Goodall - © Foto: Vincent Calmel

Jane Goodall: „Affen haben Moral und Kultur“

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Jane Goodall über die Lektionen der Coronakrise, das spirituelle Empfinden von Schimpansen und das sich anbahnende neue Verhältnis von Mensch und Tier.

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Jane Goodall über die Lektionen der Coronakrise, das spirituelle Empfinden von Schimpansen und das sich anbahnende neue Verhältnis von Mensch und Tier.

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Als Jane Goodall 1960 begann, wilde Schimpansen im Gombe-Stream-Nationalpark in Tansania zu erforschen, eröffnete sie der Wissenschaft eine neue Welt. Seither wurden erstaunliche Befunde über die Menschenaffen zusammengetragen, die jedoch weiterhin für so manches Rätsel sorgen. Mit dem Jane-Goodall-Institut (JGI), das mittlerweile auch in Wien eine Niederlassung hat, gründete die Britin 1977 eine internationale Tier- und Umweltschutzorganisation, die sich heute für den globalen Artenschutz engagiert. Die FURCHE konnte mit der 87-jährigen Verhaltensforscherin und Tierrechtsaktivistin ein schriftliches Interview führen.

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DIE FURCHE: Frau Goodall, wie geht es Ihnen derzeit in der Coronakrise?
Jane Goodall: Seit über einem Jahr bin ich hier in Bournemouth, wo mein Elternhaus steht, das ich mit meiner Schwester Judy bewohne – und beschäftigter als je zuvor! Zuerst war ich frustriert, weil ich wegen Covid festgesessen bin. Aber zum Glück war ich zu Hause, als die Pandemie begann. Und mir wurde klar, dass ich das Beste daraus machen musste. So haben wir mit einem Team des JGI die „virtuelle Jane“ geschaffen, und tatsächlich konnte ich Millionen mehr Menschen von meinem „Studio“ aus erreichen, als wenn ich wie sonst unterwegs gewesen wäre. Mein „Studio“ ist ein kleiner Tisch im Schlafzimmer, oben auf dem Dachboden. Ein kleiner Raum, vollgepackt mit Stativen, einem Mikrophon, Teleprompter und einer Kamera – für Interviews, Zooms, Skypes, Podcasts, Webinare und Videobotschaften. Ich bin total erschöpft, da es obendrein die viele Schreibarbeit gibt – für Artikel, Interviews, ach und die vielen Emails! Zwischen all dem arbeite ich an meinem nächsten Buch. Es heißt „Das Buch der Hoffnung“.

DIE FURCHE: Glauben Sie, dass die Menschheit aus der Krise lernen wird?
Goodall: Die Pandemie wurde teils durch unsere Respektlosigkeit gegenüber Tieren verursacht, aufgrund von Bedingungen, die den „Spillover“ eines Virus von Tier zu Mensch begünstigen. 75 Prozent aller neuen Erkrankungen des Menschen sind Zoonosen – so wie Covid, das jetzt zur Pandemie geworden ist, weil das Virus so hoch ansteckend ist. Aber auch der AIDSErreger HIV entstand durch menschlichen Kontakt mit Schimpansen in Zentralafrika. SARS kam von einem anderen Wildtiermarkt in China, MERS vom Baktrischen Kamel in Saudi-Arabien. Der Handel mit Tieren schafft unhygienische und grausame Bedingungen, egal ob sie als Lebensmittel oder exotische Haustiere verkauft werden, oder ob man ihre Felle und Häute feilbietet. Viele Zoonosen begannen auch in unhygienischen Fabrikfarmen. Wilderei und der weltweite illegale Handel mit exotischem Wildfleisch sind ein Riesengeschäft – auch der Export nach Europa. Dieses Business rangiert gleich nach dem Drogen- und Waffenhandel und ist ebenso skrupellos, ohne Rücksicht auf den Verlust von einmaligen Lebewesen, die vor der Ausrottung stehen. Wenn ich mir die globalen Entwicklungen ansehe, zweifle ich an der Lernfähigkeit der Menschen.

