Das Gegenteil eines Idols

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Johannes XXIII. (1958-63) war ein Christ, der sich in der Gegenwart Gottes ebenso sicher bewegte wie ein Mensch in den Gassen seiner Heimatstadt.

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Johannes XXIII. (1958-63) war ein Christ, der sich in der Gegenwart Gottes ebenso sicher bewegte wie ein Mensch in den Gassen seiner Heimatstadt.

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Zum Schwerpunkt: Zwei selige Päpste Fünf neue Selige wird Papst Johannes Paul II. am 3. September in Rom proklamieren. Drei dieser Seligen, der irisch-französische Benediktinerabt Columba J. Marmion (1858-1923), der Gründer der Marianisten, Guillaume Joseph Chaminade (1761-1850), und der italienische Erzbischof Tommaso Reggio, sind hierzulande wenig bekannt. Umso mehr bleiben die beiden Päpste, die nun selig gesprochen werden, im Gespräch: Johannes XXIII. und Pius IX. gelten auch als Symbolgestalten gegensätzlicher Strömungen in der katholischen Kirche; die Kombination dieser beiden Seligsprechungen ist daher von besonderer Brisanz. Gegen Johannes XXIII. regt sich - öffentlich - kaum Widerstand. Umso mehr ist dies bei Pius IX. der Fall: Einige Mosaiksteine zum Bild der beiden Päpste bietet dieser Furche-Schwerpunkt an. ofri Johannes XXIII. wird selig gesprochen. Überraschen dürfte dies niemanden, auch nicht solche Gläubigen und Ungläubigen, die sich im kirchlichen Procedere bei Kanonisierungsprozessen wenig auskennen. Verwundern dürfte auch kaum, dass die Seligsprechung bereits 37 Jahre nach seinem Tod erfolgt. Gab es doch schon gegen Ende des II. Vatikanischen Konzils den nicht eigentlich diskutierten, aber doch ernst gemeinten Vorschlag, das Konzil möge den Papst, der es einberufen hatte und damit die Kirche, wenn nicht die Christenheit insgesamt so unverhofft auf neue Wege führte, per Akklamation zur Ehre der Altäre erheben.

Erstaunlich und für nicht wenige irritierend ist höchstens, dass die Kanonisierung des Roncalli-Papstes nun noch zum Gegenstand eines kirchenpolitischen Deals geworden ist: wenn den Anhängern des II. Vatikanums ihren Johannes, dann den Verehrern des I. Vatikanums ihren Pius. Johannes selbst dürfte dies auch als etwas seltsam empfunden haben, wird als ein Papst, der trotz aller gegenteiligen Attribute selbst von Kirchen- (und Lehr-)Politik einiges verstand und sich in den Wechselfällen der Kirchen- wie der Profangeschichte bestens auskannte, darüber aber auch nicht allzu sehr erstaunt gewesen sein.

Es hat Päpste gegeben in den letzten hundert Jahren, die dem Roncalli-Papst an theologischem Sachverstand, an politischem Können, an Einsicht in die Zusammenhänge modernen Lebens und vor allem an Sendungsbewusstsein haushoch überlegen waren. Aber keiner von ihnen hat sich in so kurzer Zeit so tief und nachhaltig in die Herzen der Menschen und in das Geschehen seiner Zeit eingeschrieben wie der dreiundzwanzigste Johannes. Was dieser Papst, der erst im hohen Alter von 77 Jahren ins höchste kirchliche Amt gewählt wurde, in den knapp viereinhalb Jahren seines Pontifikats alles in Bewegung gesetzt hat, grenzt an ein Wunder.

