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Mit dem Blick des Bauern

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Der kleine Bauernjunge Angelo Guiseppe Roncalli, drittes Kind seiner Eltern und ihr erster Knabe, ist Papst Johannes XXIII. geworden: der Papst, in dem Katholizismus und die Kirche sich anschicken, einen Immobilismus aufzugeben, der sie handlungsunfähig machte: unbeweglich, fest, in festen Bastionen, schienen weiterhin nur mehr Reaktionen in Frage zu kommen: Abwehrbewegungen.

Der Papst Johannes XXIII. ist kein Revolutionär und kein Revoluzzer, kein Mann einer intellektuellen Intel-ligentsia, kein unruhiger nervöser Geist. Der Papst Johannes XXIII. würde in ruhigen, gefestigten Zeiten am liebsten als Seelsorger, als Ober-hirte seine heilige und unheilige Stadt Rom, Italien und die Mutter Weltkirche treu umsorgen: die Witwen und die Waisen, die schlecht bezahlten Angestellten der Kurie (und des Staates), die Kranken und die Gefangenen. Und abends, nach redlich getanem Tagwerk, im Gespräch mit Freunden den rotdunklen Valpolicella trinken und den guten heimischen Käse essen, den ihm, mitten in einer Audienz, Landvolk von daheim gebracht hat und den er festhält, die gariz^'-Audicn; hindurch und sich von niemandem, der hinter und um ihn ist, wegnehmen läßt.

Der Papa Giovanni hat das alles, was da eben angedeutet wurde, auch gleich getan, als er Papst wurde; dies und noch manches andere, was nicht in die Presse kam.

„Oboedientia et Pax.“ Gehorsam und Friede: diese Devise des Papstes hat man an seinem Geburtshaus in Sotto il Monte angebracht.

Sotfo il monte: unter dem Berg, das ist alsjo der Heimatort. Sotto il monte, unter!Bergen von Schwierigkeiten, die unbewältigt sind, steht die Kirche. Johannes XXIII. sieht mit klaren, ungetrübten Bauernaugen, die sich kein X für ein U, durch keinen Wirt der Welt und der Kirche, vormachen lassen: es muß etwas geschehen.

Völlig überraschend selbst für seine engste Umgebung kündet der Papst Johannes XXIII. am 25. Jänner 1959 die Einberufung eines Ökumenischen Konzils an, das sich mit den Möglichkeiten der Wiedervereinigung der getrennten Brüder befassen soll.

Die Marotte eines alten Mannes? Eines Mannes, von dem man nicht allzuviel wußte, den man aber für eine ehrliche alte Haut hielt; und für einen Übergangspapst?

Ist das nicht ein Illusionist? Sehr gebildete Köpfe haben das ausgesprochen, als die ersten Nachrichten über diese Absicht des Papstes, ein Konzil einzuberufen, aus Rom in die Welt kamen. „Er wird sich bald die Hörner abstoßen, an den harten Wänden der kurialen Bastionen und Apparate“, sagten andere. Es wird ein herrliches Schauspiel werden, eine großartige Demonstration der Einheit und Entschlossenheit der Weltkirche, Wälle gegen den gottlosen Kommunismus zu errichten, sagten und schrieben wieder andere, noch am Vorabend des Konzils.

Dann hält eine Welt den Atem an. Dieser alte Bauer geht Schritt für Schritt Wege und setzt Taten, die seine Umgebung mit Erstaunen erfüllen und Menschen in aller Welt ergreifen, berühren Er lädt sie auch gleich zu Tisch und empfängt sie: den Primas der Kirche von England, Erz-

bischof Fisher von Canterbury (am 2. Dezember 1960); islamische, hindu-istische, buddhistische Geistliche und Laien, Gläubige dieser Religionen, Theisten und Atheisten. Am 7. März 1963 empfängt er Adschubej und seine Frau Rada, geborene Chruschtschowa.

