6878244-1978_51_01.jpg
Digital In Arbeit

Sehnsucht nach neuer Einheit

Werbung
Werbung
Werbung

Erich Fromm hat in seinem Buch vom „Sein und Haben“ den Satz niedergeschrieben: „Zum erstenmal in der Geschichte hängt das physische Überleben der Menschheit von einer radikalen Veränderung des Herzens ab.“

Der Club of Rome hat heuer im Sommer dasselbe mit anderen Worten ausgedrückt (Aurelio Peccei): „Der Mensch kann mit all seiner Wissenschaft, Macht, seinen Plänen, Strukturen und Werkzeugen sein Schicksal nicht ändern, ehe er sich nicht selbst ändert.“

Am schlichtesten hat es der Moskauer Mathematiker und Bürgerrechtskämpfer Schafarewitsch formuliert: „Was wir brauchen, ist ein Maximum an geistigen Veränderungen und ein Minimum an äußeren Veränderungen. Wir brauchen die Rückkehr zu Gott.“

1. In den Tagen, da wir der Ankunft des Menschheitseriöseres auf dem Stroh einer Felsenhöhle gedenken, fernab von Zivilisation, Luxus und Reichtum seiner und gar unserer Zeit, fragen wir bange nach dem, was unser Leben und Schicksal im relativen Wohlstand unseres Lebenskreises bedroht.

Der schlimmste Schrecken, dem sich die Menschheit gegenübersieht, ist wohl die Gefahr eines weltweiten Atomkrieges. Das militärische Gleichgewicht des Schreckens ist aber nur ein Symbol für jene anderen Schrecken, vor welchen sich heute die Herzen ängstigen: eine Wirtschaft, die unter Inflationen schwankt; eine Berufswelt mit wachsender Arbeitslosigkeit; ein Staat, der alles beherrschen möchte; Städte, aus denen man fliehen muß; Gewässer, worin niemand mehr baden kann; Lebensmittel, vor deren Giftstoffen man uns warnt.

Was ich aber wirklich und am meisten fürchte, das ist etwas ganz anderes. Die wahren und größten Gefahren liegen im Menschen selbst, im Mißverhältnis zwischen seiner Macht und seiner Weisheit, zwischen seinem Wissen und seinem Gewissen, zwischen seiner Gier und seinem Geist, zwischen Bomben und Besinnung.

2. Nun gibt es aber auch eine sehr realistische Hoffnung. Gerade die tiefsten Ängste können zu einer tiefen Besinnung führen. Und diese Besinnung hat schon begonnen. Sie wurde durch die Frage eingeleitet: Wovon können wir morgen leben? Und sie führt uns zu der noch tieferen Frage: Wofür sollen wir überhaupt leben?

Die Frage nach dem Sinn ist radikal aufgebrochen. Besonders große Teile der Jugend sagen Nein zu einer nur kommerziellen Welt und weigern sich, ihren Lebensinhalt nur in Leistung und Konsum zu sehen.

Eine ähnlich tiefe Besinnung hat unter den Wissenschaftlern begonnen. Die Wissenschaftler erleben jetzt täglich, daß die Wirklichkeit tiefer und weiter ist, als sich im Experiment zeigt. Seither suchen sie die Verbindung mit dem Gewissen, mit der Moral und der Religion.

Männer wie Heisenberg, Jordan, Max Planck haben längst die Forderung erhoben, daß Religion und Wissenschaft zusammengehören wie die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beim Münchner Symposium im heurigen Frühjahr, das unter den Auspizien der Bayerischen Akademie der Wissenschaften stattfand

und bei dem zahlreiche namhafte Wissenschaftler anwesend waren, hat sich diese Betrachtungsweise wie ein roter Faden hindurchgezogen: Wissenschaft und Glaube gehören i zusammen wie Welle und Teilchen, durch die das Verhalten der Materie beschrieben wird.

3. Die christliche Alternative zur Neuordnung der Gesellschaft baut auf drei Grundpfeilern auf: auf der Religion, der Familie und dem Beruf. Mit diesen drei zentralen Grundwerten steht und fällt alles.

Der Ursprung aller Erneuerung ist daher in einer tiefen religiösen Verwurzelung zu suchen. Der westliche Mensch hat im Dunstkreis des Wohlstands das Gefühl für den Wert des Glaubens weitgehend eingebüßt. Was Religion dem Menschen wirklich bedeuten kann, das läßt sich aus den Opfern ermessen, die etwa die russischen Christen heute für ihren

Glauben erbringen müssen. Der Nobelpreisträger Sacharow hat über diese Verfolgungen der Christen in seiner Heimat bestürzend konkret berichtet.