Wenn die Schimpansen Worte hätten, könnten sie wohl auch über das Gefühl von Ehrfurcht und Verwunderung sprechen.

Jane Goodall

DIE FURCHE: Schlägt die Natur jetzt zurück, wie manche Stimmen meinen?
Goodall: Wir sollten endlich erkennen, dass wir auf ein intaktes Ökosystem angewiesen sind. Das besteht aus miteinander verbundenen Pflanzen- und Tierarten. Wenn eine Art verschwindet, ist das vielleicht die Hauptnahrungsquelle einer anderen Art, und ihr Aussterben führt zu einem Welleneffekt, bis das ganze Ökosystem zusammenbrechen könnte. Sehen wir uns nur an, welche Veränderungen der Klimawandel für alle Menschen weltweit hervorruft! Entscheidend ist auch die Reinigung der Ozeane: Sie atmen CO₂ ein und geben Sauerstoff ab. Da die Meere immer verschmutzter werden, nimmt dieser Effekt ab. Dasselbe geschieht durch die Abholzung der Regenwälder, die andere große Lunge der Welt. Der respektlose Umgang mit Tieren hat überall verheerende Folgen.

DIE FURCHE: Lässt sich von den erstaunlichen Fähigkeiten der Menschenaffen bereits auf eine Art von Kultur schließen?
Goodall: Es gibt auf jeden Fall so etwas wie Kultur – Verhalten, das durch Beobachtung und Nachahmung von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird; diverse Gegenstände, die als Werkzeuge für verschiedene Zwecke verwendet werden; oder Nahrung, die an verschiedenen Orten unterschiedlich verzehrt wird. Ein Beispiel: Gombe-Schimpansen fressen die Frucht von Palmnüssen oder kauen an den Fasern der toten Blütenstiele. In Mahali, südlich von Gombe, gibt es zwar auch viele Palmen, aber die Schimpansen fressen nichts davon – Ölpalmen sind für sie keine Nahrungsquelle! Ich habe Schimpansen-Mütter und ältere Geschwister gesehen, die den Kindern das Essen wegschnalzen, weil es nicht Teil der „normalen“ Ernährung ist. Wenn Nahrung neu in die Kultur eingeführt wird, dann zunächst durch die neugierigen Kleinkinder.

DIE FURCHE: Kennen Menschenaffen auch moralisches Verhalten?
Goodall: Ich war entsetzt, als ich in Gombe erstmals beobachten musste, wie verfeindete Affengruppen Krieg gegeneinander führten. Aber ebenso konnte ich sehen, wie einzelne Tiere ein versöhnliches Verhalten, gegenseitige Fellpflege und demütige Gesten vor höherrangigen Schimpansen zeigten, um Ruhe und Frieden in der Gruppe zu schaffen. Ich sah trauernde Tiere, sowie Schimpansen, die andere vor Gefahren wie zum Beispiel Schlangen warnten. Und ich bemerkte, wie ältere Schimpansen die jüngeren und schwachen Familienmitglieder verteidigten und beschützten. Meiner Ansicht nach gibt es also sehr wohl Moral unter Schimpansen.

DIE FURCHE: Gibt es bei den Affen womöglich auch schon spirituelle Gefühle und Vorformen von Religion?
Goodall: Im Wald von Gombe gibt es einen Wasserfall, der für mich ein magischer Kraftplatz ist. Jedes Mal, wenn ich dort bin, suche ich diesen Ort auf. Wenn sich die Schimpansen diesem oder auch einem anderen Wasserfall nähern, hören sie den Donner, das Rauschen, wie das Wasser herunterstürzt. Manchmal sind sie ganz aufgeregt und sträuben ihre Haare. Sie zeigen dieses Verhalten über circa zehn Minuten. Aber dann können sie ruhig sitzend auf das fallende Wasser schauen und beobachten, wie es an ihnen vorbeifließt. Was ist das für ein Ding, das immer kommt, immer geht, und doch immer hier ist? Wenn sie Worte hätten, könnten sie vielleicht auch über das Gefühl von Ehrfurcht und Verwunderung sprechen. Und wer weiß, ob das nicht zu einer frühen animistischen Religion führen könnte – etwa der Anbetung der Sonne, des Mondes, und so weiter.