Soziallehre, revolutionär Das II. Vatikanum war nur die spektakulärste, wenn auch folgenreichste Initiative seiner Regierungszeit. Seine Enzykliken, vor allem die großen Sozialenzykliken "Mater et magistra" und "Pacem in terris", die viel von dem vorwegnahmen, was dann das II. Vatikanum in "Gaudium et spes" und im Dekret über die Religionsfreiheit festschrieb, waren von kaum minderer Bedeutung. Schon wie Johannes XXIII. in "Mater et magistra" die katholische Soziallehre aus den Erstarrungen ihrer neuscholastischen Begrifflichkeit und Lehrhaftigkeit herausholte, wie er sie näher an das biblische Verständnis vom Menschen heranführte und sie damit zugleich erfahrungszugänglicher, argumentationsfreundlicher und praxisnäher machte, war nicht nur stilles "aggiornamento", sondern revolutionär in Wort und Tat.

Wie aufrüttelnd und zugleich irritierend die neue, "seine" Sicht kirchlicher Sozialverkündigung auf viele wirkte, zeigte nicht zuletzt der verhaltene bis offene Widerstand gerade in solchen Ländern, wo die Katholiken ihre gesellschaftspolitischen Maximen und ihr (katholisches) Verbandswesen auf den alten Konzepten aufgebaut hatten. Das seinerzeit berühmt gewordene Einwurf "Mater si, magistra no" (Mutter ja, Lehrmeisterin nein) stammte sprachlich aus Italien, gab aber exakt die Stimmung in deutschen Verbandszentralen nach dem Erscheinen der Enzyklika wieder.

Mit "Pacem in terris" zeigte der Papst der Welt noch mitten im Kalten Krieg eine Friedensperspektive auf, die bis hinein in die Konferenz von Helsinki 1975 über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa nachwirkte, ihre erste Bewährungsprobe aber längst vorher, bei der für die Menschheit damals buchstäblich lebensgefährlichen Kubakrise im Herbst 1962, - so unauffällig wie wirksam - bestanden hatte.

Sein sechster Sinn Mit seinem sechsten Sinn für die "Zeichen der Zeit" versuchte der Roncalli-Papst die Fronten auch gegenüber der damaligen kommunistischen Welt aufzubrechen, ermunterte seine Mitarbeiter und Mitbischöfe, neue Verbindungsfäden zu knüpfen, setzte auch gegen alle Hoffnung auf Kontakte, Gespräche und Verhandlungen, um dem Frieden zu dienen und den Kirchen hinter dem Eisernen Vorhang, wenn und soweit möglich, das Leben etwas zu erleichtern. Johannes XXIII. vor allem hat initiiert, was man später vatikanische Ostpolitik nannte. Gut bekannt ist noch, was der Papst zu Kardinal König sagte, als ein erster Kontakt in Richtung Ungarn versucht werden sollte, und der Kardinal fragte, wie er das machen sollte: "Gehen sie zum Bahnhof und kaufen sie eine Fahrkarte ..."

Viele Trümpfe in der Hand hatte der Papst dabei nicht - außer eine Menge guten Willen und eine Freundlichkeit, die nicht Fassade war, sondern den Menschen, wer immer er war, in allem ernst nahm. "Un po' piu di garbo" - ein bisschen liebenswürdiger - habe er seinen engeren Mitarbeitern immer wieder geraten, so berichtet der 1998 verstorbene "Architekt" der Ostpolitik und spätere Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli in seinen erst vor Wochen - übrigens in Anwesenheit von Michail Gorbatschow - in Rom vorgestellten ostpolitischen Erinnerungen ("Il martirio della pazienza", Einaudi 2000).

Der Papst machte sich keine Illusionen über die kommunistische Ideologie, aber seine Erfahrung sagte ihm, dass selbst die bleiernsten ideologischen Systeme durch die sich wandelnden Verhältnisse zu Veränderungen gezwungen werden. Er sollte Recht behalten.

