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Die Sehnsucht der Völker

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Die Wahrheit ist von Anbeginn. Es gibt aber Wahrheiten, die so selbstverständlich sind, daß sie immer wieder aufgefunden werden müssen. Anfh als sich 1889 in Österreich der Ruf „Die Waffen nieder!“ erhob, glaubte man zunächst mit der einprägsamen Formulierung zugleich einer neuen Erkenntnis auf die Spur gekommen zu sein. Erst allmählich bemerkte man, daß die Sehnsucht nach Ruhe als dem Ergebnis äußerer und innerer Ordnung im Völkerleben weder eine Ermüdungerscheinung noch ein Zeichen über-sdiüssiger Kraft war, sondern vielmehr eine uralte Mahnung bedeutete, einen Fingerzeig auf einst Gebotenes und feierlich Beschworenes, einen Hinweis auf etwas, das eben so wahr war, daß man darüber nicht mehr nachdachte.

Nur ab und zu greift man auf das Gesetz der Nächstenliebe zurück, das — eingeboren, oft sophistisch umschrieben — niemals und nirgends ganz übertüncht werden kann. Wenn Piaton vom Frieden sagt, daß alle Kriege eigentlich nur um seinetwillen geführt werden, so liegt darin nicht sosehr ein eigentümlicher Gedanke als die Weitergabe überkommener Erfahrung. Es ist keine neue, es ist zweifellos nur eine neuerliche Mahnung, sich den Frieden, der im unendlichen Raum herrscht, wo die Planeten reibungslos ihre steten Bahnen ziehen, zum Muster zu nehmen. Dennoch verleugnet dieses Ideengebäude, wie weit seine Kuppel auch der Ewigkeit geöffnet scheint, in keiner Weise seine Erdgebundenheit: für Piaton, seine Vorgänger und Nachfolger war der Friede etwas durchaus Zeit bedingtes. Trotzdem vermochte man auch schon damals das Ursprüngliche vom Gewordenen zu scheiden und der Hinweis auf die Tatsache, daß sogar die wildesten Tiere ihre Artgenossen, ganz im Gegensatz zu den Menschen, verschonen, war auch einer Epoche nicht fremd, deren Jenseits greifbar war und vor deren Ohren der Ruf „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ noch nicht erklungen war.

Es ist für die innere Konstitution der Menschen bezeidincnd, daß sie sich der Gesetze erst zu entsinnen pflegen, wenn ihr eigener Herd bedroht ist. Auch die Friedensidee durchbricht gleichsam nur in Zeiten der Not die Eisschidite der Indolenz: nur wenn es an die heiligsten Güter der Erde geht, finden sie ein breites Gefäß und empfängliche Herzen. Und als die Schicksalsstunde des römischen Imperiums anhob, findet der heilige Augustinus in seiner Schilderung des Gottesstaates die Krönung des Glaubens in dem Geschenk des Friedens an die Frommen. Dieser Friede aber hat für ihn ein doppeltes Gesicht. Das eigentliche und überirdische ist die Versenkung in den Anblick Gottes, die fraglose Ruhe an sich, die bis in alle Ewigkeit keine Beunruhigung mehr kennt. Ihr irdisches Abbild jedoch, begrenztes Vorgefühl der Vollkommenheit, ist die möglichst ungestörte Existenz der atmenden Kreatur. Ist das Ziel eines Strebens aber einmal unzweifelhaft feststehend, sudit man es schrittweise mit den gegebenen Mitteln zu erreichen: so gelang man auf dem Weg über den endlichen Frieden in den unendlichen.

Daß der Friede das Ziel dieses Strebens ist, steht für Augustinus fest. Denn wie es niemand gibt, der sich nicht freuen wollte, so gibt es keinen, der nicht den Frieden begehrte. Alle Kriege werden mit der Absicht, Frieden zu schließen, unternommen und wer den Frieden bricht, will im Grunde nicht Blut und Zerstörung, sondern nur einen anderen, ihm gemäßeren Frieden. Aber es ist nicht allein ein Wille zum Frieden im Menschen: ihn treibt auch ein innerer Zwang. Denn wer ein Ziel erreichen möchte, bedarf zumindest um sich Ruhe und Ordnung. Selbst der Wegelagerer, selbst das Fabelwesen in seiner Höhle begehrt, wenn vielleicht nicht unmittelbar den seelischen Frieden, so doch wenigstens den körperlichen, dem sogar die reine Natur zustrebt.

