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Die Kirche — einmal anders

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Nach Jahrzehnten innerer Schwäche und äußerer Angriffe konnte zu Anfang des 19:- Jahrhunderts der Eindruck entstehen, daß sich die Hoffnungen der Aufklärung auf ein nahes Ende der katholischen Kirche erfüllen würden. So konnte Stendhal im Jahre 1828 schreiben, die katholische Kirche Frankreichs könne höchstens auf 25 Jahre ihres weiteren Bestehens rechnen. Hundert Jahre später und heute noch nennt der große Nachfahre und bedeutendste heutige Vertreter aufklärerischer Geistigkeit, der der Welt als Friedensvorkämpfer bekannte englische Philosoph Bertrand Russell, die katholische Kirche den Menschheitsfeind Nr. 1, und hegt die Hoffnung, daß der Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens in aller Welt der Kirche den Boden entziehen werde.

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Nach Jahrzehnten innerer Schwäche und äußerer Angriffe konnte zu Anfang des 19:- Jahrhunderts der Eindruck entstehen, daß sich die Hoffnungen der Aufklärung auf ein nahes Ende der katholischen Kirche erfüllen würden. So konnte Stendhal im Jahre 1828 schreiben, die katholische Kirche Frankreichs könne höchstens auf 25 Jahre ihres weiteren Bestehens rechnen. Hundert Jahre später und heute noch nennt der große Nachfahre und bedeutendste heutige Vertreter aufklärerischer Geistigkeit, der der Welt als Friedensvorkämpfer bekannte englische Philosoph Bertrand Russell, die katholische Kirche den Menschheitsfeind Nr. 1, und hegt die Hoffnung, daß der Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens in aller Welt der Kirche den Boden entziehen werde.

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Zwischen den beiden Äußerungen liegt eine Periode der Erneuerung der Kirche von innen her, die zwar verhärtete Organisations- und Denkstrukturen nicht aufbrach, aber in vieler Hinsicht eine Besinnung auf den wesenhaften Lehensgrund der Kirche mit sich brachte. Dieser Erneuerung und Besinnung einen neuen Anstoß zu geben, war das Ziel des II. Vatikanischen Konzils. Seine auffallendste Wirkung ist allerdings zunächst die Verlegung der Kritik an der Kirche nach innen. Die heutige Krise der Kirche zu verharmlosen, kann niemandem einfallen, wurde doch sogar von höchster Stelle vor der Gefahr ihrer Selbstzerstörung gewarnt. Eine Selbstzerstörung wollen aber die Kritiker, wie sie jedenfalls sagen, nicht. Sie wollen radikal sein, weil sie sonst glauben, nicht erreichen zu können, was sie erreichen wollen. Daß ihr Radikalismus bisher mehr zersetzende als aufbauende Kräfte entfesselte, dürfte nicht zu bestreiten sein.

Von Krise zu Krise tim die Krise, in der sich die Kirche offensichtlich befindet, richtig zu beurteilen, wird man sie in geschichtlicher Perspektive sehen müssen. Es ist längst nicht die erste Krise. Schon in den christlichen Ur- gemeinden gab es sie, der Apostel Paulus spricht deutlich genug davon, nicht weniger der Verfasser der Geheimen Offenbarung. Die ersten Jahrhunderte mit ihrem fortdauernden Kampf um das rechte Verständnis des Glaubens stellen den Entwicklungsgang auf einem Wege dar, der von Krise zu Krise führte. Eines Tages fand die Welt, wie der heilige Hieronymus sagt, daß sie arianisch geworden war. Die Arianer wußten sich der Hilfe der Kaiser zu versichern. „Die wahre Kirche schien dem Untergang nahe“ (A. Stohr, Lexikon für Theologie und Kirche, 1930). Der Manichäismus wie der Pelagianismus forderten die ganze geistige Kraft eines Augustinus heraus, um die Christenheit davor zu retten. Auch erinnere man sich, daß Kardinal Newman das 13. Jahrhundert, das das Jahrhundert des heiligen Thomas, Albertus Magnus, Bonaventura, Meister Eckehart war, mit dem Blick auf den aufkommenden Nominalismus geradezu ein Jahrhundert des geheimen Unglaubens nannte.

Man denke auch an all das Widerchristliche, womit die mittelalterliche Gesellschaft, die wir auszedchnend als christlich zu bezeichnen pflegen, belastet war: das Ausmaß der Verstrickung der Kirche in weltliche Herrschafts- und Besitzverhältnisse, die politische Zerrissenheit der Christenheit, die Auseinandersetzungen christlicher Fürsten mit der Kirche, die Verweltlichung höchster geistlicher Autoritätsträger, ganz zu schweigen von den Religionskriegen. Nach dem heutigen Begriff der Dienstkirche zum Unterschied von der Herrschaftskirche bilden diese Erscheinungen eine Kette krisenhafter Fehlentwicklungen. Sie bilden aber auch ein Zeugnis für die Lebens- und Erneuerangskraft der Kirche. Denn die Krisenperioden waren auch die Zeiten der großen Heiligen, des Franz von Assisi, des Dominikus, der Katharina von Siena, des Johannes von Kreuz, der

Theresia von Avila, des Karl Bor- romäus, des Philipp Neri, des Ignatius von Loyola, der Theresia von Lisieux.

