Thierse - © Foto: Imago / photothek

Wolfgang Thierse über Identitätspolitik: „Unter kollektivem Verdacht“

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Radikale Identitätspolitik spaltet die Gesellschaft, sagt Wolfgang Thierse, deutscher Bundestagspräsident a. D. Ein Interview über Mut, Interessen und die eigene Befindlichkeit.

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Radikale Identitätspolitik spaltet die Gesellschaft, sagt Wolfgang Thierse, deutscher Bundestagspräsident a. D. Ein Interview über Mut, Interessen und die eigene Befindlichkeit.

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Bis heute lässt ein Gastbeitrag des SPD-Politikers Wolfgang Thierse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Februar 2021 die Wogen hochgehen: Er sei besorgt, so Thierse, mit welcher Aggression und Heftigkeit Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender mittlerweile geführt würden. Auch dominierten Fragen ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität den politischen Diskurs, was verteilungspolitische Themen verdränge. Im Gespräch mit der FURCHE präzisiert der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages (1998 bis 2005) seine Kritik und erklärt, warum Ansprüche von Minderheiten aus seiner Sicht nur unter Einbeziehung der Mehrheitsgesellschaft durchgesetzt werden können.

DIE FURCHE: Herr Thierse, wann haben Sie beschlossen, sich in Bezug auf identitätspolitische Bewegungen zu Wort zu melden? Was gab den Ausschlag dafür?
Wolfgang Thierse:
Es war eine Fülle von Beobachtungen, die mich dazu angeregt haben, einmal meine Besorgnis aufzuschreiben und eine Mahnung zu formulieren. Offensichtlich habe ich einen Nerv getroffen. Ich habe auf der einen Seite einen Shitstorm erfahren, organisiert von Schwulenorganisationen, die mir AfD-Sprech, Minderheitenfeindlichkeit und Rassismus vorgeworfen haben. Auf der anderen Seite habe ich eine überwältigende Welle von Zustimmung erlebt – wie noch nie in meinen 30 Jahren in der Politik. Mir haben viele – darunter etliche Journalisten – für meinen Mut gedankt.

DIE FURCHE: Warum Mut?
Thierse:
Mir wurde gesagt, ich hätte etwas ausgesprochen, was viele Menschen bewegt, besorgt und was sie selbst nicht mehr auszusprechen wagen. Und das ist eine bestürzende Bestätigung meiner Besorgnis.

DIE FURCHE: Was verstehen Sie eigentlich genau unter Identitätspolitik – und wie würden Sie diese zum Beispiel einer Stammtischrunde erklären?
Thierse:
Den Begriff habe ja nicht ich erfunden. Ich habe ihn in meiner Argumentation nur aufgenommen. Ich reagiere auf das Wort. Was meint es? Das radikal subjektive Eintreten für Interessen, die aus der eigenen Betroffenheit herrühren.

DIE FURCHE: Wie sollen in einer zunehmend diversen Gesellschaft Minderheitenrechte durchgesetzt werden?
Thierse:
Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Sie steckt voller Konfliktpotenzial und ist keine Idylle. Damit die Vielfalt – die zu bejahende Vielfalt – auch friedlich gelebt werden kann, muss neben den Respekt und der Anerkennung von Unterschieden auch das Interesse für Gemeinsamkeiten und das Verbindende treten.

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