Augustinus „Pax“ umfaßt also die belebte und die unbelebte Schöpfung: und ist nach den verschiedensten Seiten hin so systematisch entwickelt, daß er für den einzelnen und die Gemeinschaft Nutzen bringt. Er wird als das Höchste der Güter hingestellt, gleichbedeutend mit dem Frieden des ewigen Lebens selbst (Possumus dicere fines bonorum nostrorum esse pacem ... Profecto finis civitatis huius, in quo summum habebit bonum, vel pax in vita aeterna vel vita aeterna in pace dicendus est. De civ. Dei XIX 11).

Das Buch Vom Gottes Staat des Sohnes der Monica, das als zweckbetonte Verteidigungsschrift begonnen worden war und zu einem der wirkungsvollsten Bausteine mittelalterlicher Geistigkeit überhaupt wurde, formte damit für lange Zeit nicht nur die Idee des Friedens, sondern auch seine Heimstätte. Einzig der Bund mit der Kirche ermöglichte den Königen und Kaisern des Hochmittelalters die Durchführung eines allgemeinen Friedens, der nach vergeblichen kleineren und lokalen Versuchen der letzte Ausweg aus unerträglichen Nöten erschien.

Und zwar bedienten sich die Herrscher hiezu der „Pax et Treuga Dei, causa a l)eo coeli inspirata“: zunächst der Pax Dei im ausgehenden 10. und beginnenden 11. Jahrhundert, was den Versuch darstellt, den unbedingten Frieden nicht nur zu fordern, sondern auch durchzusetzen, und schließlich etwas später der aus der Unerfüllbarkeit dieses Wunsches resultierenden Treuga Dei, die den Waffenstillstand Gottes verkörperte und eine Konzession an das Reich von dieser Welt bedeutete.

Der letzteren Form einer begrenzten Entfehdung, wenn man so sagen kann, war größerer Erfolg beschieden: das unruhige Element, das sich nur gedämpft, aber nicht entwaffnet sah, war für Atempausen nicht undankbar, während die beunruhigte Autorität hoffen durfte, aus diesen Atempausen Kraft für deren Ausdehnung zu gewinnen. Seit 1041 breitete sich also die Treuga Dei unter dem Einfluß Odilos von Cluny von Aquitanien aus über Burgund und Frankreich, Katalonien, England und Deutsdiland aus und setzte für Verletzung der fehdefreien Zeit von Mittwoch abends bis Monug früh und der ganzen Advent- und Fastentage schwere kirchliche, aber audi weltliche Strafen fest: Exkommunikation und Geldbußen bis zum Vermögensverfall, während die Gehorsamen „vom allmächtigen Gott Vater und seinem Sohn Jesus Christus losgesprochen sein“ sollten. Welt- und Klostergeistliche dagegen, Wallfahrer, Kaufleute, Wanderer und Bauern, dann Kirchen, Klöster, Ackergerät und Ackervieh hatten als einzige überhaupt jenen steten Frieden, die Pax Dei, der für alle Stände augenscheinlich nicht erringbar war. Dabei sei betont, daß dieser Gottesfriede, der bald darauf die päpstlidie Sanktion erhielt, immer die Gestalt eines Kirchengebotes beibehielt. Er war eine kirdilidie Einrichtung von immerwährender Dauer, auch wenn er meist nur in Verbindung mit der weltlichen Gewalt wirksam wurde, und* untersdieidet sich deutlich von dem älteren Landfrieden, der unter den Auspizien und dem Gesetz des Herrschers sowie unter Mitwirkung der örtlichen Machthaber zu Stand zu kommen pflegte und eine gegenseitige eidliche, aber befristete Verpflichtung zur Ordnung darstellt.

Die deutschen Könige hatten bis auf weiteres noch die Macht, die Ruhe im Land allein aufrechtzuerhalten. Nichtsdestoweniger treten auch sie für den Frieden öffentlich ein. Auf einer Synode zu Konstanz bestieg König Heinrich III. 1043 selbst die Kanzel und richtete inbrünstige Friedens Mahnungen an das versammelte Volk: so wie er allen vergebe, mögen audi die Anwesenden tun und von ihren Fehden abstehn (. . .popu-lum ad pacem cohortari coepit. Ann. Sangall. MG SS I. 85, vergleiche besonders Herim. Aug. chron. MG SS V. 124 f). Aber diese Kundgebung war keineswegs die Verkündung eines Gottesfriedens, auch nicht die eines Landfriedens, sondern eine rein persönliche, beispielhafte Demonstration, der er aber mit den Mitteln des Reiches Nachfolge und Beobachtung zu verschaffen wußte. Die starke Betonung des ethischen und religiösen Moments freilich unterscheitlet diesen Pazi-fizierungsversuch grundlegend von seinen Vorgängern und leitet direkt in die Wirren des Investiturstreits über, wo man — erstmalig in Deutsdiland — ausdrücklich auf den Gottesfrieden zurückgreift.