Religion braucht Besinnung - eine Besinnung, die an die Wurzeln unserer Existenz reicht und den Anschluß sucht an die Offenbarung, Christen und Suchende brauchen die tägliche Meditation, die tägliche Besinnung auf ihre Verantwortung und auf ihren Tod, auf Ewigkeit und Gericht, auf Schuld und Vergebung durch Christus, auf das Kreuz Christi und seine Auferstehung. Christen und Suchende müssen wieder täglich in der Schrift lesen, das Wort Gottes in sich aufnehmen und mit ihrem Leben konfrontieren.

Ein ergreifendes Beispiel solch innerer Umkehr ist das Leningrader Seminar, in dem sich Atheisten und Gläubige, Ingenieure und Historiker,

Künstler und einfache Leute zusammengefunden haben. Sie haben das Ursprüngliche des christlichen Glaubens studiert, die Kirchenväter des Ostens, um damit zu den Ursprüngen des eigenen Lebens zu gelangen.

Die christliche Erneuerung der Gesellschaft ist in weiterer Folge zu-, tiefst verbunden mit der Erneuerung der Familie, die in der heiligen Familie von Bethlehem und Nazareth ihr zeichenhaftes Vorbild besitzt. Nur in der Familie können jene Werte der Liebe und Gemeinschaft wachsen und weitergegeben werden, die Ausdruck der Liebe Gottes sind.

Heute ist die Familie in einer Atmosphäre von Sinnlichkeit und Egoismus aufs schwerste bedroht. In Österreich wird zur Zeit jede vierte Ehe geschieden. Immer mehr junge Menschen heiraten überhaupt nicht mehr, um völlig frei zu sein von Bin-

dung und Verantwortung. Die Heilung der Familie kann nur gelingen, wenn wieder Gott.in ihr wohnt.

Die dritte Form der Erneuerung kann durch das Berufsleben geschehen. Das wirtschaftliche Wachstum ist zum neuen Credo des Menschen geworden. Deswegen sind fast alle Berufe mehr oder weniger stark von dieser materialistischen Einstellung verwundet. Sie verwunden auch den Menschen, der diesen Beruf ausübt, indem sie ihn zwingen, Sinnloses oder gar Schädliches zu produzieren, sich zu hetzen und immer mehr zu verlangen.

Der russische Dichter Leo Tolstoi berichtet in der Erzählung „Iljas“ vom gleichnamigen Helden, der durch rastlose Arbeit 200 Pferde, 150 Stück Vieh und 1200 Schafe erwarb, über Knechte, Hirten und Mägde befahl und im ganzen Landkreis um sein Dasein beneidet wurde - bis er über Nacht alles Besitztum verlor und sich fortan als unselbständiger Arbeiter verdingen mußte.

Jedermann glaubte, daß nun das große Unglück für Djas und seine Frau begonnen habe. Die beiden glaubten es zuerst auch selbst. Aber dann kam eine große Erkenntnis über sie:

„Solange wir reich waren, hatten wir keinen Augenblick Zeit, um in Ruhe miteinander zu reden, uns um unser Seelenheil zu sorgen und zu Gott zu beten. Was gab es nicht alles für Sorgen!... Jetzt stehe ich des Morgens auf und habe Zeit und Ruhe, mit meinem Alten in Liebe und Eintracht zu reden, zum Zank fehlt jeder Grund, und auch Sorgen gibt es keine ...“ Und der Mann erwiderte, als seine Frau geendet hatte und die Zuhörer lachten: „Lacht nicht, liebe Brüder, das war kein Scherz, so und nicht anders ist das Leben des Menschen ...“

Lacht nicht, Brüder! Die Erneuerung im Berufsleben muß damit beginnen, daß wir einfacher und wesentlicher leben. Im Beruf darf es uns nicht in erster Linie um das Immermehr-Verdienen gehen, um Karriere und Gehaltserhöhung, sonst wird ein Götzendienst aus dem Ganzen, der den Mammon meint statt den Dienst am Menschen und damit an Gott.

4. Die österreichischen Bischöfe haben kürzlich zu dieser Erneuerung aufgerufen. Einfacher und wesentlicher leben heißt, sich zu fragen, worin der Auftrag des Christen am Arbeitsplatz besteht. Keiner von uns kann seine Umgebung völlig verändern. Das konnte auch Christus nicht. Aber jeder von uns kann an seinem Arbeitsplatz einiges zum Besseren beitragen.

Die Sehnsucht nach einer neuen Einheit des Lebens tritt heute-bei vielen Menschen immer mehr in den Vordergrund. Es ist die Sehnsucht nach einer neuen Einheit von Verstand und Herz, Glaube und Wissenschaft, Mensch und Technik. Dazu sind drastische ökonomische und soziale Veränderungen notwendig, die auch dem einzelnen die Chance zum Wandel geben: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, an seiner Seele aber Schaden leidet?“

Denn „der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt“, den die Engel nicht den Satten und Reichen und Mächtigen verkündet haben, sondern den Hirten auf dem Felde von Bethlehem und allen, deren Herz einfach geblieben ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung