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DER GROSSE WÄRMESPENDER

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Nichts strahlte die übergroße Menschlichkeit „Papa Ron- callis“ heller aus als seine Extemporalien, seine Stegreifreden, seine Aphorismen. Wenn Johannes XXIII. vom Text seiner offiziellen Ansprachen und Reden abwich, wenn er die gütigen, aber auch scharfbeobachtenden Augen über den Brillenrand hob, spitzten im wahrsten Sinne des Wortes alle Zuhörer, die des Italienischen mächtig sind, die Ohren. Man konnte sicher sein, daß etwas Sympathisches voller Humor, aber auch voller Demut und innerer Größe zugleich über seine Lippen sprang. In der Tat, es sprudelte dann lustig und belustigt aus seinem Munde: scherzhaft, manchmal köstlich ironisch, oft überschäumend heiter. Es waren bei solchen Gelegenheiten gewiß keine oratorischen oder literarischen Monumente — es sollten auch gar keine sein —, sondern einfache und herzliche Worte von Mensch zu Mensch.

Niemals aber wurde bei Johannes XXIII. der Zeigefinger sichtbar. Um so tiefer drangen seine Ermahnungen ein, wirkten die Belehrungen nach. Ton und Stil machten diesen Papst zum „Pfarrer der Welt“, zum Seelsorger des Universums.

Die Liebe zu den Menschen hatte bei Johannes ihre starken Wurzeln in einer priesterlichen Seele, in seiner väterlichen Hirtensorge. Den Gläubigen, den einfachen Menschen gegenüber wollte er diese Liebe aber nicht mit einer tiefschürfenden theologischen Abhandlung deuten, die sie nicht verstanden hätten. Bei einer Gelegenheit erklärte er gewohnt volkstümlich: „Ich habe weder ein Leberleiden noch bin ich nervenkrank. Mir gefällt es deshalb nun einmal, mit Menschen zusammen zu sein." Dieser für Papa Roncalli so typische Ausspruch wurde ebenso wie seine Extemporalien, seine Scherzworte und Bonmots vom vatikanischen „Osser- vatore Romano“ niemals veröffentlicht. Ebenso typisch für Johannes war, daß er sich diese Zensur durch die Redaktion des „Osservatore Romano“ gefallen ließ. Dennoch gehören seine oft bilderreichen Sprüche und die häufigen Beweise für seinen „sense of humor“ zu einer getreulichen Lebensbeschreibung. Ohne sie ist das Bild Johannes XXIII. unvollständig. Sie erst machten ihn zum populärsten Papst der Kirchengeschichte.

Das mühsame Einkleiden in die nicht maßgerechten Papstgewänder war beendet. Johannes XXIII. bestieg zum erstenmal die „Sedia gestatoria“, um sich als neuer Pontifex maxi- mus den Gläubigen zu zeigen. „Wer weiß“, raunte der Papst seinem Sekretär, der ihn zu der mittleren äußeren Loggia der Peterskirche begleitet hatte, beim Anblick der brodelnden Menschenmasse zu, „ob die mich da unten auch alle mögen, obwohl sie mich nicht gewählt haben? “

Nur wenige Wochen nach der Thronbesteigung vertraute Papst Johannes seinem Sekretär an, daß es ihm einfach nicht mehr gelinge, einmal eine Nacht ruhig durchzuschlafen. Er fühle sich zu einsam, und das raube ihm den Schlaf. Er benötige tagsüber mehr Anregung, mehr Ansprache, um nicht mit dem Gefühl des Verlassensenis einschlafen zu müssen. Der Sekretär schwieg. „Meinen Sie nicht, Capovilla, daß wir unsere braven Nönnchen aus Bergamo kommen lassen sollten?“

Die „Nönnchen“ wurden geholt. Sie sollten nicht nur den päpstlichen Haushalt versorgen, sondern auch für den engeren Hofstaat kochen. Sie kannten den Geschmack des Papstes: einfach, aber würzig. Außerdem erfüllte nunmehr ihr breiter bergamasker Dialekt den Apostolischen Papst, womit dem Papst gleichsam auch die vermißte Ansprache geboten ward.

Einen Tag nach seiner Wahl zum römischen Pontifex mußte Johannes XXIII. viele Schriftstücke und Urkunden unterzeichnen. Bevor er jedoch zum erstenmal seinen Papstnamen schrieb, übte er auf Schmierbogen, wie es neuernannte Prokuristen auch zu tun pflegen. Natürlich nicht vor der Belegschaft. Auch Johannes warf erst einmal in seinem Arbeitszimmer allein für sich den erforderlichen lateinischen Namenszug schmissig aufs Papier. Es dauerte nicht lange und er war mit seinen Versuchen zufrieden. Gerade war das erste amtliche Dokument unterfertigt, als ihm Staatssekretär Tardini gemeldet wurde. Erfreut über den klaren Schriftzug mit einem graphologisch musterhaft schwungvollen Fundamentstrich darunter, zeigte er Tardini sein Werk. Beide schauten nun auf das Blatt und lasen: Johannes XXIII. PP (Papa Pontifex). Der Papst wies auf die beiden Buchstaben PP und murmelte anerkennend, gar bewundernd zu dem verblüfft dreinschauenden Kardinalstaatssekretär: „Partito Popolare.“

