Corona-Demo - © Foto: Tobias Steinmaurer / picturedesk.com

Zerbrechlichkeiten: Ein Rückblick auf 2021

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Das vergangene zweite Corona-Jahr hat neben der Fragilität des Körpers auch jene des Denkens, der Institutionen und der liberalen Demokratie offenbart. Ein essayistischer Rückblick.

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Das vergangene zweite Corona-Jahr hat neben der Fragilität des Körpers auch jene des Denkens, der Institutionen und der liberalen Demokratie offenbart. Ein essayistischer Rückblick.

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Wenn wir aus den letzten zwei Jahrzehnten etwas gelernt haben sollten, dann dies: Unsere Welt ist fragil. Es gibt die satte Stimmungslage, dass wir von luxuriösen Selbstverständlichkeiten umgeben sind, dass wir auf das Funktionieren der „Systeme“ allemal rechnen können, dass wir nicht hinter erreichte Standards von Freiheit und Wissen zurückfallen können, dass alles nur besser werden kann – wer sich immer noch in dieser Stimmungslage einlullt, hat die Verbindung zur Wirklichkeit verloren.

Die Zerbrechlichkeit der Körper ist die erste Dimension des Ungesicherten, die zu erkennen uns in den letzten beiden Jahren aufgenötigt wurde. Zuvor wollten wir die wirkliche Welt, eingelullt in die Vision von Fortschritt und Beherrschbarkeit, in ihrer Härte und Bosheit nicht wahrhaben. Epidemie – das war das 14. Jahrhundert. Oder wenigstens 1918. Oder Ebola, weit weg. Nun aber ist ein „Biest“ aufgetaucht, welches die sorgsam verdrängte Kategorie des Todes aus der Palliativstation in die täglichen Abendnachrichten befördert. Die anfängliche Perspektive war: kurzer epidemischer Notstand, dann Überwindung. Dieses Selbstbewusstsein haben wir abgebaut: Das „Ding“ wird uns im nächsten Jahrzehnt beschäftigen. Es kann die unterschiedlichsten evolutiven Szenarien geben. Doch niemand hat der Spezies, die sich als „weise“ bezeichnet, ihr Überleben versprochen.
Fragmentierung und Klüfte

Die Zerbrechlichkeit der menschlichen Gemeinwesen zeigt sich in der Krise. Eigentlich war es eine „kleine“ Krise, denn die Lebenswichtigkeiten, die Versorgungs- und Infrastruktursysteme, sind funktionsfähig geblieben. Doch in den westlichen Gesellschaften haben sich, vor dem Hintergrund eines bereits länger andauernden Prozesses der Fragmentierung und Polarisierung, feindselige Cluster gebildet: Cleavages, Klüfte, Spaltungen, Unversöhnlichkeiten. Darunter auch Retro-Visionen, Esoterisches, Anarchistisches, Führerideale, Fundamentalismen. Doch es gibt kein Zurück in heile, geschlossene Welten, man muss sich, mit einem Wort von Hans-Georg Soeffner, mit dem „fragilen Pluralismus“ der spätmodernen Welt, mit Differenzierung und Diversität, Ambivalenz und Kontingenz, arrangieren. In der Tat ist es unser Selbstverständnis, dass Kunterbuntheit auch zu unserer Lebensqualität beiträgt; doch ist deswegen die Frage nicht obsolet, welches Maß an Übereinstimmung, Sozialintegration oder Zugehörigkeitsgefühl vonnöten ist, damit eine Gesellschaft lebensdienlich funktioniert. Vielheit und Vielfalt sind nur möglich, wenn ein Rahmen besteht, innerhalb dessen sich die Unterschiedlichkeit nicht in Ressentiment verfestigt und nicht in Gewalt entlädt.

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