welt der Sezession, der Renaissance aus einer neuen „Aufklärung“ heraus. Die negativen Auswirkungen dieses Zweifels sind schon jetzt deutlich sichtbar: schwindende Zahl der Kirchenbesucher, von den überzeugt Glaubenden gar nicht zu reden, Priestermangel, Mangel an Interesse am religiösen Leben, eine mechanische Pflichterfüllung, die oft nur noch durch die Gewohnheit oder durch gesellschaftliche, soziale oder geschäftliche Rücksichtnahme weitergetragen wird, Scheinchristentum

Es ist nur zu klar, daß diesen Gefahren der Entpersönlichung, der Vermassung mit all ihren Formen und Konsequenzen durch die Kirche ein wirksames Gegengewicht gegenübergestellt werden muß, ein Gegengewicht, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger und Androhung der Verdammnis, ein Gegengewicht nicht in Floskeln und frömmelnden Phrasen, sondern ein offenes, ehrliches Bewußtsein und Eingehen auf die Probleme des Christen dieser Zeit.

Den Glauben in die Musik transponieren

Diese Forderung gilt besonders auch für die neue Kirchenmusik. Moderne religiöse Musik im allgemeinsten Sinn ist letztlich nichts anderes als eine Transponierung des Glaubens in die Formgesetze der Musik, also Selbstverwirklichung im lebendigen Glauben durch die Musik. Daß diese Verwirklichung für die meisten nicht mehr im alten Stil, in alten Formulierungen geschehen kann, liegt auf

der Hand, daß sie dringendst notwendig ist, beweisen die vielen positiven Reaktionen auf Versuche mit „Rhythmischen Messen“, sogenannten „Jazzmessen“, „Beatmessen“ usw. Die Forderung nach zeitnahen Kirchenliedern wird vor allem von der Jugend gestellt. Sie will Mitbestimmung auch im religiösen Leben. Sicher sind es verhältnismäßig wenige junge Menschen, die sich für Kirchenmusik interessieren, und noch weniger, die musizieren, aber gerade deshalb ist dieser Aufbruch der „kleinen Minderheit“ um so ernster zu nehmen und trotz aller Anzeichen eines Frühstadiums ein Weg zu immer neuen Anfängen. Mit den ersten rhythmischen Messen ist der Grundakkord erklungen zu einer gewiß fruchtbringenden Erneuerung der rhythmischen Kirchenmusik. Es ist ein entscheidender Schritt getan worden, nicht zuletzt auch durch den Einsatz verantwortungsvoller und aufgeschlossener Geistlicher, die eingesehen haben, daß dieser neue Rhythmus als Ausdruck des gewandelten religiösen Bewußtseins Pflege und Platz braucht, um sich entfalten zu können. Hauptzentren dieser neuen Entwicklung innerhalb der rhythmischen religiösen Musik sind neben den USA und England vor allem Deutschiland, Österreich, Frankreich-, die Tschechoslowakei, Polen und mit gewissen Einschränkungen auch Italien. Gerade in diesen Ländern ist das Verhältnis zur äußeren Verwirklichung des Glaubens mehr als in anderen Staaten einer Wandlung unterworfen. Aus verschiedensten mentalen Gründen ist hier das Christentum stärker der Interpretation und der Konfrontation ausgesetzt als in anderen christlichen Staaten. Auch sind es vor allem die katholische und die evangelischen Kirchen, die am tiefsten in diesen Umschichtungsprozeß eingreifen.

Zwei wichtige Formen der neuen rhythmischen Kirchenmusik haben sich während der letzten zehn Jahre besonders durchgesetzt, die „Jazzmesse“, die sich freilich in unserem Kulturbereich nicht zu jenen Höhepunkten entwickelt hat, die in dieser neuen Gattung verborgen liegen, und die „Rhythmischen Messen“ mit ihren verschiedensten Spielformen (Beatmessen, Rock-'n'-Roll-Messen, Soulmessen).

