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DER UNVOLLENDETE CHRIST

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Die Erstarrung ist das Zeichen des Todes. Was lebendig ist, befindet sich in stetem Wachstum, auch wenn dies nicht mit Elle und merkbarem Schwellen gleich festgestellt werden kann. Es kann daher auch ein Organismus sehr lebendig sein, obwohl er Jahrzehnte hindurch keine sichtbaren Entwicklungsphasen aufweist. Aber dann kann plötzlich wie nach starrender Winterszeit ein Strom lebendiger Kräfte hervorbrechen, daß die Zeitgenossen ratlos und staunend davorstehen.

In der Kirche hat es öfter solche Entwicklungsphasen gegeben. Aus jüngster Zeit sind zwei davon bemerkenswert: Aus der bisherigen Betreuung der Missionsv'ölker ist eine echte Partnerschaft geworden. Wie keine andere Institution der Welt hat die Kirche damit ernst gemacht, die Sehnsucht nach der Einheit der Völker zu erfüllen, indem sie den chinesischen, den indischen, japanischen oder Negerbischof gleichberechtigt neben den weißen stellt. Für sie gibt es keine bevorzugten Rassen oder Völker, sie ist mit keiner Kultur unlösbar verbunden, so daß sie sich nur in deren Rahmen entwickeln könnte. Ja sie geht bei aller Wahrung der gebotenen Einheit so weit, sich mit ihren Einrichtungen in die Vorstellungswelt der verschiedenen Kulturen hineinzufühlen und von daher den Menschen dieser Zonen in der Glaubensverkündigung und in den religiösen Gepflogenheiten gerecht zu werden. Damit unterstreicht die Kirche erneut ihr Merkmal, auf das Ganze zu schauen und allen alles zu werden. Das wesentlichste Erfordernis einer künftigen globalen Einheit wird damit bereitgestellt, nämlich das echte Verständnis von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, von Rasse zu Rasse.

Einen zweiten Aufbruch lebendigen Wachstums bemerken wir auf liturgischem Gebiet. In den letzten Jahrhunderten gab es gewiß wiederholt kleine Reformen. Was aber an Neuordnungen im letzten Jahrzehnt geschah, ist mehr, als vorher in Jahrhunderten unternommen wurde, so daß manchem konservativen Beobachter die Sorge ankam, ob nicht dadurch das gläubige Volk irre werden könnte. Abendmessen wurden zugelassen, die Nüchternheitsvorschriften vor dem Empfang der hl. Kommunion neu geregelt und weitgehend der veränderten beruflichen und gesundheitlichen Lage angepaßt. Das Brevier der Priester und das Meßbuch erhielt bedeutsame Vereinfachungen, und nun wurde in diesem Jahr die Liturgie der Karwoche sinngemäß nach uralten Vorlagen erneuert, daß vermutlich einige lahre vergehen werden, bis sich das gesamte gläubige Volk dareingefunden hat Die Kirche meinte aber diesen Schritt unternehmen zu können, weil auch sonst der Zug der Zeit nach Ursprünglichkeit, nach Echtheit und Sachlichkeit, also nach gediegenen Fundamenten drängt. Wer heute das Wesentliche übergeht und sich am Beiwerk anklammert, der läuft Gefahr, eines Tages auch dieses einzubüßen oder allmählich den Anschluß an die Zeit zu verlieren.

Mögen nun da und dort Christen über diese Entwicklung beunruhigt, ja sogar verwirrt sein, so ist sie dennoch ein Zeichen der lebendigen Kraft, die seit der Auferstehung Christi in Seiner Gemeinschaft stets wirksam war und bleiben wird. Ostern ist das geistige Saatkorn, das in den Mutterboden der Menschheit gelegt ist und mit seiner elementaren Wachstumskraft in vielerlei Weisen ans Licht drängt, da der Herr in Seiner Verklärung immer der Auferstandene bleibt, also immer neues Leben entfaltet.

Das ist auch auf dem weniger eingesehenen Gebiet des persönlichen religiösen Lebens nicht anders. Wenn christliche Feste niemals lediglich an eine vergangene Begebenheit oder an eine einstmalige Offenbarung erinnern wollen, sondern stets auch als Wirklichkeit mit wirkender Kraft in den christlichen Alltag hineindringen, so zieht uns kein anderes Fest so sehr in seinen Bann wie Ostern, weil Christus mit unserer Menschennatur auf et standen ist und als verklärter Christus nun dauernd unser Menschendasein beeinflußt, ja beunruhigt. Wir sind einfach Seiner Auferstehung verhaftet und werden daher nur in der Wachstumsfülle unseres Lebens Genüge finden, auch wenn wir irrigerweise nieinen sollten, diese Fülle in der Vermehrung und im Genuß irdischer Güter hinlänglich zu finden. Das heißt freilich nicht, daß die Entfaltung im einzelnen Christenleben gleich auch ein sichtbares Zeichen sei. Der Christ wäre auch von seinen Widersachern überfordert, wollten sie ihn sogleich als Vollendeten sehen. Gerade weil er im irdischen Gewände lebt, können Zeiten des Stillstandes eintreten, ganz abgesehen von den Entschlüssen eines jeden Christen, denen zufolge er die Ansätze zum inneren Wachstum entscheidend hemmen kann.

Solange wir leben, kommen wir an Grenzen, sind wir Unvollendete. Vordergründig bedeutet das für strebsame Menschen, aber auch für deren Kritiker eine Enttäuschung. In Wirklichkeit ist es eine tröstliche Ermunterung zu immer neuen Ansätzen und vor allem zur Hoffnung, daß Erstarrungen wieder lösbar sind. Die vorgefaßte Meinung ist nicht selten, daß einer sich nicht mehr ändern könne, der einmal mit bestimmten Auffassungen hervorgetreten ist oder einer eindeutig geprägten Gruppe, sei es einer nationalen oder sozialen oder politischen Richtung, angehört. Wir unterliegen auch leicht einer festgefahrenen Einschätzung von Mitmenschen, wenn sie etwa ein Vergehen begangen haben oder wenn wir in einer üblen Stunde einmal hart an sie herangeraten sind. Unser augenblickliches Urteil neigt dann dazu, in ein endgültiges umzuschlagen und diesen Menschen niemals mehr eine bessere Haltung zuzubilligen. Es vergiftet ja sogar unser öffentliches Leben dauernd, daß Fehler und Mängel der Vergangenheit hartnäckig hervorgeholt werden, um die Gegenwart damit zu belasten, obwohl unterdessen große Wandlungen vor sich gegangen sind.

Wer davon nicht loskommt, verrät seine eigene innere Verkrampfung und Erstarrung. Wenn der Christ darin verharrt, dann ist die Auferstehung Christi in ihm nicht lebendig geworden. Manche christliche Kreise zögern, den erneuernden Weisungen der Kirche zu folgen. Sie spüren nicht die geschichtliche Stunde, daß auch sie für diese Welt Sauerteig sein sollen. Es wird schon ein wenig Mut dazu gehören, bewußt ein unvollendeter Christ zu sein! Denn darin liegt unüberhörbar die dauernde Selbst-aüfforderung, höher zu streben; zugleich spornt es aber an, sich mit der Umwelt einzulassen und ihr die Begegnung mit dem christlichen Leben zu ermöglichen, weil auch sie zufolge ihrer Unvollendung dazu fähig ist. Für das eigentliche Wachstum wird Christus selber sorgen, an uns liegt es, uns dem Walten des Auferstandenen in der Kirche und im persönlichen Geschick einzufügen.

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