Das Geheimnis Roncalli

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Dass Johannes XXIII. noch immer - und manchmal nicht ganz ohne Absicht - im Grunde missverstanden wird, daran wird auch seine Heiligsprechung in wenigen Tagen nichts ändern. Man wird ihn allzu oft weiterhin als den gütigen und frommen Priester darstellen, der sich aufgrund der Schlichtheit seines Gemütes der Tragweite mancher seiner Entscheidungen - etwa der Einberufung eines Konzils - gar nicht ganz bewusst gewesen sei. "È una buona pasta“, schrieb schon sein Rektor in das Beurteilungsschreiben an die Leitung des Römischen Seminars San Apollinare, wo der junge Roncalli als Stipendiat einziehen durfte.

Es sollte sich herausstellen, dass der "gute Teig“ eine recht gesunde Substanz und beachtliche Zähigkeit aufweisen wird. Sechzig Jahre später machte Giacomo Lercaro, der Erzbischof von Bologna, aus seinem Unmut kein Hehl, als der neue Papst ein Konzil ankündigte: "Wie kann er es wagen, nach einhundert Jahren und nur drei Monate nach seiner Wahl, ein Konzil einzuberufen?“, wettert er. "Seine Unerfahrenheit und sein Mangel an Bildung führten ihn zu diesem Schritt, zu diesem Paradoxon. Es wird das ganze Gebäude seiner angeblichen moralischen und theologischen Tugenden zusammenstürzen lassen.“ Harte Worte. Doch Lercaro wird sich als einer der engagiertesten Konzilsväter erweisen. 1965 übt er mit einem Aufsehen erregenden Vortrag tätige Reue.

Wider erbauliche Glorifizierung

Roncalli, so sagt er, "war ein Mann von außerordentlichem Wissen und wacher Erfahrung, die er sich geduldig und beharrlich … erworben hatte … Seine Kultur war geformt durch sein ausdauerndes Sichauseinandersetzen und eine absolute Treue.“ Vehement tritt Lercaro bereits 1965 der Gefahr entgegen, dass man sich einmal "mit einer erbaulichen Glorifizierung“ zufrieden geben und damit der prophetischen Wirkkraft seines Pontifikats den lebendigen Saft entziehen könnte. Lercaro hat auch erkannt, dass der liebenswürdige "pacioccone“, wie die Italiener einen gutmütigen Menschen nennen, nicht nur während der zwanzig Jahre des diplomatischen Dienstes in Bulgarien "am Rande Europas“ sich allein gelassen fühlte, sondern auch während der letzten viereinhalb Jahre seines Lebens, im Vatikan, "im Herzen der Kirche“, der er doch ein so lebensnotwendiger Schrittmacher geworden war. "Warum und wie sehr haben wir alle ihn allein gelassen?“, fragt Lercaro, "wo liegen die Ursachen seiner großen Einsamkeit inmitten der kirchlichen Institutionen?“ Eine Frage, die sich heute - so ist zu hoffen - in Hinblick auf Papst Franziskus nicht wieder stellen wird.

Könnte man Giuseppe Alberigo, den großen Konzilshistoriker noch fragen, warum denn dieser Papst Johannes nun wirklich zu den kanonisierten "Heiligen“ gezählt werden soll, würde er wahrscheinlich mit einem Zitat aus seiner Roncalli-Biographie antworten: "Weil dieser Bauernbub aus Sotto il Monte dem Papstamt wieder ein Gesicht gegeben hat, wie es dem Evangelium entspricht, das deshalb auch ein echt menschliches Gesicht war - und weil er dem Glauben so vieler Menschen neue Nahrung zu geben vermochte.“

Dieser Brotvermehrung des Glaubens braucht kein übernatürliches Wunder an die Seite gestellt zu werden, um Roncallis "Heiligkeit“ zu bestätigen. Es wäre auch ganz und gar "unroncallisch“. Alfredo Maria Cavagna, der Beichtvater von Johannes XXIII., zeichnete in der Erinnerung ein sehr nüchternes geistliches Profil des Papstes: "Alles an ihm war einfach, spontan, natürlich. Nichts an ihm war schwärmerisch. Der Herr hat ihn auch nicht mit besonderen mystischen Gaben ausgestattet.“

Worin Roncalli Trost fand und woran er sich zeitlebens aufgerichtet hatte, war das abgegriffene Exemplar der "Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen aus dem Jahr 1745, das einst seinem Taufpriesters Don Rebuzzini gehört hatte. Diese handfesten Anleitungen zum geistlichen Leben, die dem "Konzilspapst“ so wichtig und lieb waren, wirken heute vor dem Hintergrund der zahllosen Konzepte humanistischer Psychologie völlig unzumutbar. Aber Johannes XXIII. hat daraus den lebendigen Saft (succo vitale) seiner menschenfreundlichen Frömmigkeit zu destillieren vermocht, sogar seine epochale und eminent politische Enzyklika "Pacem in terris“ wäre, so bezeugt er selber, heftig vom Geist dieses "köstlichen Schatzes“ inspiriert.

Die Erscheinung von Johannes XXIII. wird vielfach als theologischer und kirchenpolitischer Widerspruch wahrgenommen. Er lebte aus der Tradition und eröffnete seiner Kirche gleichzeitig einen neuen Weg in die Zukunft. War sein authentisches Mensch- und Christsein sein "Geheimnis“? Immer wieder hat man versucht, seinem inneren Profil auf die Spur zu kommen und es nachzuzeichnen.

Parallelen zu Papst Franziskus

1961 schreibt einer, der es wissen musste, weil er Roncalli sehr gut kannte, der inspirierte Priester und Publizist Giuseppe de Luca (man darf ihn sogar einen Freund und Ratgeber des Papstes nennen): "Ich gehöre nicht zu denen, die finden, er [Roncalli] sei ein leicht zugänglicher Mensch, leutselig, fügsam (…). Im Gegenteil. Er weiß genau, was er will; er sagt es nicht, und er trägt niemandem auf, es zu sagen. Da kommt er selbst: er lächelt, er scherzt, aber sein Geheimnis bleibt bei ihm selbst. Eine geschlossene Tür - und dahinter sein Gebet, seine Seele.“ Wenn de Luca seinem Freund Johannes XXIII. "weniger ein Gefühl für die Theologie und das kanonische Recht als für die Predigt und für das Wirken unter den Menschen“ zuschreibt, so erinnert das - wie manches andere - verblüffend an den gegenwärtigen Papst Franziskus. "Aus seiner bergamaskischen Tradition hat er jene Fähigkeit hergeleitet, die ihm eigen ist: in den Bewegungen des jetzigen Augenblicks gegenwärtig zu sein, voller Spannung und Kraft: kräftig, falls er es will, bis zur höchst drastischen und zu der am wenigsten vermuteten Intervention.“

Loris Capovilla, der nunmehr 98-jährige Kardinal und ehemalige Sekretär, betonte bereits ein Jahr nach dem Tod von Johannes XXIII. in der Einleitung zum "Geistlichen Tagebuch“, was vielen Menschen - bei aller Bewunderung - auch heute noch immer ein Rätsel ist, und manchen sogar ein Ärgernis: "Seine ständige Demut vor Gott und sein klares, so bestürzend klares Bewusstsein seines eigenen Wertes vor den Menschen.“

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