Römische Mysterien und Hochseilakte

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Das Heilige Jahr 2000 hatte in Rom zunächst zögerlich begonnen. Doch die Millionen Teilnehmer des Weltjugendtreffens im August brachten den Höhe- und Wendepunkt. Andere Ereignisse - vom großen Schuldbekenntnis des Papstes bis zur SeligsprechungPius IX. markierten Breite und Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Katholizismus.

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Das Heilige Jahr 2000 hatte in Rom zunächst zögerlich begonnen. Doch die Millionen Teilnehmer des Weltjugendtreffens im August brachten den Höhe- und Wendepunkt. Andere Ereignisse - vom großen Schuldbekenntnis des Papstes bis zur SeligsprechungPius IX. markierten Breite und Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Katholizismus.

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Mit einem dumpfen Dröhnen fiel das schwere Bronzetor der Porta Sancta ins Schloss. Die Heilige Pforte des Petersdoms, die von den Päpsten alle 25 Jahre für Büßer geöffnet wird, ist seit dem Fest der Epiphanie wieder geschlossen. In den nächsten Tagen werden Maurer im Inneren des Türstocks Ziegel aufschichten und Mörtel darüberschmieren.

In der Nacht zuvor hatte Johannes Paul II. von seinem Arbeitszimmer aus eine seltsame Prozession beobachten können. Eine endlose Menschenschlange versuchte noch am letzten Tag des Heiligen Jahres durch die Pforte zu schlüpfen. Um niemanden abweisen zu müssen, wies der Papst seine Mitarbeiter an, die Kathedrale bis drei Uhr morgens nicht zu versperren. "Dass viel gesündigt wird, haben wir angenommen", schrieb anderntags der greise Kommentator Indro Montanelli spöttisch im "Corriere della Sera", "dass aber so viele an den Ablass glauben, ahnten wir nicht".

Zweifler widerlegt Tatsächlich hatte die Kraft der Jubiläumsidee nicht sofort ihre Zugkraft entwickelt. In den ersten Monaten des Jahres war die Hotellerie noch von einem Desaster ausgegangen, jedenfalls ließen sich die Pilgerheere nicht blicken, die sich bußfertig durch die Straßen der Stadt schieben sollten. Und wenn sie kamen, nächtigten sie in billigen Klöstern oder Herbergen, nicht in den vorsorglich verteuerten Hotels der Stadt.

Die Abschlussbilanz der städtischen "Agentur für das Große Jubiläum" wies die Zweifler am Ende doch noch in die Schranken. Über 23 Millionen Menschen sind im Jahr 2000 nach Rom gekommen. Über acht Millionen haben an den liturgischen Festen mit dem Papst teilgenommen.

Und das erstaunlichste daran: Das prophezeite Chaos ist ausgeblieben. Jahrhunderte alte vatikanische Erfahrung im Organisieren von Riesenmassen traf auf eine effiziente Stadtverwaltung, die - entgegen italienischem Brauch - diesmal rechtzeitig vorgesorgt hatte.

Was wird von dem immensen Programm von 3.400 Veranstaltungen bleiben? Zwei Antworten sind auf diese Frage zu geben, nur eine kann klar ausfallen: Rom hat immens gewonnen in diesem Jahr. Die Stadt hat einen längst überfälligen Modernisierungsschub erfahren, sie ist heute effizienter, schöner und reicher an Kulturgütern als vor Beginn der Arbeiten für das Jubiläum. Die staatlichen Ausgaben für den "Event" werden schon in kürzester Zeit auf Umwegen wieder im Säckel der Metropole klingen. Schon im laufenden Jahr dürften viele ihre Romreise nachholen, die sie aus Angst vor den Pilgerhorden vertagt hatten.

Was der Kirche bleibt, ist schwerer zu sagen. Ein äußerlicher Aspekt lässt sich aus den Kommentaren der Nichtchristen ablesen. Sie hatten die Kirche unterschätzt. Nicht ohne Unbehagen stellt der eine oder andere nun fest, dass mit dem Katholizismus, mit Päpsten, Bischöfen, kurz mit Christen auch in Zukunft zu rechnen sein wird. Wer sich auf ein schleichendes Verschwinden der Religion aus den säkularisierten Gesellschaften des reichen Nordens eingestellt hatte, muss seine Prognosen aufs Erste revidieren.

Wer hätte gedacht, dass der geschwächte Katholizismus noch einmal in den Verdacht kommen könnte, "Triumphalismus" zu zeigen? Doch genau dieser Vorwurf ist dieser Tage in mancher Abschlussbilanz zu lesen. So stark war der Ruf zur Mäßigung, dass Johannes Paul in seiner Predigt zum Abschluss des Jahres nicht darüber hinweggehen wollte und für die Zeit danach Mäßigung im Auftreten versprach.

Den Stimmungsumschwung hatte das Fest der Jugend im brütend heißen August gebracht. Viele Journalistenkollegen waren im Urlaub, vom "Gebetshappening" schien sich niemand sonderlich viel zu erwarten. TV-Direktübertragungen wurden nur den Italienern zugemutet. Die Fehleinschätzung zeichnete sich schon Mitte der Woche ab, als hunderttausende singender Jugendlicher die menschenleere Stadt durchstreiften. Draußen vor den Toren der Stadt verblüffte dann das Meer von geschätzten zwei Millionen Jugendlichen selbst einen, der an die Kraft seiner Idee der Weltjugendtreffen immer geglaubt hatte: Johannes Paul II.

