Sarah - © Foto: Koichi Kamoshida / EPA / picturedesk.com

Zerbrechliche Autorität(en)

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Die anhaltende Aufregung und der aktuelle vatikanische Paukenschlag rund um das „Zölibatsbuch“ von Kardinal Sarah zeigen, wie die katholische Diskursgesellschaft an ihre Grenzen kommt.

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Die anhaltende Aufregung und der aktuelle vatikanische Paukenschlag rund um das „Zölibatsbuch“ von Kardinal Sarah zeigen, wie die katholische Diskursgesellschaft an ihre Grenzen kommt.

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Der kirchenpolitisch aufgewirbelte Staub nach dem öffentlichen Verwirrspiel um das „Zölibats“-Buch von Kardinal Robert Sarah hatte sich zwar etwas gelegt, doch nun kam es zur Eskalation: Papst Franziskus hat Erzbischof Georg Gänswein, den Privatsekretär von Benedikt XVI., von seinem Amt als Leiter des Päpstlichen Hauses beurlaubt. Die anhaltende Aufregung mit nunmehriger Zuspitzung ist kein Wunder: Schließlich geht es bei der Debatte um die zunächst inszenierte, dann bestrittene und schließlich halb zurückgenommene Co-Autorenschaft des emeritierten Papstes Benedikt XVI. um kein Nebenthema der katholischen Kirche.

Aber nein, der Pflichtzölibat ist damit nicht gemeint. Ehelosigkeit hin, Ehelosigkeit her, verpflichtend, freiwillig oder empfohlen – das Problem, das während der letzten Wochen an zahlreichen Schauplätzen, von denen der Zölibat nur einer ist, an die Oberfläche drängt, reicht tiefer. Es geht um die Frage, wer in den kirchlichen Streitthemen autoritative Gewalt für sich beanspruchen, sich also die Stimmgewalt innerhalb der Kirchengrenzen sichern kann. Anders gesagt: Wer hat das Sagen in der Kirche?

Öffentliche Dispute

Die Lage ist unüberschaubar geworden: An allen Ecken und Enden scheint es in der römischen Gemeinschaft Diskussionsbedarf zu geben. Dass viele dieser Dispute auch in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, kann zwar als gut gelten, nur steht das der oftmals proklamierten Einheitlichkeit des katholischen Lehramtes eher entgegen. Die höchsten Leitungsgremien, also die bischöflichen Hirten, mit oder ohne Kardinalshut, sprechen heute keinesfalls nur mehr mit einer Stimme. Sie bilden vermehrt eine Vielstimmigkeit und tragen auf diese Weise auch ihren Dissens offen nach außen. Die Themen, die heute diskutiert werden, sind umkämpft: Immer mehr Tabuzonen fallen, selbst Oberhirten greifen die „heißen Eisen“ an, sogar lange totgeschwiegene Fragen tauchen erneut auf. Um sich aber in der immer hitzigeren Diskussion durchzusetzen, bemühen alle Seiten – in guter, römischer Tradition – autoritative Argumente. Man beruft sich auf biblische Quellen, Kirchenlehrer, Päpste oder offizielle Kirchentexte, um endlich einen rettenden Ausweg oder eine letztgültige Erledigung dieser Fragen zu erreichen.

Damit wird der emeritierte Papst zu einem eigentlich surreal-gespenstischen Autoritätsproblem innerhalb der Kirche.

Beinahe scheint es in dieser Situation verständlich, wenn sich alle Seiten nach dem argumentativen „Schlussstein“ in der Auseinandersetzung sehnen und dafür nicht selten nach Rom blicken. Quasi: Auf der Suche nach dem berühmten „letzten Wort“ muss es wieder einmal die päpstliche Autorität richten. Dies dachte sich wohl auch Kardinal Robert Sarah, als er sein konservatives Buch über die priesterliche Lebensform unter der Mitwirkung von Benedikt XVI. herausgegeben hatte. Dass er damit aber eine innere Identitätskrise der katholischen Kirche befeuert, wurde von ihm wohl für das kirchenpolitische Schwergewicht eines (quasi-)päpstlichen Argumentes in Kauf genommen, möglicherweise sogar bewusst inszeniert.

Lebende Tradition?

Ganz allgemein kann gelten: Päpste sind in der katholischen Welt immer eine besondere Quelle für Autorität – dabei ist es zunächst auch unerheblich, ob ein Heiliger Vater noch Pulsschlag in sich spürt oder nicht. Ein päpstliches Wort hat selbst dann noch Schlagkraft, wenn die jeweilige Person schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilt. Dass nachfolgende Päpste ihre Entscheidungen mit der geschichtlichen Tradition ihrer verblichenen Amtsbrüder abzustimmen hatten, ist somit keinesfalls neu. Schließlich steht der Nachfolger Petri in einer jahrhundertelangen Dynamik. Dieses Zueinander des Vergangenen und Gegenwärtigen konstelliert sich nunmehr jedoch auf eine neue Weise: Nach dem Rücktritt Benedikts XVI. im Jahr 2013 gibt es zwar weiterhin nur einen Papst im Amt, aber der emeritierte Pontifex wirkt symbolisch wie die noch lebende Tradition der Vergangenheit, mit der sich der „Neue“ zu arrangieren hat.