Als ein fast gleich großes Wunder wie die durch seinen Pontifikat ausgelösten Um- und Durchbrüche erscheint der Aufstieg von Angelo Giuseppe Roncalli in das höchste kirchliche Amt. Ein solches Amt ist niemandem in die Wiege gelegt, dem Kleinbauernsohn aus dem bergamaskischen Sotto il Monte, war es das am allerwenigsten. Seine kirchliche Laufbahn war lange der eines unauffälligen geistlichen Kirchenfunktionärs. Besondere Geistesgaben wurden an ihm nicht festgemacht. Die wenigen Hinweise auf das politische Zeitgeschehen in seinen Tagebüchern verraten keine großartigen Einsichten. Selbst seine seelsorgliche Begabung konnte sich erst in seiner Zeit als Patriarch von Venedig so recht entfalten.

Irgendwann hatte man ihn als Apostolischen Delegaten nach Bulgarien, später nach Griechenland und in die Türkei geschickt, wohl weil sich sonst niemand für den unerwünschten Posten fand und weil in einer feindlichen Umgebung ein nach Veranlagung und Bemühen freundlicher Mensch wohl noch am ehesten zurechtkommen würde. Dass Pius XII., der Roncalli scharf unter Kuratel hielt und ihm sogar verbot, in den Straßen von Paris spazieren zu gehen, mit dessen überraschender Ernennung zum Nuntius in Frankreich Ende 1944 nicht Roncalli auszeichnen, sondern de Gaulle bestrafen wollte, weil dieser zum Ärger des Papstes alle mit dem Vichy-Regime auch nur entfernt verwickelten Bischöfe abgesetzt wissen wollte, ist bekannt.

Nicht immer gute Figur Und dass Roncalli als Nuntius in Paris weder seinen Gesprächspartnern gegenüber noch bei öffentlichen Auftritten immer eine gute Figur machte, ist ebenfalls gut belegt und kann unter anderem in einem nach dem Tod des Papstes unter dem Titel "Le mystere Roncalli" erschienenen Beitrag in der Jesuitenzeitschrift "Etudes" vom Juli/ August 1963 nachgelesen werden. Ein prominenter französischer Bischof soll sogar den Tränen nahe gewesen sein, als er von der Wahl Roncallis zum Nachfolger Pius XII. hörte. Und einmal beiseite gelassen, was beispielsweise von Konrad Adenauer über Johannes XXIII. an bösen Apercus kolportiert wurde ("ne dumme Mensch", "zu dem gehe ich nie wieder"), es war bis ins unmittelbare Vorfeld des II. Vatikanums ja nicht gerade alles vielversprechend, was zum Pontifikat Johannes XXIII. auch gehörte: zum Beispiel die letzte große Zensurwelle gegen Theologen und katholische Zeitschriften vor dem Konzil.

Aber weder sind Begabungen der Stoff, aus dem Selige und Heilige gemacht werden, noch entscheiden kirchliche Laufbahnen über den Grad von Heiligkeit; und auch das Profil eines Pontifikats kann dafür nicht maßgebend sein. Insofern täte die Kirche gut daran, bei Päpsten wie bei kirchlichen Würdenträgern überhaupt mit Selig- und Heiligsprechungen besonders sparsam umzugehen. Und selbst ein kirchliches Jahrhundertunternehmen, wie es das II. Vatikanische Konzil war, sagt wenig über die Heiligkeit dessen aus, der es initiiert hatte. Zudem konnte Johannes XXIII. das Konzil nur einberufen und ihm die Richtung weisen, es durchführen und seinen Wirkungen steuern mussten andere. Und oft schon ist die schönste und berechtigste Reformidee wieder versandet oder hat sich gar in ihr Gegenteil verkehrt.