Im Grunde seines Herzens war dem aus so bescheidenen Elternhaus stammenden Papa Roncalli jeder Pomp abhold. Nur bei wirklich feierlichen Anlässen benutzte er beispielsweise die Sedia gestatoria, den Tragthron der Päpste. Die „Sediari“, das sind die zwölf in Scharlachsamt und -seide gekleideten „Sänftenträger“ des Papstes, hatten bei Johannes XXIII. seltener anzutreten als bei Pius XII. Oft stieg Johannes zu Fuß in die Peterskirche hinab.

Sein soziales Gefühl führte ihn immer wieder zu den Notleidenden, zu den Armen. Immer kümmerte er sich um das Wohl der anderen. So konnte es auch nicht ausbleiben, daß er sich eines Tages, bald nach seiner Krönung zum Papst, nachdem die „Sediari“ schon einige Male ihres Amtes gewaltet hatten, nach der Gehaltshöhe der Träger erkundigte. Die „Päpstliche Familie“, der Hofstaat, war verblüfft, denn diese Form der Anteilnahme hatte das gerade abgelaufene Pontifikat nicht eben überliefert. „Wozu erkundigt sich der Heilige Vater wohl nach einer solchen bazzecola“ (Kleinigkeit), wurde er von einem Würdenträger untertänigst gefragt. Johannes XXIII. schaute an sich herunter, blickte dann sekundenlang in die Ferne — er mochte die ätherische Gestalt seines Vorgängers vor sich sehen — und erklärte wohlwollend: „Die sollen eine Zulage für päpstliches Übergewicht bekommen.“

Als Nuntius in Paris kam Exzellenz Roncalli bei einem Galadiner, seinem Rang entsprechend, rechts von der Gastgeberin zu sitzen. Es war die Gattin eines südamerikanischen Botschafters. Wer es noch nicht wußte, hatte zumindest an diesem Abend — sofern er glücklicher Augen- und Ohrenzeuge war — erkannt, daß Monsignore Roncalli nicht in Verlegenheit zu bringen war. Die hübsche Hausfrau trug ein traumhaft schönes, tief ausgeschnittenes Dior-Kleid. Vielleicht wär allenfalls ihr Dekollete nicht ganz der Würde ihres Tischherrn angepaßt. Fast waren ihre üppigen Formen wie bei Andrea Solarios „Madonna mit dem grünen Kissen“ zu bewundern, freilich nicht in so hehrer Mütterlichkeit.

Der Tafelrunde hatte sich eine gewisse „Gene“ mitgeteilt. Voller Beklemmung schauten die Gäste unentwegt auf den päpstlichen Nuntius. Eine rechte Tischunterhaltung wollte und wollte nicht aufkommen. Gerade war man beim Hauptgang angelangt, da durchbrach Exzellenz Roncalli, befreiend für alle, besonders aber für die Dame des Hauses, die peinliche Stille. Mit großem Heiterkeitserfolg rief er aus: „Ich weiß gar nicht, warum alle Gäste immer nur auf mich schauen, auf mich, einen armen alten Sünder, wo doch meine Nachbarin, unsere charmante Gastgeberin, so viel jünger und attraktiver ist “

Patriarch Roncalli hat die Lagunen von Venedig häufig befahren. Ebensooft durchwanderte er die engen Gassen, um im ständigen Kontakt mit den Gläubigen zu sein. Wie ein einfacher Priester ging er gekleidet, ohne die äußeren Merkmale seiner hohen Würde. Gern unterhielt er sich mit den Menschen, und es war ihm durchaus recht, von Bekannten und Unbekannten angesprochen zu werden. Bevorzugte Gesprächspartner waren die Gondolieri. Zu ihnen setzte er sich, wenn sie in Gruppen irgendwo herumhockten und auf Kundschaft warteten. Für die Sprache des Volkes hatte sich dieser Kirchenmann ein gutes Gehör bewahrt. Es blieb nicht aus, daß dem Patriarchen bei seinen Spaziergängen auch Geistliche begegneten. War darunter gar einmal ein Unrasierter, so pflegte Roncalli ganz genau die Anschrift seines Untergebenen zu erfragen und schickte ihm anderntags mit einem freundlichen Gruß auf der Visitenkarte einen Rasierapparat. Einen anderen jungen Priester hielt er an, weil dessen Kragen — milde gesagt — dunkelweiß war. „Lieber Herr Kaplan“, sagte fröhlich lächelnd der Patriarch, „ich habe in meiner Wohnung ein ganzes Dutzend schneeweißer Kragen, die mir zu eng geworden sind. Wenn Sie erlauben, mache ich Sie Ihnen zum Geschenk.“

„Ich stamme aus einer armen Familie “ Diese Gesprächseröffnung gebrauchte Johannes besonders häufig, am liebsten jedoch, wenn jemand mit seiner hohen Herkunft oder seinem Vermögen versteckt oder offen zu prahlen versuchte. Eingedenk der kirchlichen Tradition, bei der Heranbildung der Priester nicht darauf zu achten, ob ein Seminarist aus fürstlichem Haus kommt, ob er arme oder reiche Eltern hat, unterstrich Papst Roncalli damit auch immer wieder die Gleichheit aller vor Gott. Beim Betonen der Tatsache, daß seine eigenen Eltern nur kleine Winzer waren, schwang nie Bitterkeit in seinen Worten mit.