Die Lehre eines toten Papstes aufzugeben oder bloß geringfügig zu modifizieren, mag schon schwierig erscheinen. Die eines noch lebenden pontifikalen Vorgängers? Unmöglich. Dazu kommt die Tatsache, dass der Zurückgetretene immer noch die ideale Wunschvorstellung zahlreicher Gruppen, sprich eine kirchenpolitische Utopie ist, die manche gerne wieder reaktivieren oder zurücksehnen würden, obwohl das schlichtweg unmöglich ist. Damit wird der emeritierte Papst zu einem eigentlich surreal-gespenstischen Autoritätsproblem innerhalb der Kirche. Dieses Problem gäbe es übrigens wohl auch, wenn der Emeritus wirklich nicht mehr öffentlich auftreten und Stellung beziehen würde. Fraglich, ob es etwas helfen würde, wenn der emeritierte Papst seinen bürgerlichen Namen wieder annehmen oder nur mehr schwarz tragen würde – selbst in diesem Fall würden sich immer noch Gruppen auf ihn berufen, um seine theologische Position möglichst vor den Karren der eigenen kirchenpolitischen Sichtweise zu spannen. Die Gräben, die rivalisierende Gruppierungen heute voneinander trennen, sind tiefer geworden und nicht selten werfen sich die Streitparteien gegenseitig vor, jeweils die Schuld an der misslichen Lage der Kirche zu tragen. Endzeitstimmung sozusagen.

An diesem Punkt wird die Diskurskultur der Kirche gegenwärtig auf eine harte Probe gestellt: Die Argumente werden oftmals nicht mehr mit dem Ziel einer inhaltlichen Auseinandersetzung angeführt, sondern in ihnen erhoffen sich die Diskursteilnehmer den berühmten Vorschlaghammer. Hier steht nicht mehr die „Synthese“, also das Zusammenführen der Positionen auf einer gemeinsamen Ebene, im Mittelpunkt (wie etwa in der mittelalterlichen Scholastik), sondern die offene Dekonstruktion der Gegenseite. Nicht dass es solche Streitpunkte erst im 21. Jahrhundert gäbe. Im Gegenteil. Dennoch multiplizieren sich die Fronten und Intensitäten der Auseinandersetzungen mit der Zunahme von heiß diskutierten Problemstellungen, Krisen, möglichen Lösungsvorschlägen und auch mit der Zahl der Diskursteilnehmer. Die Gefahr: Die Autoritäten der katholischen Tradition demolieren sich gegenseitig.

Das Buchprojekt Kardinal Sarahs ist ein symptomatischer Ausdruck des veränderten Diskursrahmens in der Kirche: Die Berufung auf die päpstliche Autorität Benedikts ist verführerisch – gleichzeitig ist sie aber auch selbstzerstörerisch, da sie die päpstliche Macht des amtierenden Papstes mit einer utopischen Gegenautorität relativieren will. Was Kardinal Sarah offenbar nicht sieht: Er sägt an jener katholischen Tradition, auf die er sich dem Anschein nach berufen möchte. Er verschärft das Problem, indem er den Emeritus als pseudoaktiven Diskursteilnehmer revitalisiert. Dieses Spiel ist gefährlich, da die tragende Rolle des Papstes, die eigentlich Garant der Einheit der Kirche sein sollte, unter dem konstruierten Gewicht einer auctoritas emerita zusammenbrechen könnte.

Autorität wird hinterfragbar

Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich jahrhundertelang auf autoritative Größen berufen hat bzw. diese zu den Gallionsfiguren der eigenen kirchenpolitischen Meinung gemacht hat, ist brüchig geworden. Dies gilt für säkulare Autoritäten wie auch für kirchliche. Deren unhinterfragte Geltung oder die Vorstellung, dass man über diese Bezugsgrößen einfachhin verfügen könnte, gibt es nicht mehr. Die auctoritas ist ein höchst umstrittener Diskussionsplatz geworden. Die päpstliche Autorität ist da keinesfalls eine Ausnahme, sondern treibt das Problem auf die Spitze. Dazu kommt, dass der „Fels der Kirche“ in der heutigen Auseinandersetzung keinesfalls ausschließlich selbst-, sondern in zunehmendem Maß auch fremdbestimmt ist. Und Benedikt selbst?

Dass sich das Diskursproblem der Kirche noch einmal verstärkt, wenn der emeritierte Papst zwar schweigen wollte, dies aber offensichtlich nicht kann oder will, ist bereits genügend dargelegt worden. Das eigentliche Problem aber könnte wohl auch sein Schweigen nicht lösen: An seiner Rolle dieser Geschichte wird traurig sichtbar, dass er einerseits das Ausmaß, in dem er wiederum im komplexen kirchlichen Diskurs instrumentalisiert wird, nicht einfach kontrollieren kann. Andererseits aber macht Benedikt das Problem größer, indem er mit einer Stimme im katholischen Diskurs auftreten möchte (nämlich als Benedikt XVI.), die ihm aber so nicht mehr zukommt bzw. von der er sich selbst verabschiedet hat.

Der Autor ist Theologe und Erwachsenenbildner in Salzburg.

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