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Der Papst und die Zukunft

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Papst Johannes XXIII. war in den letzten Monaten das Ziel vieler Angriffe, die sich in den Wochen vor Ostern verdichteten; diese Angriffe wurden verdeckt bereits seit Jahren vorgetragen, ganz offen jedoch erst in der letzten Zeit. Sie kommen zumeist von einer außerkatholischen Rechten und von gewissen katholischen Kreisen. Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf erstere; es fällt von ihnen bereits ein Licht auf katholische In-vektiven gegen „Johannes den Guten“, „Johannes den Weichen“.

Der Papst, als Judas, durch seine Judennase deutlich erkennbar, läßt sich von dem Antichrist Chruschtschow die Füße küssen. Diesem Spottbild auf der ersten Seite einer deutschen rechtsradikalen Zeitung treten unmißverständliche Texte an die Seite: „Der Antichrist in Rom“, „Politische und geistige Aufweichung im Vatikan“, „Attentat •uf Pius,XII.“.

Rechtsradikale Kreise durchaus außerkatholischer Provenienz hatten „den Papst“, das Papsttum, zur Standarte ihrer „antibolschewistischen“ militanten Politik erhoben und sind jetzt enttäuscht, daß ihnen der Papst nicht zu Willen ist, daß ie seine Reden nicht mehr für sich ausplündern können. Man könnte über diese Seite der Angriffe gegen Johannes XXIII. fast hinwegsehen, wenn sie nicht auch katholische Angriffe beleuchten würde. Da erklärt in einem Frühschoppen des westdeutschen Fernsehens ein angesehener deutscher katholischer Publizist: „Viele Christen fühlen sich verraten“, nämlich durch die „neue Politik dieses Papstes“. Ein anderer, nicht minder angesehener deutscher katholischer Professor und Publizist, der seit längerer Zeit seine Bedenken gegen die Politik Johannes“ XXIII. freimütig, auf hohem Niveau, vorgetragen hat, fragt betrübt: „Gibt es noch ein .vatikanische Politik'?“ und antwortet: „Es ist ungewiß, ob es überhaupt noch so etwas gibt wie eine vatikanische Politik.“

Wir erlauben uns, in diesem kritischen Moment, wo so viel zur Verwirrung der Geister von vielen Seiten beigetragen wird, ein Dokument vorzulegen. Wir hatten am Beginn des Advents 1962 hier auf die Möglichkeit bevorstehender diplomatischer Beziehungen zwischen Rom und Moskau hingewiesen. Am 8. Dezember schrieb uns darauf aus Rom Pater Robert Leiber SJ., der bekannte, hochverdiente Sekretär Seiner Heiligkeit, des Papstes Pius XII., einen Brief, dessen Eingang wir hier zur Kenntnis bringen:

„Zu Ihrem Artikel: Antikommunis-mus! Aber wie? — in: „Die Furche“, Nr. 48 vom 1. Dezember 1962, Seite 1,

darf ich eine nicht nur ergänzende, sondern den Sinn des Artikels berührende Bemerkung machen: Schon unter Pius XII., und zwar in den ersten Jahren nach Kriegsende, so zwischen 1945 und 1948, ist von sowjetischer Seite fünfmal auf verschiedenen Wegen vorgefühlt worden, ob der Heilige Stuhl bereit wäre, diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufzunehmen. Es ist darauf jedesmal b e-j a h e n d geantwortet worden. Dann erfolgte aber von russischer Seite doch nichts weiteres.“

Die Unterstreichung des „bejahend“ stammt von P. Robert Leiber SJ.

An dieses Dokument dürfen wir die Erörterung eines Mißverstehens des Willens, der Erklärungen und der Aktionen des Papstes Johannes XXIII. anschließen, wie es öfters gegenwärtig zum Ausdruck kommt: Da erklärt man, die freundlichen Adressen des Papstes, ja ein gewisses Entgegenkommen östlichen Machthabern gegenüber habe nichts Neues zu bedeuten: die Kirche „arrangiere sich eben“, so wie sie sich mit „allen“ Systemen, Machthabern, Gesellschaftsordnungen in bald zweitausend Jahren arrangiert habe.