Die innerkirchliche Kritik an der Kirche konzentriert sich auf ihre Strukturen, sicher auch mit Recht. Die Strukturen sind aber gar nicht das Leben der Kirche. Ihre eigentliche Wirklichkeit wird durch die Kritik an den Strukturen verdeckt

Die Lebenswirklichkeit der Kirche

Was ist diese Wirklichkeit? Trotz aller Proteste, Anfechtungen und Bedrängnisse ist und bleibt die Kir che schlechthin das größte und erhabenste Werk der Schöpfung Gottes. Wir ahnen heute die überwältigenden Wunder des Weltalls, seiner uns unvorstellbaren, Milliarden Jahre umspannenden Dauer, seiner Ausdehnung ohne erkennbares Ende, seiner Ordnung, die die Alten mit Recht die Harmonie der Sphären nannten, spricht doch Albert Einstein vom „verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, daß alles sinnvolle menschliche Denken und Anordnen dagegen ein gänzlich nichtiger Abglanz ist“. Halten wir gegen diese Herrlichkeit des Universums die Kirche, so steht für den gläubigen Christen fest, daß sie als Frucht des Blutes des Sohnes Gottes jene Herrlichkeit unermeßlich übertrifft: „Dann steht die heilige Kirche, die Frucht dieses Blutes, geradezu wie eine unendliche Schöp fung mitten in die kleine, endliche hineingebaut und verherrlicht für sich allein Gott unendlich mehr und ist unendlichmal reicher als die ganze erste Schöpfung mit Sternen und Engeln und Menschen zusammengenommen“ (Thomas Molina). Mit dem Blick auf diese Wirklichkeit kann Meister Eckehart sagen, daß Gott an einer Seele, die sich Ihm im Gnadenleben liebend hingibt, mehr Freude hat als an Seiner ganzen äußeren Schöpfung. Das war immer die Überzeugung des für die übernatürliche Wirklichkeit offenen Denkens. Thomas v. Aquin spricht in Anlehnung an Augustin, daß der Wert (bonum) der Gnade eines einzigen Menschen größer ist als der natürliche Wert des ganzen Universums. Kardinal Newman folgt in seinem Denken den Genannten. Man braucht nur an das Gnadenleben der unzähligen Unbekannten und Unbeachteten zu denken, die den Großteil des „heiligen Volkes“ ausmachen, um zu sehen, was die eigentliche Wirklichkeit der Kirche ist. Gewiß, die sichtbare Kirche gehört neben der unsichtbaren, die Rechtskirche neben der Gnadenkirche, zu dieser Wirklichkeit. Aber gemäß der Ranghöhe der Werte bleibt bestehen, daß die äußeren Strukturen erst in ihrer

Bezogenheit auf die Gnadenwirklichkeit des Lebens des „heiligen Volkes“ der Kirche überhaupt einen Sinn bekommen und alle Erneuerung von Strukturen unmittelbarst auf das Wachstum dieser Lebenswirklichkeit abzielen müßte.

In der weltlichen Welt

In einzigartigem Wirklichkeitssinn hat Romano Guardini es unternommen, die in Frage stehenden Perspektiven zurechtzurücken. Er fragt: Was sind denn die Heiligen in der Wirklichkeit der Kirche? Wir verbinden mit ihnen, antwortet er, die Vorstellung des Außergewöhnlichen. Dagegen erwähnt er Stellen aus den Paulusbriefen und der Apostelgeschichte, die zeigen, daß im Neuen Testament das Wort „die Heiligen“ einfach jene meint, die an Christus glauben, getauft und vom Heiligen Geist erfüllt sind, sich bemühen, aus dem Glauben zu leben. Den Heilig keitsbegriff des Außergewöhnlichen will Guardini nicht ablehnen, im Gegenteil, der außergewöhnliche Heilige hat in der Kirche, die in der Welt zu leben hat und für deren Glieder das Christentum zum Alltäglichen wird, eine besondere Funktion: Er schreckt den im Alltag versinkenden Menschen auf. Die vorhin genannten Namen von Heiligen lassen eine weitere Funktion ersehen: Solche Heilige machen in Krisenzeiten der Kirche die eigentliche Wirklichkeit der Kirche sichtbar, sei es, daß die Leitungsgewalten zur Kirche selbst gemacht werden, sei es, daß die Kritiker der Strukturen die Lebenswahrheit selbst nicht mehr zu sehen vermögen.

