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„Tur auf fur Christus!“

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Statistisches - 560.000 Kilometer auf 40 Reisen in 77 Länder - sagt sehr wenig über den Mann aus, der vor zehn Jahren zum Nachfolger des Apostels Petrus gewählt wurde.

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Statistisches - 560.000 Kilometer auf 40 Reisen in 77 Länder - sagt sehr wenig über den Mann aus, der vor zehn Jahren zum Nachfolger des Apostels Petrus gewählt wurde.

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„Habt keine Angst! Reißt weit die Türen auf für Christus! öffnet seiner rettenden Macht die Grenzen der Staaten, der wirtschaftlichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der •Zivilisation und des Fortschritts, Habt keine Angst!“ Der mit diesen Sätzen auch sich selbst Mut machte, dieser Karol Wojtyla, der sich am Abend jenes 16. Oktober 1978 „aus einem fernen Land“, wie er Polen nannte, plötzlich auf den Stuhl des römischen Papstes gerufen sah - er stellte sich selbst bang die Frage, wie sein Pontifi-kat verlaufen würde, und gab die unsichere Antwort: „Gott weiß!“

Denn außer dem Evangelium und dem Hochgefühl des Augenblicks, das seine missionarische Phantasie beflügelte, besaß er — wie er sogleich zugab — kein Programm. Allzu plötzlich hatten ihm, wie man heute weiß, 91 der 111 Kardinäle, die sich selbst „etwas weglos“ fühlten (so der damalige Münchener Erzbischof Joseph Ratzinger) im achten Wahlgang des Konklave ihre Stimme gegeben - zum erstenmal nach 455 Jahren einem Nichtitaliener.

Auch wenn der „Super-Star“, zu dem der zweite Johannes Paul von den Medien in den ersten Jahren stilisiert wurde, etwas müde geworden ist und sein Lächeln seit dem Schock des Attentats (1981) meist mühsam wirkt, so hat doch sein Aktivismus kaum nachgelassen. Unbestreitbar ist, daß er wie niemand in diesem Jahrhundert Menschenmassen aller Erdteile mobilisiert und bei Millionen die Erinnerung an Augenblicke der Freude hinterlassen hat — und sei es nur durch die Hand, die einen Kranken oder Armen menschliche Nähe empfinden ließ.

Zugleich jedoch hat dieser Papst den meist lautlosen Auszug aus seiner Kirche nicht aufhalten können; die „praktizierenden“ Gläubigen sind besonders in den Industriegesellschaften, aber auch in manchen katholischen

Ländern eine ständig wegschmelzende Minderheit. Auf sie allerdings setzt der Papst in seiner eher pessimistischen Weltsicht umso größere Hoffnung, weil er in ihnen gleichsam die Kerntruppe sieht für die Wiedereroberung, die Neubekehrung der entchrist-lichten Welt.

Daher seine offenkundige Vorliebe für „Bewegungen“, die sich das Wiedererwachen religiöser Bedürfnisse inmitten allgemeiner Kirchenmüdigkeit zunutze machen und den Frust durch radikale, charismatisch gestimmte Hingabe vertreiben wollen. Wenn das wie im Falle von „Comunione e Liberazione“ oder auch des „Opus Dei“ mit elitärer, integralistischer Abgrenzung oder sektiererischem Antimodernismus einhergeht, kümmert dies den Papst wenig. Er betrachtet die neuen Bewegungen einfach als „Segen für die Kirche“.

So schätzt er durchaus auch „Basisgemeinden“, solange sie nicht unter den Einfluß theologischer Außenseiter — sei es eines Leonardo Boff oder eines Marcel Lefebvre — geraten oder römischer Aufsicht entgleiten. „Auch ich bin ein Befreiungstheologe“, meint er, und es ist ihm damit so ernst, wie wenn er - ohne jeden selbstkritischen Blick auf die Kirchengeschichte - „Gehorsam und Treue zur Tradition“ predigt.

Was da scheinbar so nahtlos verbunden ist, gehört zum wohl schwerwiegendsten der Widersprüche dieses Pontifikats. Noch nie ist aus dem Vatikan so viel für Menschenrechte, Freiheit, Dialog und Kollegialität plädiert worden wie unter Johannes Paul II., während gleichzeitig der Eindruck von Bevormundung, Unan-sprechbarkeit und Zentralismus wächst. Zum Teil ist das automatische Folge der heutigen Kommunikationsmöglichkeiten; durch sie sind Papst und Bischöfe in aller Welt einander so nahegerückt, daß Rom mit fast jeder lokalen Situation, jedem ortskirchlichen Problem irgendwie befaßt wird — auch ohne daß eine „DeNuntiatur“ im Spiel ist (wie ein böser Klerikerwitz argwöhnt).

Die paradoxe Kehrseite der viel beklagten Tendenz zur „zentrali-stischen Disziplinierung und doktrinären Verengung“ (so die katholische „Herder-Korrespondenz“) ist die Umständlichkeit, Leistungsschwäche und Entscheidungsscheu der römischen

Kurie, dieser ältesten Bürokratie der Welt; sie ächzt unter der Last ihrer selbst nicht nur in den Kongregationen und Sekretariaten, von denen die meisten personell unterbesetzt und überfordert sind, sondern bis hinauf zum Chef von Vatikanstaat und Weltkirche.

Schon als Krakauer Bischof saß er ungern am Schreibtisch - es sei denn um schriftlich zu meditieren. Auch als Papst schiebt er Entschlüsse vor sich her, vermeidet oder vertagt sie, ohne jedoch die Zeit zu ausreichender Information zu nutzen. So bleiben wichtige Bischofsstühle lange unbesetzt oder werden nach Zögern und Zweifeln so besetzt, daß die Herde über die Hirten in Unruhe gerät.

Kardinal Ratzinger ist zum unentbehrlichsten Mitarbeiter des Papstes schon deshalb geworden, weil er vordenkt oder nachliefert, was diesem weniger zur Verfügung steht: theologische Präzision und intellektuell geschliffene Formulierungskunst. Ratzinger, der ebenso ein „Fremder“ im Vatikan blieb (und zu dessen „Apparat“ mehr Distanz hält als seine Kritiker wissen), dürfte den Papst aber auch in seiner Neigung bestärken, das Regieren nicht so wichtig zu nehmen wie das Predigen.

Johannes Pauls Vision eines christlichen Europa „vom Atlantik zum Ural“ riskiert zwar das Lächeln abgebrühter Realpolitiker, aber sie kann auch, wie alle Utopien, unwägbare Energien in Bewegung setzen. Nicht wenn sie über die Köpfe des Straßburger Europarats hinwegschwebt, aber wenn sie — wie Anfang der achtziger Jahre in Polen — mit ihren Hoffnungsfunken ein revolutionäres Potential entzündet.

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