Auch Unbegreifliches Langfristig einschneidender als das Weltjugendtreffen waren allerdings zwei Ereignisse, die der "Reinigung des Gewissens" dienen sollten. Zu Beginn der Fastenzeit lud der Papst zu einem Bußgottesdienst in den Petersdom. In erstaunlich direkten Worten sprachen sieben Kardinäle in Fürbittgebeten die dunklen Seiten der Kirchengeschichte an - Judenverfolgung, Inquisition, um nur einige zu nennen - und baten um Vergebung. Zehn Jahre lang hatte der Papst den Akt in kleinen Dosen vorweggenommen, keine Gelegenheit ließ er verstreichen ohne heikle Themen anzusprechen. Doch der Bußgottesdienst war mehr als eine Rede oder Predigt. Besorgte Berater und Kardinäle versuchten den Papst bis zuletzt von der Idee abzubringen. Die Kirche könnte Schaden nehmen, ihren Gegner Munition liefern, ohne an Glaubwürdigkeit zu gewinnen, argumentierten sie. Sie stießen auf taube Ohren.

Noch in seinem Apostolischen Schreiben "Novo millennio ineunte"*) zum Abschluss des Heiligen Jahres, das am Tag der Epiphanie erschienen ist, hebt der Papst die Bedeutung dieses Bußakts hervor. "Wie könnte ich den ergreifenden Gottesdienst vom 12. März 2000 vergessen, bei dem ich in der Petersbasilika, den Blick fest auf den Gekreuzigten gerichtet, gleichsam zur Stimme der Kirche geworden bin und die Vergebungsbitte für die Sünde aller ihrer Söhne und Töchter geleistet habe? Diese ,Reinigung des Gedächtnisses' hat unsere Schritte auf dem Weg in die Zukunft gestärkt, indem sie uns zugleich demütiger und wachsamer macht in unserem Festhalten am Evangelium."

Ohne diese Bußfeier wäre die Reise nach Israel wohl noch schwieriger geworden als sie ohnedies schon war. Eine reine Pilgerfahrt wollte der Achtzigjährige unternehmen. Es wurde ein politischer Hochseilakt, der das ganze diplomatische Geschick des Polen in Anspruch nahm. Wieder sind es die Zeichen, die im Gedächtnis bleiben: der kleine Zettel in der Nische der Klagemauer mit der Bitte um Vergebung für Jahrhunderte katholischen Judenhasses, oder die Begegnung mit jüdischen Jugendfreunden in der Gedenkhalle von Yad Vashem.

Umso mehr erstaunte im Herbst die Heiligsprechung eines Papstes, dessen Konflikte mit dem Judentum nur einen kleinen Bruchteil des Negativkontos ausmachen, das man ihm mit Fug und Recht anrechnen kann: Pius IX.: Dass dieser Papst, der die Kirche in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von allen Entwicklungen ihrer Zeit abkoppelte, mit Johannes XXIII., dem Papst des II. Vatikanums gemeinsam selig gesprochen wurde, zählt zu den unbegreiflichen Mysterien dieses Jubeljahres.

Kaum war die Aufregung um den Pius-Papst abgeflaut, störte ein weiterer "Querschläger" den Gang des Wendejahres. "Dominus Iesus", ein großes, klärendes Dokument der Glaubenskongregation, wurde vor allem in den Ländern mit protestantischer Bevölkerungsanteilen mit Befremden bis Entrüstung aufgenommen. In dürrer Buchhaltersprache hielt das Papier fest, wo allein Wahrheit und Erlösung sei: im Christentum katholischer Prägung. Ökumenische Bemühungen oder gar das Gespräch mit anderen Religionen schienen vor dem Hintergrund dieser Publikation ein eher nutzloser Zeitvertreib.

Identität und Dialog Johannes Paul II. reagiert irritiert auf die vehemente Kritik. Er will beides - klare Identität und den Dialog. Das Abschlussdokument zitiert nochmals zustimmend das umstrittenen Papier, stellt zugleich aber auch die Notwendigkeit des Gesprächs zwischen den Religionen und natürlich die Bemühungen um die Einheit der Christen fest. Wie die beiden Pole zu vereinen sind, verrät es nicht.

Oder doch? Das Apostolische Schreiben "Novo millennio ineunte", das sich wie ein Vermächtnis liest, schildert eine Kirche, in der die Gewichte anders verteilt sind als in der real existierenden. Das "Antlitz Christi", Gebet und die Bemühung um "Heiligkeit" sollten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Christen stehen, nicht Aktivismus oder gar jener "Karrierismus", den der Papst in seiner Rede vor der Kurie kürzlich gegeißelt hatte (Offenbar hatten sich im Vorfeld der im Februar bevorstehenden Kardinalsernennungen zu viele Kandidaten in Erinnerung gerufen).

"Eine Zukunft der Liebe" stellt der Papst dem gegenüber. Dass diese Zukunft auch ein Bekenntnis zur "vorrangigen Option für die Armen" einbegreift, ist vielleicht der größte Schritt, den das Papsttum in diesem auslaufenden Jahrhundert gemacht hat.

*) Dokumentation wichtiger Passagen aus dem Apostolischen Schreiben "Novo millennio ineunte" auf Seite 16/17 dieser furche.

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