1081 wurde er in der Diözese Lüttich von Bischof Heinrich verkündet, 1083 folgte Frz-bischof Sigwin von Köln, während ihn der Kaiser, Heinrich IV., erst 10S5 für das ganze Reich beschloß.

Die Lateransynoden von 1 123, 1139 und 1179 ,und die Aufnahme in das Corpus iuris canonici machten ihn schließlich für die ganze Christenheit verbindlich. Und es war eine Folge der Verletzung der Treuga Dei, daß über Flerzog Leopold V. von Österreich 1094 wegen Gefangensetzung eines Kreuzfahrers, (Richard Löwenherz von England) der Bann ausgesprochen wurde, wie er aus gleichem Grund über Kaiser Heinrich VI. nach seinem Tod noch nachträglich verhängt ward.

Mittlerweile aber war der Pakt zwischen Kaisertum und Papsttum illusorisch geworden: blutigste Parteienkämpfe wüteten besonders in dem zersplitterten Italien und es ist einzig einer neuerlidicn Mahnung an das Reich Gottes zu danken, wenn die Welt wenigstens einen Atemzug lang aufhorchte, um den Nadihall von leisen Schritten zu lauschen, die eben vorübergeglitten waren. Denn als der heilige Franz von Assisi das „arme Leben Christi“ seinen Zeitgenossen gleichsam wieder vorgelebt hatte, entfalteten die Minderen Brüder im Wettstreit mit den Jüngern des heiligen Dominikus eine großartige Tätigkeit im Lob und in der Vorbereitung der Pax aeterna, nachdem 1217 und 1228 und später in Roussillon und Arra-gonien Friedenssatzungen getroffen worden waren, die bezeichnenderweise „paces et treugae“ hießen, und nachdem noch einmal in einem Landfriedensgesetz um 1224 oder 1230 die Treuga Dei wohl unter König Fleinridi VII., dem Sohn Friedridis II., erneuert worden war.

1230 war audi das Jahr, dal den Frieden von Ceprano sah, die Introduktion für die längste Friedensperiode zwischen Kaiser und Kurie in dieser letzten großen Auseinandersetzung zweier Gewalten. Und drei Jahre später begann in Oheritalien das grolie H.illeluja, wie man die Friedensindacht von 1233 nannte, weil mit diesem Ruf zum Lob der Dreieinigkeit die Bußprediger das Land bis Florenz durchzogen.

Salinibene de Adamo, ein Minorit, dessen Chronik man um ihrer Farbigkeit willen sowohl mit Herodot als auch mit Rabelais und Montaigne verglichen hat, wird 1221 geboren. Es sind also zweifellos Eindrücke von Augenzeugen, die er wiedergibt, wenn er schreibt: „Als Giliolus de Gente in Reggio (F.mili.i) Podest* war, begann das H.illeluja. Diese Zeit, ilie man erst später danach benannte, war eine Zeit der Ruhe und des Friedens, in der die Waffen des Krieges überall niedergelegt waren, si war eine Zeit der Heiterkeit und der Freude, der Wonne und der Schwärmerei, des Singens und Jubilieren*. Und es priesen die Krieger zu Pferd und zu Fuß, die Bürger und Bauern, die Jünglinge und Jungfrauen, die Creise und die in der Blüte der Jahre Stehenden alle, das Lob Cottes. Und in sämtlichen Städten Italiens herrschte dieselbe Verzauberung (devotio)“ (Chron. MG SS XXXII, 70).

In dem von inneren Zwistigkeitcn schwer geprüften Piacenza mußten damals die Vertreter beider Parteien, der Popolaren und der Ritter — mehr gab es nicht —, einander auf offenem Domplatz den Friedenskuß geben. Denn so hatte es der Franziskaner Leo angeordnet, dem die empfängliche Stadt das Sdiiedsrichteramt übertragen hatte. In Modena und Parma erläßt ein Bruder Gerardo Verordnungen zur Durchführung des Friedens, in Reggio wirkt der Dominikaner Giacopino (Jakob). Vor allem aber ist es die Tätigkeit eines anderen Jüngers des heiligen Dommikus gewesen, die jenen Tagen Besonderheit und bis heute nicht überholte Einmaligkeit zusichert, nämlich die des Johann von Vicenza.

