"Roncalli, Angelo - lebst du oder bist du tot?“

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Vor fünfzig Jahren verstarb Johannes XXIII. Erinnerungen an bewegende Zeiten. Aber der Konzilspapst steht gerade hinter Franziskus, seinem fünften Nachfolger.

Dreimal klopft der Camerlengo, Kardinal Eugen Tisserant, nach altem Zeremoniell mit einem goldenen Hämmerchen auf die Stirn des soeben verstorbenen Papstes. Dreimal fragt er: Roncalli Angelo, sei tu vivo o morto? - Lebst du noch oder bist du tot?

Es ist Pfingstmontag, der 3. Juni 1963, kurz vor acht Uhr abends. Als im "Fenster des Angelus“ das Licht angeht, wissen auch die hunderttausend Menschen, die auf dem Petersplatz einer Messe für den Sterbenden beigewohnt hatten: Jetzt ist er tot. Sein ganz persönlicher "Beitrag zum Konzil“, wie er sein absehbares Todesleiden einmal genannt hatte, ist auf den Altar gelegt.

Giacomo Manzù, l‘artista di Papa, der Künstler des Papstes, wie sich der bekennende Kommunist stolz nannte, tut den letzten und schmerzlichsten Liebesdienst und nimmt dem Freund ("ich habe ihn geliebt wie einen Vater“) die Totenmaske ab. Aber nicht nur vom Gesicht, sondern auch von der durch unzählige Infusionsnadelstiche geschwollenen Hand. Auch die Hand gehört zum Porträt dieses Menschen. Sie war immer dabei, segnend und mit lebhaften Gesten seine Lieblingsworte unterstreichend: Vogliamoci bene! - geben wir gut aufeinander acht! - il resto verrà da se - alles Übrige kommt von selbst!“

Und Friede auf Erden …

Es ist dieselbe Hand, die sieben Wochen davor die Enzyklika "Pacem in terris“ unterschrieben hatte. Diese vielleicht wichtigste Friedensbotschaft des 20. Jahrhunderts, adressiert an "alle Menschen guten Willens“, ist heute so gültig wie vor fünfzig Jahren, wenn man sie in ihrem succo vitale, in ihrem lebendigen Geist, erfasst hat. Während Johannes Paul II. vor zehn Jahren seine Botschaft zum Weltfriedenstag dieser Enzyklika widmete und sie als eine "bleibende Aufgabe“ würdigte, fanden heuer - zum 50. Jahrestag! - kaum vergleichbare Erinnerungsimpulse statt. Der vierzigste Jahrestag der Veröffentlichung war für Johannes Paul II. "eine höchst willkommene Gelegenheit, um die prophetische Lehraussage Papst Johannes‘ XXIII. neu zu beherzigen.“ Er schlägt den christlichen Gemeinschaften vor, dieses Jubiläum "mit Initiativen, die durchaus ökumenischen und interreligiösen Charakter haben können“ zu begehen und "indem sie sich allen öffnen, die sich zutiefst danach sehnen, die Schranken zu zerbrechen, die die einen von den anderen trennen.“

Als für Johannes XXIII. das irdische Ende nahte, "rückte er auf die Seite der Propheten“, wie es einer seiner Biografen ausgedrückt hat. Johannes diktiert zehn Tage vor seinem Tod sein Vermächtnis und nimmt seine Kirche in prägnanten vierundzwanzig Zeilen in die Pflicht, "dem Menschen als solchem zu dienen und nicht nur dem Katholiken; vor allem und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen.“ In der Perspektive dieses letzten Willens sind viele der bahnbrechenden Äußerungen des Konzils zu verstehen.

Übrigens: wer der naheliegenden Versuchung nachgibt, im "neuen“ Papst Franziskus etwas vom Geist des "alten“ Johannes XXIII. zu suchen, wird so leicht fündig wie ein glücklicher Schwammerlsucher nach einem erquickenden Sommerregen. Man erinnere sich nur an die Äußerungen von Papst Franziskus, die Kirche müsse "an die Randgebiete menschlichen Daseins gehen“, - und man stelle einen überlieferten Dialog des Roncalli-Papstes mit seinem Staatssekretär Domenico Tardini daneben: "Sie kennen das Zentrum viel besser als ich“, sagte der frischgewählte Roncalli zu ihm, "aber ich kenne die Peripherie viel besser als Sie - also: arbeiten wir zusammen.“ Und mit Peripherie meinte Johannes XXIII. nicht nur den Osten Europas, wo er zwanzig Jahre diplomatischen Dienst versehen und seine Person demütig "unter die Schuhsohlen getreten“ hatte - und bemerkte einmal sarkastisch: "In Rom gibt es so viele Leute, die niemals etwas anderes als Rom gesehen haben!“