Goodall - © Foto: Twhe Jane Goodall Institute / Fernando Turmo

Jane Goodall

Mit ihrer Feldarbeit in Afrika setzte die britische Verhaltensforscherin Meilensteine in der Wissenschaft von den Menschenaffen (Primatologie).

Mit ihrer Feldarbeit in Afrika setzte die britische Verhaltensforscherin Meilensteine in der Wissenschaft von den Menschenaffen (Primatologie).

DIE FURCHE: An allen Ecken und Enden der akademischen Welt beginnt sich der menschliche Blick auf die Tiere zu verändern. Was aber verrät der Blick auf die Menschenaffen über uns selbst?
Goodall: Die Genforschung zeigt, wie wenig sich der Mensch von anderen Tieren unterscheidet. Obwohl wir den Menschenaffen so ähnlich sind – im Verhalten oder in der DNA-Übereinstimmung zu 98,6 Prozent –, sind wir doch anders. Das liegt wohl an der explosiven Entwicklung des menschlichen Gehirns. Schimpansen und viele andere Tiere sind zwar viel intelligenter, als wir einst dachten. Aber kein Tier könnte eine Rakete entwerfen, die zum Mars fliegt und einen fahrenden Roboter mitbringt, um Fotos zu machen. Umso schockierender, dass die geistbegabteste Kreatur, die je auf diesem Planeten wandelte, ihre einzige Heimat zerstören könnte. Wir haben die Weisheit verloren!

DIE FURCHE: Wo beginnt das Menschliche und wo endet das Tierische?
Goodall: Soweit bekannt sind wir die einzigen Wesen mit einer Sprache, die es uns ermöglicht, über die Vergangenheit zu sprechen oder Pläne für die ferne Zukunft zu machen, unser Wissen weiterzugeben und, was am wichtigsten ist, zusammenzukommen, um Wege zur Problemlösung zu verhandeln. Aber wir sind definitiv Teil des Tierreichs; nicht getrennt davon, wie die westliche Wissenschaft einst dachte. Die Gombe-Schimpansen halfen dabei, viele imaginäre Barrieren niederzureißen – den Glauben, dass nur wir einen Verstand haben; dass wir die einzigen Lebewesen mit Emotionen und einer Persönlichkeit sind. Das wiederum führte zu einem neuen Verständnis der wahren Natur vieler anderer Tiere und spiegelt sich heute in der biologischen Systematik: Der Mensch ist ein Teil der Familie der Menschenaffen.

DIE FURCHE: Wird sich das Verhältnis von Mensch und Tier bald auch über die Gesetzgebung verändern?
Goodall: Einiges ist schon geschehen: Immer mehr Länder haben Gesetze zum Tierschutz eingeführt; und die vielen Tierschutz- und Tierrechtsgruppen könnten weitere Veränderungen anstoßen. Wenn der Mensch versteht, dass Tiere Schmerz und Angst empfinden, fängt man an, differenzierter über diese Beziehung nachzudenken. Die Pandemie verdeutlicht drastisch, wie eng verbunden alle Lebewesen sind. Jetzt, wo es unsere Gesundheit betrifft, bemerken mehr Menschen, was weltweiter Handel mit Tieren, die Massentierhaltung sowie illegale Wildtiermärkte mit ihrem eigenen Leben zu tun haben können.

DIE FURCHE: Wie würden Sie Ihre Botschaft an die Menschheit kurz zusammenfassen? Goodall: Als ich als junges Mädchen an ein Leben in Afrika dachte, bestärkte mich meine Mutter darin, hart für die Erfüllung meiner Träume zu arbeiten und nie aufzugeben. Das möchte ich weitergeben. Ebenso, dass jeder und jede Einzelne etwas bewirken kann. Unsere Konsumentscheidungen im Alltag machen einen Unterschied: War die Herstellung umweltschädlich oder grausam zu Tieren? Ist ein Produkt zu billig aufgrund unfairer Löhne? Wenn ja, kaufen Sie es nicht!

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