Dieses „wohlwollende“ Mißverständnis ist noch gefährlicher als der offene Angriff auf den „weichen“ Johannes-Papst: Hier wird das Aufrüttelnde, Neue, zur Besinnung, Selbstkritik und Selbstkorrektur einfordernde Element in der Führung der Kirche durch Johannes XXIII. glatt, glättend beiseite geschoben: man haust sich ein, man igelt sich ein und wartet auf den nächsten Papst.

Hier ist der Moment, wo wir auf römische, gewissen Kreisen der Kurie nahestehende Angriffe gegen den Papst zu sprechen kommen müssen. Diese richten sich zunächst zentral gegen die dreifache Öffnung, die Johannes XXIII. dem Zweiten Vatikanischen Konzil zur Aufgabe gestellt hat: Öffnung der Kirche für den innerkirchlichen Dialog, für die freimütige, selbstkritische Aussprache in der Kirche über Gebrechen, Probleme, Aufgaben; Öffnung, zum zweiten, für den ökumenischen Dialog mit der Ostkirche und den Protestanten. Schon in Paris sprach der Nuntius Roncalli nie von den „Protestanten“, sondern immer von „unseren getrennten Brüdern“, mit Betonung auf „Brüder“. Die „Ehrfurcht vor der großen Tradition der Ostkirche“ hat Roncalli als Nuntius in orthodoxen Ländern und als Papst inkarniert. Die dritte Öffnung gilt dem „Gespräch zwischen Kirche und Welt“.

Einer der angesehensten Theologen des deutschen Sprachraumes, Otto K a r r e r, weist soeben in diesem April 1963 in „Theologischen Reflexionen zum Konzil“ im „Hochland“ darauf hin: Hier wurde, durch den Papst, eine ganz neue Situation geschaffen; „nicht minder bedeutsam für das Konzil war die Einladung von Beobachtern aus anderen Kirchen, das deutlichste Zeichen der .Öffnung' Roms für die Christenheit und eine wesentliche .Klimaänderung', das Signal zum Ende der Gegenreforma-tion .

In der Friedensenzyklika vom 11. April 1963 spricht denn der Heilige Vater auch folgerichtig von der „Familie des Menschen“ und von der neuen Ordnung zwischen den Menschen: als „Kinder und Freunde Gottes und Erben Seiner ewigen Glorie“ haben die Menschen, zunäcHt jeder

einzelne Mensch, bedeutende Rechte: das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, auf Unterstützung in Alter, Krankheit, bei Arbeitslosigkeit, das Recht, frei die Wahrheit zu suchen, frei seine eigene Meinung zu äußern, das Recht auf Information über öffentliche Ereignisse. Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zu höherer Schulbildung und, nach seinen Gaben und Fähigkeiten, zur Übernahme von führenden Stellungen in der Gesellschaft. Jeder Mensch hat das Recht, Gott zu verehren gemäß seinem eigenen Gewissen, öffentlich und privat.

Dieser erste Teil der Enzyklika erörtert ausführlich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rechte jedes Menschen, dazu das Recht auf freie Assoziation, das Recht, ein- und auszuwandern, und die politischen Grundrechte der Person.

Mit den Rechten sind untrennbar die Pflichten jedes Menschen verbunden: die Pflicht, in der Gesellschaft mitzuarbeiten, in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit.

Unser Zeitalter besitzt drei charakteristische gesellschaftliche Phänomene: den Aufstieg der Arbeiterklassen, der Frau zur Teilnahme am öffentlichen Leben, den Aufstieg der Völker. Die Enzyklika spricht vom Schwinden eines Minderwertigkeitskomplexes, der in vielen Menschen Hunderte und Tausende von Jahren lebte, und vom Schwinden eines Überlegenheitskomplexes, der seine Wurzeln in sozial-ökonomischen Privilegien, im Geschlecht („Überlegenheit“ des Mannes!) oder politischen Status hatte. Alle Menschen sind gleich an Würde: Rassische Diskriminierung kann nicht

mehr länger gerechtfertigt werden, weder in der Theorie noch in der Praxis.

