Kirche - © Illustration: R. Messerklinger

Deutungshoheit in der Kirche: Päpstlicher als der Papst?

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„Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, und der Fall ist erledigt“, gilt längst nicht mehr. Oder: wie sich katholische Identitätsstrategien in den Abgrund manövrieren. Eine Analyse.

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„Roma locuta, causa finita – Rom hat gesprochen, und der Fall ist erledigt“, gilt längst nicht mehr. Oder: wie sich katholische Identitätsstrategien in den Abgrund manövrieren. Eine Analyse.

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Ein Sommerloch hat es in diesem Jahr im theologischen und kirchlichen Sinn nicht wirklich gegeben. Dies lag weniger an den Temperaturen oder Wetterkapriolen, sondern vielmehr an der Tatsache, dass sich die katholische Kirche mittlerweile seit Jahrzehnten in einem Dauerzwist befindet.

„Was ist katholisch?“, könnte die Stimmungslage in zahlreichen Brennpunkten wohl gut zusammenfassen – dass dies auch der Buchtitel einer Neuerscheinung des konservativen Kardinals Gerhard Ludwig Müller ist, zeigt, wie brisant und bedrängend die Frage nach dem entscheidenden Kriterium römischer Kirchlichkeit offenbar anmutet. Obwohl dies selbstverständlich keine neue Frage ist und die Thematik die Kirche seit Jahrhunderten beschäftigt, stellt sie sich vor dem Hintergrund aktueller gesellschafts- und kirchenpolitischer Umwälzungen neu.

Wogen um ein Papstdokument

In diesem Jahr war es besonders das päpstliche Dokument „Traditionis custodes“ , das die Gemüter erhitzte. Mit dem Schreiben hatte Papst Franziskus den Gebrauch der „alten Messe“, also der Liturgie nach dem Messbuch von 1962, neu geregelt und deutlich eingeschränkt. Die Wogen, die mit diesem päpstlichen Schreiben am 16. Juli losgetreten wurden, sind noch lange nicht verflogen. Bereits kurz nach der Veröffentlichung der pontifikalen Note kam es zu heftigen Reaktionen.

Während es von liberaler Seite Beifallsstürme, von gemäßigten Beobachtern Skepsis bis hin zu Wohlwollen gab, war besonders der Aufschrei in traditionalistischen Gruppierungen enorm. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass dieser Schritt besonders von traditionell ausgerichteten Kreisen, denen das Feiern des tridentinischen Ritus ein besonderes Anliegen ist, nicht kampflos akzeptiert wird.

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Was diese Episode katholischer Kirchenpolitik zum Vorschein brachte, ist jedoch nicht auf die liturgische Diskussion beschränkt. Vielmehr zeigt sich hier exemplarisch, in welch verworrener Situation die römisch-katholische Kirche seit Jahrzehnten steckt. Beispielhaft manifestierte sich der offene Kampf um die Deutehoheit der Katholizität – und der Widerspruch, der Papst Franziskus entgegenweht, macht deutlich, dass sich Richtungsfragen in der Kirche nicht mehr durch päpstliche Entscheidungen reglementieren lassen.

Dies hat mehrere Gründe: Zum einen stellte sich Franziskus in seinem Schreiben explizit gegen die Richtung seiner Amtsvorgänger, zum anderen werden seine päpstlichen Entscheidungen schon lange in die Kategorisierung zwischen „Bruch“ oder „Kontinuität“ der Tradition kritisch beäugt. Mittlerweile haben regionale katholische Medien, oftmals privat finanzierte Kanäle und Sender, mehr Einflusspotenzial als die offiziellen Medienorgane des Heiligen Stuhls.

Besonders auf den amerikanischen Kontinenten, aber auch im afrikanischen und zunehmend im euroasiatischen Raum erfolgt die kirchenpolitische Positionierung nicht selten über Amtsträger, die kirchlich gesehen in der „zweiten Reihe“ stehen, aber medienwirksam auftreten und gezielt Stimmung machen. In einem solchen Gefüge steht der Papst kirchenrechtlich natürlich weiterhin über seinen Amtskollegen, in der Wahrnehmung der Menschen aber wird der Papst durch die Kommentatoren und Medienkanäle zu dem stilisiert, den die jeweiligen Gruppen sehen oder hören sollen: zwischen Reform und Tradition, Gefahr und Hoffnung, Zuversicht oder Angst, zwischen links und rechts, zwischen „woke“ und „traditionell“, zwischen „Boomer“ oder „Influencer“.