Charakteristisch für das Frühstadium dieser beiden rhythmischen Meßfarmen ist die deutliche Abhängigkeit von den amerikanischen Vorbildern. Oft sind sie nichts weiter als eine Verflachung der Gospel-Songs und Spirituals. Andere Rythmen wie Beat und Rock'n'Roll erwiesen sich oft zu hart oder zu wenig beugungsfähig, um auch die Tiefe des Meßopfers ausdrücken zu können. Das Entscheidende aber ist trotz aller Unvollkommenheit, daß eine neue Gemeinschaft, vor allem unter der Jugend, gebildet wird, die nun auch die Möglichkeiten wahmimmt, mit

ihren Mitteln und nach ihrem ureigenen, unkonventionellen Empfinden die Messe mitzufeiern.

Ermüdet der Kirchenbeat?

Freilich auch die Kehrseite der Medaille muß erwähnt werden, Viele Priester, Kirchenmusiker, Komponisten aller Sparten, Chorleiter und viele Gläubige klagen einerseits darüber, daß die „schöne, gute, alte“, serielle Kirchenmusik durch die Rhythmischen Messen verdrängt werde, anderseits Sind sich auch viele jener, die sich begeistert für das neue religiöse Lied in der Kirche eingesetzt haben, bewußt, daß sich schon jetzt, nach einem Verhältnismäßig kurzen Anfang, Ermüdungsund Verflachungserscheinungeh innerhalb dieser Gattung zeigen. Ja,

junge Leute, die vor wenigen Jahren noch „ihre Kirchenmusik“ mit Begeisterung sangen, finden sie heute abgebraucht, veraltet, und wie manche behaupten, „fad“. Der Grund zu dieser Krise liegt in dem teils qualitativ mangelhaften Aufbruch, der die Begeisterung für die „revolutionäre“ Idee über die bestmögliche Ausschöpfung der Möglichkeiten und Mittel stellte. Der Einfluß der amerikanischen beziehungsweise der amerikanisierten Musik, hauptsächlich der Unterhaltungsmusik, die oft kritiklos übernommen und „eingedeutscht“ wurde, zeigt nun negative Nebenwirkungen. Der Rhythmus der Spirituals und Gospels, das Wesen dieser tiefreligiösen Lieder der Neger Amerikas erweisen sich oft als wesensfremd. Der Mangel des Nachschöpferischen wird allmählich spürbar.

Die Gemeinde musikalisch aktivieren Doch all das sind Detailprobleme. Hauptaufgabe sollte sein, durch diese Lieder die Gemeinde anzusprechen, zu begeistern und dahin zu führen,

daß sie aktiver am Meßgeschehen teilnimmt, vor allem im Gesang. Es gilt, die Gleichgültigkeit, die Lauheit, die unbeteiligte und abtötende Mechanik des Absingens der allzu gewohnten Kirchenlieder zu beseitigen. Es gilt eine Tradition umzuschichten oder abzubauen, die in Gefahr ist, sich selbst zu tradieren, es gilt vor allem, zu sichten und jenen Ballast wegzuräumen, der nichts anderes mehr ist als ein Relikt, das nur mehr aus der Geschichte verstanden werden kann. Lieder dieser Gattung schaffen nämlich einen romantisch verklärten und vernebelten Mythos, der die Aktualität des Christentums, die gerade jetzt immer dririgjicher gefordert, wird, zu einer Kitschikiste macht; Gott'Wird ' leider fn ' vielen Liedern zu einer Bilderbuch- und

Volksschulkatechismusfigur degradiert. Dies gilt für viele alte Kirchenlieder, dies gilt aber genauso für neue religiöse Songs. Hier müßte nach Wesen und Funktion ausgesiebt werden.

Gerade jetzt, da die Freude am Singen zurückgegangen ist, weil ein

Großteil der Musik zum Geschäft,

zur Konsumware wurde, gerade jetzt, da die Distanz zwischen Interpret und Hörer größer ist als früher,

gerade jetzt müßten Lieder geschaffen werden, die eine neue Aktivität und echte, ursprüngliche Begeisterung schaffen. Nur aus solchen und ähnlichen Erwägungen kann ein neues religiöses Liedgut entstehen, das die Tradition der bisherigen Kirchenmusik als echt erhält, sie gleichzeitig weiterträgt und aus dieser Tradition die breite Ebene für ein eigenes und beständiges neues Glaubenslied vorbereitet.