Der zweite Teil der Enzyklika behandelt die Beziehungen zwischen den Individuen und den öffentlichen Autoritäten.

Wahre Autorität ist von Gott gesetzt und bekundet sich hauptsächlich durch sittliche Gewalt. Die Ausführungen über Autorität schließen mit dem Hinweis: „Es ist daher klar, daß die Lehre, die Wir hier dargelegt haben, voll übereinstimmend ist mit jedem wahrhaft demokratischen Regime.“

Die Regierungen haben die Pflicht, dem Individuum jede mögliche Hilfe bei seiner Entwicklung zu gewähren und ihrerseits ihre eigene Aktivität mit Zurückhaltung, mit behutsamer Rücksichtnahme auf den einzelnen auszuüben. „Das gesellschaftliche Leben in der modernen Welt ist so verschiedenartig, komplex und dynamisch, daß sogar eine rechtliche Struktur, die klug und wohlüberlegt geschaffen wurde, immer noch den Nöten der Gesellschaft nicht gewachsen ist.“

Der dritte Teil befaßt sich mit den Beziehungen zwischen Staaten. Fundamental wichtig erklärt hier die Friedensenzyklika: Für Beziehungen zwischen Staaten gelten dieselben sittlichen Gesetze wie zwischen Individuen. (Ein böses politisches Dogma vergangener Jahrhunderte und einer schlimmen Gegenwart wird damit aus den Angeln gehoben.) Die Enzyklika wendet sich damit entschieden gegen jeden Rassismus, jede Theorie und Praxis, die zwischen „höheren“ und „niedrigeren* Völkern unterscheiden möchte. Alle Staaten haben das gleiche Recht auf Selbstentwicklung, auf Achtung ihrer Würde: größere Staaten haben ihre „Größe“ durch größere Verantwortung in der Achtung und Hilfe für „kleinere“ Staaten darzustellen.

Seit dem 19. Jahrhundert hat die Bildung nationaler Staaten vielfach dazu geführt, daß nationale Minderheiten auf dem Boden von Staaten anderer Nationalität leben. Die Friedensenzyklika fordert den Schutz dieser Minderheiten und fordert diese Minderheiten auf, ihrerseits eine Brücke zwischen ihrem Staat und dem Nachbarstaat ihres Volkstums zu bilden.

Schließlich wendet sich die Friedensenzyklika der großen, brennenden Frage unserer Zeit zu: der Abrüstung. Klar, ohne Umschweife, erklärt sie: Durch die enormen Rüstungen werden die Völker in den hochrüstenden Ländern überbürdet mit Lasten; in anderen Ländern wird dadurch der gesellschaftliche und wirtschaftliche Fortschritt verhindert. Der Rüstungswettbewerb erfüllt die Völker mit ständiger Angst, es könne ein unvorhergesehener Vorfall den Krieg auslösen. Die Enzyklika fordert Abrüstung und Einstellung der Atomwaffenversuche.

Dazu aber muß ein neues Klima geschaffen werden. „Der wahre und haltbare Friede unter den Nationen besteht nicht im Gleichgewicht der Waffen, sondern beruht allein auf gegenseitigem Vertrauen.“

Vernunft, Vertrauen, Verhandlungen: die eine Menschheit muß sich zusammenfinden, um ihre Gegensätze und Konflikte, um ihre großen Probleme lösen zu können. Das Zeitalter der Furcht, der Ängstigung, muß ein Ende nehmen! Die wirtschaftlich unterentwickelten Völker bedürfen eben jener Mittel, die ihnen gegenwärtig durch die Rüstungen entzogen werden.