Sein Zeitgenosse Gerardus Maurisius sagt, es sei seit den Zeiten Jesu Christi nicht erhört worden, „daß in Seinem Namen durch die Predigt eines Menschen so viele Leute sich versammelten, wie dieser sie bei seiner Friedensstiftung vereinigte“. (Gerardus Maurisius bei Muratori SS VIII, 37.) Es kam so weit, daß Bruder Johannes, nachdem er Bologna ganz in seinen Bann gebracht hatte, sein Friedenswerk in der Trevisaner und Veroneser Mark fortsetzte und es am Ende buchstäblich bis zum Flerzog und Rektor Veronas und Vicenzas brachte, für den Augenblick sogar die Autorität des „leibhaftigen Satans“, E/zelinos da Romano bei-seitesdiiebend. Man hielt ihn für einen Heiligen: qui reputabatur sanetus quasi ab omnibus Italis, qui confitebantur ecclesiam Rotnanam“, heißt es bei einem dem Mendi-kanten feindlichen Sdiriftstel.ler (Guido Bonati). Denn er hatte für kurze Zeit mit der Gewalt seiner Rede alle Unruhe im Land übertönt und der Schall seiner Friedens-glocken ließ vergessen, daß das Böse, die alte Schlange, ein zähes Leben und vor allem meist taube Ohren hat.

Trotzdem beabsichtigte Johann von Vicenza der Welt gleichsam die Zusammenfassung des von ihm F.rstrcbten und Erreichten in einem allgemeinen Friedenskongreß zu bieten, der die Krönung sein Werkes darstellte und am 28. August 1233, wenige Meilen südlich von Verona, in der Ebene von Paquera, wirklidi zusammentrat. Der Patriarch von Aquileja, die Bischöfe von Verona, Brescia, Mantua, Bologna, Modena, Reggio, Treviso, Vicenza und Padua, Markgraf Azzo von Est, Fzzelino und Alberich da Romano und zahllose andere weltliche Fürsten, dazu Abgeordnete und Volk, ja vielleicht die ganzen Einwohner mancher Städte haben sich dort versammelt. Ein Augenzeuge meint, noch nie habe jemand in der Lombardei so viele Menschen auf einem Fleck gesehen (congreg.ua multitudiiiegentium, quantum siniul nunquam aliquis vidisse dicebat in pariihus 1 .omhardie. Rolandin. Patav. Chron. MC SS XIX, 58).

Der Mönch Johannes predigt damals über die TextWprte: „Meinen Frieden gebe ich eudi, meinen Frieden lasse ich euch“ und verkündete anschließend im Namen des dreieinigen Cottes und der heiligen Apostel auf Grund einer Vollmacht Papst Gregors VIII. der Lombardei und allen italisdien Landen einen ewigen Frieden: wer ihn jemals bräche, sei gebannt, verdammt und dem Teufel übergeben. Alle Unternehmungen und Verschwörungen gegen ihn sollten von vornherein null und nichtig sein. Wer irgend einen Punkt dieser Beschlüsse verletze, büße mit einer Strafe von 1000 Mark Goldes und dem Kirchenbann. Wer sie aber heilig halte, dem wurde der himmlische Segen zugesichert.

Das Ergebnis dieser Forderungen und Festsetzungen wurde am 29. August 1233 in feierlichen Urkunden für die Nachwelt festgehalten, in Urkunden, die noch heute, auch wenn ihr Inhalt tatsächlich die Zeit seiner Fixierung kaum überdauerte, Denksteine dessen lind, was der Tag eines guten Willens vermochte, ein Tag, wie ihn viele Menschen vielleicht auch jetzt begehen werden. Dennoch wird und muß jede Bemühung eines guten Willens scheitern, wenn der dazugehörige gute Glaube fehlt, den nicht allein der haben muß, der den Frieden predigt. Der hat ihn nämlich in den meisten Fällen ohnehin, so wie ihn auch Jeanne d'Arc besaß, eine der wenigen, die noch am Ausgang des Mittelalters an die Herstellung eines allgemeinen Friedens dachte.

Seit damals ist der Friede nie mehr Gegenstand praktischer, ernstgemeinter Bemühungen gewesen, man hat ihn der Politik und der Philosophie dienstbar gemacht und ihn allmählich zu einer Theorie umgestaltet, also zu etwas, dem keinerlei Wirklichkeit mehr zukommt.

Doch .dich wenn ZU fürchtet) ist, daß der ewige Friede immer nur ein trommer Wunsch bleibt, müßten wir uns um seine Durchführung bemühen. Denn Sdileiermadicr sagt mit Redn: „Die Idee des ewigen Friedens ist rein christlich und das Abenteuerliche, das man darin hat finden wollen, liegt nur in der Art, wie man versucht hat, sie zu realisieren . ..“

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