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Die Audienz

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Unter Vorantritt des ersten Maestro di Camera betritt die weiße Gestalt des elften Pius den Audienzsaal. Das schwarze, rote und violette Gefolge hinter ihm bleibt zurück und verschwimmt. Die Füße des Papstes in den roten, mit einqm goldenen Kreuz gezierten Maroquin-schuhen bewegen sich langsam, stockend. Pius XI.' ist schon alt und krank und jeder Schritt kostet den Kranken sichtbare Selbstüberwindung. Sein Antlitz ist beinahe so bleich wie sein Kleid. Nur die Haare an den Schläfen, die unter dem Gipfelschnee des Käppchens hervorhängen, sind noch auffällig schwarz. Die goldeingefaßte Brille funkelt stark unter den beiden mächtigen Buckeln der Stirn, zwischen denen eine Schlucht schwermütiger Gedanken dämmert. Manchmal durchdringt sein Blick das Funkeln der Gläser. Es ist ein stolzer, prüfender und gescheiter Blick, hinter dem jener wache Humor lauert, mit welchem sehr seelenstarke Leidende ihren eigenen Schmerz ironisieren. Die schmalen, ein wenig zusammengekniffenen Lippen mit den abwärtsstrebenden Mundwinkeln ironisieren aber den Schmerz nicht, sondern geben ihn preis. Bei jedem dritten Atemzuge öffnen sie sich zu einem asthmatischen Luftschnappen. Dies ist das wohlgebildete Gesicht des achtzigjährigen Pius, das aber weniger alt wirkt als erschöpft durch Leiden und Schlaflosigkeit. Der Körper in der weißen Soutane ist nicht mager, sondern abgemagert, Die breite Gürtelschärpe aus cremefarbenem Moire — neben dem Juwelenkreuz die einzige Nuancierung des Papstgewandes — verhüllt deutlich die zusammengeschmolzene Behäbigkeit.

Abseits von dem hohen Gefolge steht Giovanni Malvestiti, der Kammerdiener Seiner Heiligkeit in Frack und Escarpins, eine hochwichtige Person, der die irdische Existenz des elften Pius fast völlig anvertraut ist. In vorgeneigter Haltung beobachtet Malvestiti scharf seinen Herrn, als sei er jeden Augenblick bereit, herbeizuspringen und den Sterbenden in seinen Armen aufzufangen.

Pius besteigt heute nicht seinen Thron w— es wäre eine überflüssige Strapaze —, sondern macht unter der ersten Stufe halt. Er steht da, eine weiße Vertiefung 0er Totenstille. Seine Züge sind erstarrt. Seine Augen fallen zu. Er muß vor allem einen großen Vorrat von Atem sammeln und sich mit Stärke über den wüsten Schmerz in seinen Beinen erheben. M.t beiden Händen umkrampft er die dünne Goldkette des großen Juwelenkreuzes, das er auf der Brust trägt. Es ist eine gewohnte Geste, die jede Ansprache einleitet. Heute aber scheint er sich an dieser dünnen Kette, seinem einzigen Halt, festzuklammern. Ein matter Blick durch die halbgeschlossenen Lider auf die regungslose Pilgerschar zu seinen Füßen.