Daran schließt sich ein dritter Gedanke Guardinis über die Verschiebung im Begriff der Heiligkeit: eine nichtchristliche, der biblischen Offenbarung fremde, zum Teil entschieden feindliche Welt entwickelte sich. Damit wird das Christentum immer deutlicher zur Sache lines bewußten Entschlusses. Dieser erfolgt einerseits durch die Eltern, die ihr Kind taufen und christlich erziehen lassen, aber dann muß der einzelne diesen Entschluß selbst treffen, wenn er herangewachsen ist und sich fragt, ob er in wirklicher Verantwortung Christ sein will, eine Entscheidung, die er gegenüber der Fremdheit oder Feindlichkeit seiner Umwelt immer wieder neu vollziehen muß. „So wird der Unterschied wieder deutlich und das Christsein gewinnt allmählich den alten Charakter der Ungewöhnlichkeit Es wird wieder als jenes Besondere empfunden, das es ist: Gnade,

Glück, Verantwortung, Größe und Gefahr zugleich.“ Nach dem II. Vatikanischen Konzil würde man sagen: Dazu kommt das Wissen um die Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen, für die Welt und ihre Zukunft. Gerade in der säkularisierten Welt bleibt aber entscheidend das Wissen um die übernatürliche Wirklichkeit und um die Teünahme am Leben Christi, kraft deren die Kirche ist was sie ist: Volk Gottes, berufen, „die Herrschaft Christi über die ganze Erde auszubreiten“

(II. Vatikanisches Konzil, Laienapostolat Nr. 2).

Mit diesen bekannten Worten aus Isaias 21 mögen sich in der gegenwärtigen Weltstunde viele im Dunkel über ihrer Kirche befragen. Die Antwort hat Christus selbst gegeben : Der Herr will bei ihr sein bis ans Ende der Zeiten. Was sagt die bisherige Geschichte der Kirche darüber? Mag es manchmal angesichts einer unbarmherzigen Kritik den Anschein haben, als stünde die „Braut Christi“ am Pranger: Wer richtige Diagnosen und Prognosen stellen will, wird aus der Geschichte der Kirche zu lernen haben. Ihre Vergangenheit wird auch ihre Zukunft sein.

T. B. Macaulay, der gefeierte englische Historiker, Protestant, läßt in einer berühmten Stelle seiner Besprechung der eben erschienenen Geschichte der Päpste von L. Ranke in einer fernen Zukunft einen Neuseeländer die Ruinen von St. Paul, Wahrzeichen des anglikanischen London, auf dem Bruchstück eines Bogens der London Bridge, der jetzigen Hauptbrücke über die Themse, zeichnen. Auch in weltgeschichtlichen Zeitmaßen gerechnet, dürfte dieser Neuseeländer, wenn nicht der Atomkrieg doch kommf, noch lange nicht, wenn überhaupt, zu erwarten sein. Die Stelle lautet: „Es gibt auf dieser Erde und gab nie ein Werk in Händen von Menschen, das so sehr eines näheren Einblickes wert wäre wie die römisch-katholische Kirche. Die Geschichte dieser Kirche verbindet zwei große Zeiträume menschlicher Kultur. Keine andere Institution besteht noch, die den Geist zurückversetzt in die Zeiten, da der Opferrauch emporstieg vom Pantheon, und da Giraffen und Tiger das Flavische Amphitheater erfüllten. Die stolzesten Königshäuser sind von gestern, wenn verglichen mit der Folge der Päpste. Diese Folge geht in ungebrochener Reihe zurück vom Papst, der Napoleon im 19. Jahrhundert krönte, bis zum Papst, der Pippin d. J. krönte. Und diese erhabene Dynastie reicht weit über die Zeit Pippins hinaus bis in die graue Vorzeit. Die Republik von Venedig folgte an Alter. Jedoch die Republik von Venedig war neuzeitlich im Vergleich mit dem Papsttum; und die Republik von Venedig ist dahin, das Papsttum besteht weiter. Das Papsttum besteht weiter, nicht verfallend, nicht museal, sondern voll von Leben und Jugendkraft. Die katholische Kirche sendet noch immer Missionäre bis an die fernsten Enden der Welt, deren Eifer dem jener gleicht, die in Kent mit Augustin landeten, und tritt immer noch feindlichen Königen mit dem gleichen Geist entgegen, mit dem sie sich Attila widersetzte. Die Zahl ihrer Kinder ist größer als in irgendeinem früheren Zeitalter. Was sie in der Neuen Welt erwarb, wiegt mehr als das auf, was sie in der Alten verlor. Ihr geistlicher Einfluß erstreckt sich über die unermeßlichen Gebiete, die sich hindehnen zwischen den Talweiten des Missouri und dem Kap Horn, Länder, die nicht unwahrscheinlicherweise in einem Jahrhundert eine Bevölkerung besitzen werden so groß wie die, die jetzt Europa bewohnt. Sie sah den Beginn aller Regierungen und aller kirchlichen Neuanfänge, die es jetzt in der Welt gibt; und es ist keineswegs sicher, ob sie nicht auch ihr aller Ende zu sehen bestimmt Ist. Sie war groß und geachtet, bevor die Sachsen in England Fuß gefaßt hatten, bevor die Franken den Rhein überschritten, da noch immer in Antiochien griechische Beredsamkeit blühte, da in Mekka noch immer Idole angebetet wurden, und mag sehr wohl in unverminderter Kraft bestehen, wenn einer der Reisenden aus Neuseeland sich inmitten einer ungeheuren Einöde auf dem Bruchstück eines Bogens der London Bridge einen Standplatz sucht, um die Ruinen von St. Paul zu zeichnen.“

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