Die Ereignisse scheinen sich seit jenem 25. November 1962, an dem sich unter den Glückwunschtelegrammen aus aller Welt, die der Papst zu seinem 81. Geburtstag erhielt, erstmals auch ein Telegramm des sowjetischen Ministerpräsidenten Chruschtschow befindet, zu überstürzen. Drei Tage später wird erstmalig eine der wöchentlichen Mittwoch-Generalaudienzen aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig abgesagt. Am 24. Dezember richtet der Papst in seiner Weihnachtsbotschaft einen neuen, dringenden Aufruf um Frieden an die Welt. In einer Audienz für das diplomatische Corps spricht er sich für eine internationale Zusammenarbeit in der Weltraumfahrt aus.

Am 1. Jänner 1963 wechseln Papst Johannes XXIII. und Ministerpräsident Chruschtschow Grußtelegramme. Am 29. März setzt der Papst eine Kommission zur Revidierung des Kirchlichen Gesetzbuches ein und beginnt damit die dritte große Aufgabe, die er sich als Papst gestellt hat; die erste, eine römische Diözesansynode, ist bereits Vergangenheit. Die zweite große Aufgabe, die Leitung eines Konzils, ist in einer Mitte der Wegstrecke angelangt.

Arn 5. April unterzeichnet der Papst die Friedensenzyklika „Pacem in terris“. Diese Enzyklika findet den weltweitesten Wiederhall, den je, nach Erscheinen, eine päpstliche Enzyklika im 20. Jahrhundert gefunden hat. Die Friedensenzyklika wendet sich an alle Katholiken und an alle Menschen guten Willens. In ihr ist das größte Testament des Papstes Johannes XXIII. enthalten: die Aufforderung an jene Elite, an jene einzelnen und kleinen Gruppen, die bereits an der Arbeit sind, den Großen Frieden der Zukunft vorzubereiten: sie sollen mutig voranschreiten. Dazu die Aufmunterung des Papstes an jene Menschen, sich nicht irre machen zu lassen. Dazu die Aufforderung an die Katholiken, sich mutig und ohne Furcht in die industrielle Großgesellschaft der einen Menschheit hineinzubegeben und an die Seite ihrer andersdenkenden Brüder zu treten.

Und dann stirbt Papst Johannes XXIII.

Der am 28. Oktober 1958 im elften Jahrgang des Konklaves gewählte Papst hat in wenig mehr als viereinhalb Regierungsjahren die Türen und Tore und die Fenster der Kirche weit geöffnet: und er ist selbst hinausgeschritten, um den Menschen zu suchen und zu besuchen: die Gefangenen als erste, in ihren Kerkern; und, als letztes, den italienischen Staatspräsidenten Segni in seinem Palast am Quirinal. Am 11. Mai 1963. Dies ist sein Wille, seine Einladung an die Katholiken zunächst: tuet das Gleiche. Sucht, besucht eure Mitmenschen. Lernt von ihnen, lernt mit ihnen, die großen, schweren, schönen Aufgaben des Menschen auf dieser Erde gemeinsam zu bewältigen.

Bevorstand: ein Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Kennedy, in Rom; und wohl auch ein Besuch seines Partners und Antipoden aus Moskau.

Der alte große Bauer ist nicht mehr.

Folgen wir ihm, einige Schritte auf seinem Lebensweg: es ist der Weg eines Mannes, der überall, wo er hinkam, die Dinge sah, wie sie wirklich sind. Es gibt Politiker, die ein dutzend Mal um die Welt fliegen und überall nur das sehen, was sie sehen wollen. Es gibt hochbegabte Köpfe, die an vielen Konferenzen und geistigen Aus-

einandersetzungen wortreich teilnehmen und überall nur sich selbst vernehmen. Es gibt kluge, intelligente Persönlichkeiten, die recht bald merken, wie die Dinge stehen, mißlich, hier und dort; die aber, in führenden Positionen in Kirche und Welt eingerückt, die Dinge nicht zu ändern wagen.