Wer sind diese? Woher kommen sie? Eine Weile noch Geduld, bitte! Der Weg vom Arbeitszimmer hieher war äußerst lang. Erst muß das arhythmische Herz und mit ihm die arhythmischen Gedanken in Ordnung kommen. Diese Gedanken aber spielen allerlei Streiche. Da ist gleich diese Geschichte mit dem Rasierapparat. Pius hatte ihn einst von seiner Schwester Donna Emilia geschenkt erhalten. Gewohnt, sich selbst mit dem nackten Messer zu rasieren, mußte er nur während der langen Bettlägerigkeit davon eine Ausnahme machen und seine Wangen einem Barbier preisgeben. Doktor Milani, der Leibarzt, hatte darauf bestanden. Jetzt aber war er ja wieder genesen. Ein Papst durfte nicht krank sein. Ein kranker Papst, das ist ein Widerspruch in sich selbst, das ist kein Schicksalsschlag, sondern eine Art von mutwilligem Verstoß, unter dem die ganze Kirche zu leiden hat. Seine Genesung ist urbi et orbi verkündet worden. Also fort mit den Regellosigkeiten und Verhätschelungen! Der Barbier wurde zur Erhärtung dessen abbestellt. Und heute hatte sich Pius wieder selbst rasiert, zum Schrecken Milanis und Malvestitis. Da er aber seinen ermatteten Händen noch nicht traute, wurde anstatt des nackten Messers das Geschenk der Schwester zum erstenmal in Gebrauch genommen. Was für ein kompliziertes Ding, solch ein netter, kleiner, goldener Rasierapparat! Von fünf bis sechs Uhr morgens hat sich Seine Heiligkeit mit dem komplizierten Ding abgeplagt, vor seinem kleinen Spiegel und dem armseligen Schälchen mit kaltem Wasser. Er hatte sich dreimal geschnitten, einmal in die Wange, einmal in die Oberlippe und einmal sogar in den Zeigefinger. Und nachher war er erschöpft gewesen wie am Abend nach der Heiligsprechung der lieben Therese von Lisieux. Als dann Malvestiti um sechs Uhr wie alltäglich ins Zimmer trat, hatte Pius nur zum Schein in seinem Brevier gelesen, in Wirklichkeit aber den schrecklichen Lufthunger kaum verbergen können. Wie schwer war ihm das Ankleiden gefallen, nachdem er seine ganzen Kräfte bereits an diesem Rasierapparat verausgabt hatte, mit dem er leider noch nicht gut umzugehen verstand. Die päpstliche Toilette, das ist auch keine Kleinigkeit. Da sind zuerst die weißen engen Seidenstrümpfe mit den goldgestickten Strumpfbändern. Von diesen Strumpfbändern kann man leider nicht absehen. Sie brennen überm Knie wie das höllische Feuer und sind gewiß der neugewonnenen Gesundheit gar nicht zuträglich. Aber den Doktor hat er trotz allem ganz gut zum Narren gehalten. Milani tritt ein, kniet hin. Er reicht ihm den Ring zum Kuß und gibt den Segen. Damit ist die ärztliche Visite zu Ende, ehe Milani den Mund öffnen durfte. Nicht einmal ein kleiner Scherz war nötig wie damals auf dem Höhepunkt der nun endgültig überwundenen Krankheit, als Milani ein ärztliches Konsilium berufen wollte und er, der kranke Papst, sich's mit der ruhigen Bemerkung verbat, ein einziger Doktor genüge vollauf, um einen einzelnen Patienten umzubringen. Was für ein ehrfürchtigsaures Lachen auf den Zügen des guten Milani. Es ist nicht Milanis und nicht seine eigene Schuld, daß er nun wieder herumgehen und seine geistlichen Kinder empfangen kann. (Nur nicht im Rollstuhl fahren müssen! Von der Sedia gestatoria in den Rollstuhl, welch eine widerwärtig lächerliche Vorstellung!) Wie oft hatte er dem Herrgott sein Leben als Opfer angeboten in all diesen Tagen. Er weiß aber genau, daß dies kein übermäßig loyales Angebot bedeutet, das Leben eines Achtzigjährigen, der an Herzasthma und sklerotischen Veränderungen in den Beinen leidet. In der hohen vatikanischen Aristokratie erzählen sich die alten Damen, daß die heilige Therese von Lisieux, an die er sich so gern im Gebet wendet, die Heilung auf ihn herabgefleht und damit ein neues Wunder vollbracht habe. Nun, nun, die gute liebe Heilige hätte dadurch weder ihm selbst gedient, noch den Interessen der Kirche. In diesen Zeitläuften der satanischesten Irrlehren seit den großen Konzilien gehört ein Riese in den Vatikan, der nur drei Stunden schläft und die übrigen dreimal sieben Stunden arbeitet, arbeitet, arbeitet. Ein großer Papst müßte zornig sein und wie ei-\ eingesperrtes Gewitter in seiner Bibliothek hausen, stündlich bereit, mit Blitz und Donner dreinzufahren. Er aber ist kein Zorniger. Er hat immer wieder behauptet, etwas wirklich Neues könne sich gar nicht ereignen, und alles lasse sich an Präzedenzfällen messen. Er hat immer wieder geglaubt, die Menschen seien nicht halb so böse wie ihre Taten. Nun aber, in diesen letzten Jahren sind die Taten der Menschen so böse geworden, daß für ihre eigene Bosheit kein Maß mehr hinreicht. Ein großer Papst müßte die Geschichte und die Tagespolitik von siebzig Nationen beherrsdien bis in die feinste Einzelheit. Er müßte das Seelenleben des geringsten mexikanischen Kulis ebenso vollinhaltlich in sich umschließen wie das des Herzogs von Alba, wahrhaftig die Seele jedes einzelnen Menschen in der Welt, präzis, in unzähligen Sprachen, in unzähligen Lebensformen. Nur dann könnte es ihm gelingen, die einzelnen unsterblichen Seelen wieder aus der abscheulich klebrigen Verpackung herauszulösen, aus dem Zustand der tierischen Massen-haftigkeit, in welche sie die Proletarisierung und die modernen politischen Theorien zusammengedrückt haben. Nur dann könnte er, Pius, wirklich sein, was er zu sein hat: der große konzentrische Kreis des Weltgewissens, der all die zahllosen kleineren Lebenskreise in strenger Liebe umfängt und versöhnt. Was aber ist er, Pius? Ein schlecht geflicktes Wrack. Was sind die wichtigsten Fragen für ihn? Seine Strumpfbänder oder die Treppen zur Bibliothek hinab oder der lange Weg in die Halle der Konsistorien. Woran scheitert Pius heute? An einem vergoldeten Rasierapparat, mit dem er sich nicht auskennt und der ihm die Kraft eines ganzen Tages fortnimmt. Damit ist der Zickzack der Gedanken schnell wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt.

Seine Heiligkeit richtet sich ein wenig ätif, schöpft mehrmals Atem, tritt auf den knienden Monsignore zu und reicht ihm den Fischerring zum Kuß. Der Prälat, der vor Erregung seine Farbe verloren hat, stammelt eine kurze Ansprache, in welcher er dem Heiligen Vater seine treuen österreichischen Söhne und Töchter vorstellt. Aus den Zügen des Papstes weicht jede Müdigkeit, sie werden auf einmal straff und transparent von einem innerlichen Leuchten. Pius spricht mit einer klaren, warmen, etwas skandierenden Stimme ein sehr langsames Deutsch, das durch den italienischen Tonfall aufs schönste zugeschliffen ist.

„Unser sorgenerfülltes Vaterherz“, beginnt er wörtlich, „wollte es nicht zulassen, daß die österreichischen Pilger von Rom nach Hause fahren, ohne uns gesehen und begrüßt zu haben.“

(Aus dem Roman „Der veruntreute Himmel“ mit Bewilligung des Bermann-Fischer-Ver-lages, Wien.)

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