Es gilt nicht — trotz der Dringlichkeit —, neue Lieder aus dem Boden zu stampfen, zu entlehnen oder umzuarbeiten, sondern aus den eigenen Möglichkeiten, aus der Kraft und der Vielfalt, die eine jahrhundertealte Tradition trägt, weiterzuschaffen. Dies bedeutet, daß die Verantwortlichen mehr denn je und kritischer denn je auswählen sollten, daß das Hauptaugenmerk auf die Qualität gelegt werden muß, um die nach allen Kriterien beste Verwirklichungsform zu suchen, daß man sich nicht selbstzufrieden mit einer bisher nicht dagewesenen Form oder Aussage begnügt, sondern daß in jedem neuen Kirchenlied Aussage und musikalische Form eine bruchlose Einheit bilden sollten.

Voraussetzung dazu ist freilich, daß man umzudenken beginnt, daß bisher geübte Begriffe der Religiosität auf ein Christentum der Zukunft hin ausgerichtet werden. Seit dem II. Vatikanischen Konzil sind die Wege dazu breiter als jemals zuvor. Dies bedeutet aber nicht, daß die neue Kirchenmusik Hand in Hand gehen müßte mit dem Wandel der Spiritualität, sondern daß sie den Weg in ein ständig aktuelles, weil konzentriertes und aus dem Wesentlichen wachsendes Christentum hin- einwagt, in eine musikalische ..Verkündigung, die neben dem Lob- und Preisgesang, endlich wieder, den Menschen als Glaubenden in den Vordergrund stellt. Damit könnte im neuen religiösen Lied und auch im Kirchenlied eine Kunstform geschaffen werden, die den einzelnen Christen aktiviert, weil sie ihn eben in seiner Grundbefindlichkeit anspricht und weil sie ihm endlich das Bewußtsein geben könnte, Mitträger einer Heilsbotschaft zu sein. Man müßte in Text und Melodie zur Klarheit und Einfachheit vorzustoßen versuchen, man müßte Wort und Musik von der bisherigen Schablone rhythmischer religiöser Schlager lösen. Texte wie: „Frohen Mut, Gott ist gut. Er geht mit auf Schritt und Tritt, tralala, lala Sein Geleit gibt mir heut Sonnenschein in Freud und Leid, tralala, trala “, erinnern eher an ein Feuersteinchristentum als an eines, das in der Zeit der Quantenmechanik und des versteckten wie offenen Materialismus und Kapitalismus seine Kraft neu beweisen muß. Im Hinblick darauf und auf vieles, was im Kreis dieser Entwicklung liegt, müßten die althergebrachten und vergoldeten Vorstellungen vor allem vom Begriff „Würde“ verändert und dabei neu entdeckt werden. Ob ein Schlagzeug dann der Kirche „würdig“ ist, ist wohl eine sehr kleinliche Frage: Wesentlich ist nur, mit welchem Bewußtsein und in welcher Glaubenshaltung man auf diesem Schlagwerk musiziert. Der Formalismus eines belasteten Zeremoniells, das seine Funktion überdauert hat, sollte endlich dem Eigentlichen und dem Wesen der christlichen Lehre weichen und die Angst, ein paar „Schäflein“ zu verlieren durch Vertrauen ersetzt werden.

Sicher werden innerhalb der Kirchenmusik dadurch keine Wunder von heute auf morgen geschehen, allerdings werden Wege geebnet sein, deren Wegweiser ein neues, geläutertes christliches Bewußtsein ist. Sicher wird dann aus der momentanen Richtungslosigkeit, aus dem formalistisch-miisikalischen Turm zu Babel des Kirchen- wie des religiösen Liedes im breitesten Sinn, das Gerüst eines gültigen Fortschritts entstehen.

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