Was mit Roncallis "Peripherie“ auch gemeint ist, zeigt die "Botschaft der Konzilsväter an die Welt“, die - wenige Tage nach Konzilsbeginn und ausgehend von einer kleinen Gruppe - die Intention "ihres“ Konzilspapstes stützen und verstärken wollte: "Alle Lebensangst, die die Menschen quält, brennt uns auf der Seele. Unsere erste Sorge eilt deshalb zu den Schlichten, zu den Armen und Schwachen.“ Das ist Johannes. So steht der Konzilspapst hinter Franziskus, seinem fünften Nachfolger, dem eine Kirche, die sich "an den Rändern“ verletzt, lieber ist als eine Kirche, die "krank wird“ an der eigenen dumpfen Stubenluft.

Roncallis Charisma hat sich genährt aus den Quellen kirchlicher Tradition. Diese Quellen, und zu allererst das Evangelium, müssen jederzeit neu erschlossen werden, damit sie der Kirche, dem "blühenden Garten“, lebensspendende Bewässerung seien. Von einem Bischof forderte er, "ein öffentlicher Brunnen“ zu sein, und er war es in der Tat selber. Er hat die Wasser dieser Quellen fast vierzig Jahre lang in ungezählten Predigten, Ansprachen und Botschaften verteilt. Um im Bild zu bleiben, könnte man sagen, Roncalli war in seiner Beschaffenheit eher ein verlässlicher Dorfbrunnen. Kunstvolle Wasserspiele hatte er nicht zu bieten. Sein Leben war "wie aus einem Guss“. In einer späten Eintragung im Geistlichen Tagebuch liest man: "Ich möchte nicht wieder von vorne beginnen, um es besser zu machen. Ich vertraue vielmehr der Barmherzigkeit des Herrn alles an, was ich bisher mehr oder minder gut in meinem Leben vollbracht habe. Ich sehe der Zukunft entgegen. Gott sieht ja nicht auf die Vielzahl der Handlungen, sondern darauf, wie ich sie vollbringe. Er fordert das Herz und nichts anderes.“

Johannes XXIII. war "überaus altmodisch und höchst modern zugleich, doch wo er spricht oder eingreift, wird man wissen, dass es nötig war“ (Mario von Galli). Von Papst Franziskus ist ähnliches zu erwarten. "Konservativ“ und "fortschrittlich“ sind keine tauglichen Kategorien, wenn es darum geht, "die Substanz des menschlichen und christlichen Denkens … wieder zur Geltung und zum Leuchten zu bringen“, wie es der Roncalli-Papst einmal formuliert hat.

Der Rückfall der jüngsten Papstwahl

In seinem lebenslangen Bemühen, dem Willen Gottes zu gehorchen, zweifelte Roncalli nicht an der Richtigkeit seiner Entscheidungen. Dennoch fragte er einmal während der Tage des Abschiednehmens: "Ob man wohl nach mir alles anders machen wird?“ Am Donnerstag vor Pfingsten empfing er die Krankensalbung. Dann Worte des Dankes und der Erinnerung an jeden Einzelnen der Anwesenden. So sagte er zu Loris Capovilla, seinem getreuen Sekretär: "Wir haben der Kirche gedient ohne stehen zu bleiben - und ohne die Steine, die man uns manchmal in den Weg gelegt hat, aufzuheben und zurückzuwerfen.“

Johannes XXIII. war eine Lichtgestalt. Dass er - vor allem während des Pontifikats - oft sehr einsam war, ließ ihn nicht verbittert werden. Trost waren ihm die Menschen, denen er pastor et pater - Hirte und Vater - sein wollte. "Die Kirche wird fünfzig Jahre brauchen, um sich von den Irrwegen Johannes’ XXIII. zu erholen“, soll der einflussreiche Kardinal Siri damals, nach Ankündigung des Konzils durch Johannes, gesagt haben. Ein Rückfall! - so würde er vielleicht heute die Wahl des neuen Papstes kommentieren, noch dazu just im fünfzigsten Jahr des Todesgedenkens von Roncalli. - Sei tu morto, Angelo? Speriamo: vivo!

Der Autor, langjähriger Leiter der Religionsabteilung im ORF-Radio, ist freier Publizist

Ruhig und froh lebe ich weiter

Älter werden mit Johannes XXIII.

Von Hubert Gaisbauer, Dom-Verlag 2011

256 S., geb., € 22,50

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