Exemplarischer Christ Was aber enthebt Johannes XXIII. all solchen Bedenken? Knapp gesagt: Angelo Giuseppe Roncalli war in seinem ganzen Denken und Verhalten und in allem, was er tat und bewirkte, auf doppelte Weise ein exemplarischer Mensch und Christ: Er dachte und handelte in allem von sich weg. Er war der letzte, der sich selbst wichtig nahm. Er übernahm die Aufgaben als Fügung Gottes, so wie sie ihm gestellt wurden. Dies machte ihn frei. Was ihm an bescheidenem Lebensstil und gläubigem lauterem Sinn von seinem örtlichen Ambiente, von seinen Eltern und seinen Begleitern in den geistlichen Beruf, mitgegeben worden war, war ihm tausendmal wichtiger als alles - unter Kirchenmännern sonst durchaus verbreitete - Karrieredenken. In einer Welt der Ichbezogenheit und der beginnenden spaßgesellschaftlichen Selbstdarstellung gab er damit ein Beispiel unverkrampfter Selbstlosigkeit und war so, obwohl von vielen geliebt und aus aller Welt mit Zuneigung bedacht, in allem das Gegenteil eines Idols.

Ein geistlicher Mensch Und Johannes XXIII. war zeit seines Lebens, als Papst wie als Bischof wie als junger Kleriker, das, was man in religiös nicht so diffusen und weniger von allerlei Pseudomystizismen angekränkelten Zeiten, einen geistlichen Menschen genannt hat - ein geistlicher Mensch in der Bedeutung beider Worte: Alles Geistliche war an ihm tief menschlich und alles Menschliche tief geistlich; ein geistlicher Mensch mit einem Mut machenden Glauben, bäuerlich klug, traditionell in seiner Kirchlichkeit und in den Ausdrucksformen seiner Frömmigkeit, aber menschlich wie geistlich von kräftiger Substanz. Darin ragte er aus allen Zeitgenossen weit heraus. Die nicht gerade für frommen Tiefsinn bekannte Londoner "Daily Mail" brachte es seinerzeit in einem Nachruf auf den Punkt: Johannes XXIII. habe sich in der Gegenwart Gottes so selbstverständlich und sicher bewegt wie ein Mensch in den Straßen und Gassen seiner Heimatstadt.

Dies - und damit kommt über die Person die Heiligkeit doch auch mit ins Amt - gab ihm die Sicherheit im Handeln: den Mut, verfestigte Zustände zu lockern, Zäune zu überspringen, Türen und Fenster zu den anderen christlichen Kirchen und zu Menschen anderen Glaubens weit zu öffnen und, was immer daraus werden würde, auch den unerwarteten Weg des Konzils zu gehen.

Aus seinem Glauben heraus wusste er nicht nur um die Würde des Menschen als Ebenbild Gottes wie um die Schwächen der Welt und die Fragilität ihres Forschrittsglaubens, sondern auch darum, wie sehr die Welt das christliche Zeugnis einer in sich selbst freien Kirche braucht. Er traute dem Christentum am Ende aller ideologischen Gewissheiten etwas zu. Verschätzt hat er sich, wenn, dann nur in dem Mut und in der Bereitschaft der Kirche wie der Christen, diese Herausforderung anzunehmen und sie als Chance zu begreifen.

Der Autor, langjähriger Chefredakteur der Herder-Korrespondenz, ist freier Publizist und lebt in Deutschland.

BUCHTIPP Mehr als der "gute Papa" Christian Feldmann, von dem schon Biographien von Mutter Teresa bis Dietrich Bonhoeffer stammen, legt zur Seligsprechung ein leicht lesbares Lebensbild Johan-nes XXIII. vor. Die Sympathie des Autors für den Konzilspapst istdarin unübersehbar, er benennt aber gleichwohl die Brüche in Persönlichkeit und Handlungen des Angelo Giuseppe Roncalli, ohne sie im Sinne einer "Heiligenlegende" aufzulösen. Für Feldmann ist Johannes XXIII. keineswegs jener gute naive Papst, dem das Konzil "passierte", sondern der - wie schon zuvor in seinem Leben - beharrlich, selbstbewusst und mit Schlauheit seine Ziele verfolgte. ofri Johannes XXIII. Seine Liebe - sein Leben. Von Christian Feldmann. Verlag Herder, Freiburg 2000, 240 Seiten, geb., ös 218,-/e 15,84

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