Der bäuerliche Mensch Angelo Giuseppe Roncalli hat viel erlebt, viel erfahren, und, als Papst, daraus die Konsequenzen gezogen: WIR, als Stellvertreter Christi, müssen die Kirche aus ihren vielen Selbstfesselungen lösen; behutsam lösen, aber doch: lösen, befreien. WIR: als pontifex maximus, als oberster Brückenbauer, haben die Pflicht, Brücken zu bauen, nicht Brük-ken und Stege einzureißen und Pfade, auf denen vielverdächtige Einzelne gehen, zu verlegen. WIR, der Papst, sind WIR in der Gemeinschaft aller Väter und Brüder in der Einen heiligen Kirche. WIR sind Vater in der Familie der Menschheit.

Wir wissen nicht, mit welchen Empfindungen der junge Angelo Giuseppe Roncalli im ersten Jahr des 20. Jahrhunderts sein Miltärdienstjahr abgelegt hat. 1915 wird er zum Militärdienst eingezogen, wird Wachtmeister im Sanitätsdienst, später Feldprediger im Leutnantsrang. Johannes XXIII., der Papst, der es wagt, nach einem halben Jahrtausend den Apostel der Liebe, Johannes, als Patron seines Papsttums zu wählen, ist der erste Papst der Neuzeit, von dem wir wissen, daß er im Kriegsdienst stand; als Soldat, im ersten Weltkrieg, in einem Krieg, in dem sich das Wesen des Krieges zu wandeln begann, zu einem Unwesen, das nicht mehr den alten würdigen Namen des Krieges, wie er ihn seit Jahrtausenden getragen hat, verdient. Vielleicht muß man „Pacem in terris“ 1963 auch noch zusammensehen mit den Erfahrungen des jungen Angelo Giuseppe Roncalli 1915 bis 1918.

Benedikt XV., der Papst, der so ein-

dringlich 1915 und 1917 zum Frieden gemahnt hat (die islamischen Türken sind die einzigen, die hm ein Denkmal gesetzt haben) ernennt Roncalli 1921 zum päpstlichen Hausprälaten und zum Präsidenten des italienischen Werkes für die Glaubensverbreitung. 1925 organisiert Roncalli die Missionsausstellung in Rom für das Heilige Jahr 1925. Die Weltmissionstätigkeit der Kirche: ist sie Illusion, fromme und unfromme Selbsttäuschung, oder Wirklichkeit?

Im selben Jahr wird Roncalli zum Bischof geweiht und zum Apostolischen Visitator in Bulgarien bestellt: in einem Lande, das in über 1000 Jahren im Ost-West-Konflikt, zwischen Ost- und Westkirche, zerfleischt wurde.

1934 wird der Bischof Roncalli Apostolischer Delegat in Griechenland und der Türkei und Administrator des Apostolischen Vikariates des lateinischen Ritus von Konstantinopel.

Zehn Jahre weilt Roncalli in Ländern, die zumindest seit dem vierten Kreuzzug, seit der grauenhaften Verwüstung Konstantinopels durch die unter Führung ihrer Bischöfe und Fürsten stehenden Westchristen, die „Franken“, durch eine Kluft, durch Haß, Angst, Mißtrauen von „Rom“ und vom „korrupten Westen“ getrennt sind. Unauslöschliche, unersetzliche Erfahrungen gewinnt hier Roncalli.

Am 13. November 1960 gebraucht Papst Johannes XXIII., als erster Papst in der Kirchengeschichte bei einer feierlichen Papstmesse, bei der Feier der heiligen Liturgie, die altslawische Kirchensprache.

Am 23. Dezember 1944 wird Roncalli von Pius XII. zum Nuntius in Frankreich ernannt. Er kommt in ein Land, in dem die Führung der Kirche schwer kompromittiert ist. De Gaulle verlangt von ihm die Entfernung des größten Teils der französischen Bischöfe aus ihren kirchlichen Ämtern. Die Vichy-Regierung hatte ein „Statut des Juifs“, eine Ausnahmegesetzgebung für die Juden geschaffen.

Papst Johannes XXIII. streicht aus der Herzmitte der römisch-katholischen Theologie, aus dem Karfreitagsgebet, den ominösen Passus von den „perfiden Juden“.

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