Schier unlösbare Probleme

Diese teils in scharfem Gegensatz konstruierten Bilder treffen mit dem Papst aber den Kern jenes Systems, das seit dem 19. Jahrhundert streng zentralistisch auf die höchste Leitungsmacht in der Person des Bischofs von Rom hin orientiert wurde. Der Nachfolger Petri ist hierbei als oberster Hirte sichtbarer Garant und judikative Entscheidungsinstanz im Sinne der kirchlichen Einheit – sein Wort besitzt Macht, seine Äußerungen im Denken römischer Amtskirche besondere Autorität. Ein päpstlicher Erlass soll der argumentative Schlussstein im komplexen Gefüge theologischer Autoritätsgefälle und innerkirchlicher Grabenkämpfe sein, seine Person vereinen, was durch menschliche, allzu menschliche, Kämpfe auseinanderzufallen droht. So zumindest die Theorie.

Die vergangenen Jahre der katholischen Kirchenpolitik sprechen jedoch eine andere Sprache: Das System des römischen Zentrismus steht vor schier unlösbaren Problemen – und die Frage nach der liturgischen Form ist dabei nur eine Baustelle unter vielen, wenngleich auch eine der symbolträchtigsten. Dass es dann besonders Amtsträger wie Kardinal Müller oder Kardinal Robert Sarah sind, die den katholischen Glauben definieren wollen, zeigt, wie aufgeregt besonders die konservativen Kreise angesichts aktueller Probleme sind.

Nicht einmal der Bischof von Rom, also der Papst, ist vor der Traditionskeule konservativer Kräfte mehr sicher.

Einer theologischen Breite, die sich der „Woke“-Kultur und damit einer neuen Achtsamkeits-, Gleichheits- und Freiheitsdebatte anschließen möchte, steht eine fast versteinert anmutende Barriere konservativer Kirchenpolitik gegenüber, die alle Entwicklungen des „Zeitgeistes“ mit einem Federstrich verteufelt. Ja, die Distanz innerhalb der katholischen Lager mutet auf weite Strecken fundamentaler und unüberwindbarer an als die Unterschiede zu anderen Konfessionen, Religionen oder gar der säkularen Welt.

Zahlreiche Gläubige, universitäre Theologien oder Ortskirchen gehen nicht selten schon ihren eigenen Weg. Sie haben sich in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen scheinbar aus dem Korsett des römischen Zentralismus befreit – und an diesen Punkten gleichen sich die liberalen Kreise ebenso wie die konservativen. Besonders die beharrenden Kräfte jedoch haben ihre Strategien sichtlich geändert: Ihnen geht es zunehmend um Einfluss in den regionalen Bischofskonferenzen.

Die wenigen Stimmen in konservativen Medien treten umso lauter auf, die reaktionären Kräfte suchen sich ihre eigenen Identifikationsfiguren – und finden diese in offenen Kritikern der Reformlinie von Papst Franziskus. Dabei scheut man mittlerweile auch nicht mehr davor zurück, den amtierenden Papst und seine Entscheidungen gegen das Traditionsargument auszuspielen.

Kein Schlusspunkt mehr

Was noch vor Jahren undenkbar schien, wird nunmehr in die Tat umgesetzt: Dem Papst wird deutlich gemacht, dass er nicht die Gewalt darüber hat, ob er päpstlich ist oder nicht. Der katholische Spannungsbogen wird zum Zerreißen gespannt: Nicht einmal der Bischof von Rom ist vor der Traditionskeule konservativer Kräfte mehr sicher. Sie rütteln an dem System, auf das sie sich eigentlich stützen wollen.

Wenn man die Entwicklungen der letzten Monate ernst nimmt, wird deutlich, dass die päpstlichen Worte keinesfalls mehr so einfach Schlusspunkte in die Diskussionen einführen können, sondern dass der Papst, seine Person und Ausrichtung selbst Gegenstand des immer verbitterter erscheinenden Identitätsdiskurses werden. Das heißt aber wiederum, dass die formal papstzentrierte Strategie römischer Amtstheologie zu implodieren droht.

Wenn der Zentralisationspunkt des kirchlichen Systems unsicher geworden ist, dann zeigt sich umso deutlicher, dass die Kirche ihre Legitimität nicht aus sich selbst heraus gewinnt, sondern vielmehr durch ihre pastorale Wirksamkeit. Zu dieser sollte die Kirche auch schleunigst wieder zurückfinden, wenn sie ihre Botschaft glaubwürdig und nahe an den Menschen der Zeit repräsentieren möchte.

Der Autor ist Erwachsenenbildner, Theologe und Publizist in Salzburg.

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