Ein Politiker klagte dem Papst bei einer Privataudienz, die verlorene Wahl seiner Partei sei für ihn der Ruin. „Nein, nein“, ermunterte der Papst den Politiker, „lassen Sie sich vom Erfolg Ihrer Widersacher nicht entmutigen. In der Politik geht es immer auf und ab. Es gibt nur drei Arten, sich zu ruinieren: die Frauen, das Spiel und — die Landwirtschaft. Mein Vater hat sich von den drei Arten übrigens die langweiligste ausgesucht.“

Unter den vielen Soldatengruppen, die Papst Johannes im Vatikan und im Castelgandolfo empfangen hat, war auch eine Abordnung französischer Fallschirmjäger. Der Papst rühmte den Mut dieser Truppe und sagte dann, ihm sei der Konflikt erspart geblieben, zu entscheiden, ob er Infanterist oder Fallschirmjäger werden sollte, weil es im ersten Weltkrieg noch keine „Paras“ gegeben habe. Hochaufgerichtet und stolz standen die Männer vor Johannes, denn sie freuten sich über das päpstliche Lob. Unmerklich floß sodann die Roncalli-Ermahnung in das Gespräch ein. Am Ende wußten die Fallschirmjäger aus Frankreich, daß der beim Militär eingerichtete Kirchgang dem Papst mehr gefiel als ihr Draufgängertum. Papst Johannes drückte sich so aus: „Während ihr so eifrig darauf bedacht seid, getreu nach der Ausbildungsvorschrift vom Himmel zu fallen, möchte ich doch nicht, daß ihr dabei am Ende vergeßt, wie ihr hinaufkommt.“

Uralte, verwitterte Steineichen flankieren den Spazierweg im oberen Teil der Vatikangärten, den Papst Pius XII. bevorzugt benutzte. Unweit davon befindet sich eine mit dichten Laubbäumen umstandene, künstlerisch behauene Travertinbank, über der die Baumkronen eine schützende Kuppel bilden.

Johannes XXIII. weilte gern an diesem erholsamen Gartenplatz „all’italiana“ im Stil des 16. Jahrhunderts. Ganz in der Nähe steht eine Miniaturnachbildung der wundersamen Grotte von Lourdes, die Leo XIII. von französischen Gläubigen für die vatikanischen Gärten geschenkt worden war. Bis zu dieser einladenden Bank wurde Johannes XXIII. eines Tages von einem eminenten Besucher aus Kanada begleitet. Der Papst hatte ihn zu einem Spaziergang aufgefordert. Plötzlich fragte der Besucher in die Stille hinein, nur so, um das schon lange währende Schweigen zu brechen: „Heiliger Vater, wie viele Menschen arbeiten eigentlich im Vatikan?“ Papa Roncalli, einem anregenden Gespräch sonst über alles zugetan, antwortete: „Die Hälfte.“

Besucher hatten Johannes oft ehrfurchtsvoll oder einfach neugierig gefragt, welche Bewandtnis es mit seiner „Ostpolitik“ habe. Viele begnügten sich nicht mit der Antwort, daß sich ein Umdenken bei Politikern nicht befehlen lasse. Einem besonders insistierenden Diplomaten gab er schließlich ruhig-verhalten zur Antwort: „Solange es mir vergönnt ist, ziehe ich es vor, mehr Wärmespender als Kälteträger zu sein.“

Selten hat ein Papst so wenig an materiellem Hab und Gut zu hinterlassen gehabt wie Johannes XXIII. Ein recht kleines Vermögen hatte er früher einmal lediglich dazu angesammelt, um seiner Familie endlich das Haus zurückzukaufen, in dem er und seine Brüder geboren worden waren. Die Verwandten des Papstes können seit dem Kauf wieder' unter einem eigenen Dach leben. Ursprünglich hatte das Elternhaus der Roncalli-Sippe gehört, doch ging es in den Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs verloren. Dem Erzbischof von Wien, Kardinal König, vermachte der Papst sein Brustkreuz. Der Kardinal wird es nur bei besonderen Anlässen tragen.

Aus dem Buch: Ein Papst lacht. Die gesammelten Anekdoten um Johannes XXIII., gesammelt von Kurt Klinger. Verlag Heinrich Scheffler, Frankfurt am Main.

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