Die Friedensenzyklika des Papstes Johannes XXIII. legt in ihrem vierten Teil ein entschiedenes Bekenntnis zu den Vereinten Nationen ab, fordert deren Stärkung, deren Ausbau. Den

nicht wenigen christlichen Verächtern und Spöttern über die UNO, die ihren eigenen Defaitismus, ihren Autoritaris-mus, ihre eigene Unfähigkeit, Frieden zu denken und zu schaffen, dergestalt dokumentieren, muß dieses große „Ja“ des Papstes zu den Vereinten Nationen, zur Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, nachdrücklich vorgestellt werden. Hier, in den Vereinten Nationen, haben (so schließt dieser Teil) alle Völker Gelegenheit, sich mehr als bisher bewußt zu werden, daß sie lebende Mitglieder einer Weltgemeinschaft sind.

Der letzte Teil der Enzyklika wendet sich insbesondere an die Katholikent Diese werden aufgefordert, sich zunächst einmal zu bilden: in der Wissenschaft, in der Technik der Zeit; sie sollen sich eine Bildung erwerben, die auf der Höhe der Aufgaben unserer Zeit steht. Papst Johannes XXIII. appelliert hier an den gebildeten Laien — in einer Weise, wie es der Kardinal von Paris, Suhard, in seinem berühmten Hirtenbrief über „Aufstieg oder Niedergang der Kirche“ 1946 getan hat. Unverkennbar beseelt der Geist eines dynamischen Optimismus, der echte Fortschrittsglaube, der den jungen französischen Katholizismus um 1945 beseelt hat, auch diese Friedensenzyklika. Johannes XXIII. hat den Aufbruch damals in Paris als Nuntius miterlebt...

Der Katholik muß endlich lernen, zwischen dem Irrtum und der Person, die irrt, zu unterscheiden: Der Irrtum ist zu verurteilen, die Person verdient immer Hochschätzung ihrer Menschenwürde. Der Papst spricht hier direkt die Zukunft an: Aus diesen Begegnungen kann zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen reiche Frucht erwachsen ...

Die Friedensenzyklika schließt mit der Anrufung des Friedensfürsten: Der Fürst des Friedens möge die Lenker der Völker und alle Menschen erleuchten, so daß sie die Schranken überwinden, die sie trennen, andere verstehen lernen und jenen verzeihen, die ihnen Übles angetan haben.

Das beste Wissen der bedeutendsten, wachsten und gebildetsten Theologen in Frankreich, Belgien, Holland, Deutschland, Polen, Italien, Rom und in allen Ländern, in denen Katholiken am Wissen und der Gewissensbildung der Zeit teilnehmen, steht hinter dieser Enzyklika. Sie zeichnet sich ebenso durch Nüchternheit, Präzision wie durch geistliche Ergriffenheit aus. Lange Strecken lesen sich wie ein Auszug aus zeitgenössischen soziologischen und gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungen. Nüchtern wird da Neue, das ganz Neue einbegleitet: die entschiedene Aufforderung an Katholiken, sich in dieser Welt in die Begegnung und Zusammenarbeit m i t Nichtkatholiken und Nichtgläubigen zu wagen. Ruhig wird da festgestellt: Noch sind es wenige, die sich an diese großen Aufgaben wagen: an die Schaffung eines Friedens „in der Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit“. Diese „wenige n“ will der Papst ermutigen. Hier überschreitet er nochmals ein Schranke, die seit der Gegenreformation die Kirche in sich selbst verschlossen hat: Sie war Kleruskirche und Massenkirche geworden, ohnmächtig „oben“ und u n mächtig „unten“

Johannes XXIII. appelliert wie Kardinal Suhard 1946 an die schöpferischen einzelnen — und „an-alle“. Sein bedeutender Vorgänger, der letzte Papst des 19. Jahrhunderts, Pius XII., auf dessen Kriegsrundfunkreden sich Johannes XXIII. mehrfach beruft, hat begonnen, Fenster zu öffnen. Johannes XXIII. öffnet das Tor der Kirche: mitten in ihr, mitten in dieser Welt, bietet er sich beiden dar, den „Gläubigen“ und den „Nicht-glaubenden“: als die Verkörperung einer Einladung, in die Zukunft zu sehen und zu gehen.

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