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Menschsein im Medienzeitalter

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Schriftlichkeit hat das Verbinden, Bewahren und Weitergeben des einmal Gefundenen ermöglicht. Unsere Kultur ist von der Wurzel her eine Schriftkultur: Heute zur Abwehr der „elektronischen Narkotisierung“ herausgefordert.

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Schriftlichkeit hat das Verbinden, Bewahren und Weitergeben des einmal Gefundenen ermöglicht. Unsere Kultur ist von der Wurzel her eine Schriftkultur: Heute zur Abwehr der „elektronischen Narkotisierung“ herausgefordert.

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Nach dem Urteil maßgeblicher Beobachter ist die Gegenwart - als Zeitgeschehen genommen - in einem Fortschritt zum Ursprung begriffen, sodaß die Zukunft als Wiederkehr erscheint. Was wiederkehrt, ist nach Max Weber der Mythos, nach Sigmund Freud die Utopie und nach Walter Wimmel die Schriftlichkeit.

Auf die Wiederkehr des eigentlich kulturtragenden Prinzips, der Schriftlichkeit, verwies Wimmel in seinem Werk „Die Kultur holt uns ein“ (1984). Grundlegend ist für ihn die Einsicht, daß sich der

Mensch, dieses „Wesen, dessen Vorgeschichte nach Jahrmillionen zählt“, innerhalb weniger tausend Jahre in die heutige Lage 'hineingeschrieben'“ hat. Denn die Schriftlichkeit überwand die dem Fortschritt durch das Gleichgewicht von „Neuschaffen und Verlust von Überlieferung“ angelegten Bremsen. Sie ermöglichte das „Befestigen, Verbinden, Bewahren und Weitergeben“ des einmal Gefundenen. Was die Kultur aber auf die jeweils höhere Plattform steigen ließ, war das mit der Schriftlichkeit gegebene Prinzip der Komparati-vität, des kreativen Rück Vergleichs:

Unter günstigen politischen -imperialen - Bedingungen weitet sich das zunächst in regional abgegrenzten Bereichen Entstandene zum „Großtext“ einer übergreifenden Kultur, der bei Überschreitung einer kritischen Größe dann freilich Unbehagen, Überdruß und Gegenreaktionen nach dem Motto „small is beautiful“ auslöst, die auf Zurücknahme, Verkleinerung und Reduktion dringen und als solche schon in der antiken Literatur zu beobachten sind.

Was die ungeheure Steigerung der Komparativität im Computer- und Medienzeitalter anlangt, so sieht Wimmel zwar eine ganze Kette von neuartigen geistigen Ansätzen, aber auch die Gefahr, daß in dem Fortsteigerungsprozeß die Schriftkultur sich gegen sich selbst kehrt.

Ihre aktuelle Brisanz erlangen die zutage geförderten Motive erst aufgrund der Einsicht, daß das Zentralproblem der Gegenwart in der rapiden Eskalation der Medienszene besteht. Denn darin behält ihr unnachsichtiger Kritiker Neil Post-man recht:

Was wir heute zu fürchten haben, sind nicht mehr - oder doch wieder? - jene, die Bücher verbrennen, sondern jene, die dem Menschen die Lust am Bücherlesen abgewöhnen; nicht mehr jene, die Informationen vorenthalten, sonderen jene, „die uns mit Informationen so sehr überhäufen, daß wir uns vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiege-lung retten können“; nicht mehr jene, welche die Wahrheit verheimlichen, sonderen jene, die sie „in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen lassen“; nicht mehr jene, die mit dem Aufbau einer „Trivialkultur“ das Geschäft der großen Täuschung betreiben, sondern jene, die aus dem fast grenzenlosen Verlangen des Menschen nach Zerstreuung Kapital schlagen.

Im Zug einer Verkettung dieser Motive könnte man sagen: Von der Entstehung der Schrift berichtet der Mythos, ihre Entwicklung führt im technischen Stadium zu einer Krise der Utopie, aber auch zu einem Konflikt der Medien, der an den „ewigen Kampf“ der mythischen Mächte erinnert.Den Mythos von der Entstehung der Schrift erzählt Piaton in „Phaidros“. Danach schildert der gottähnliche Erfinder Theuth dem ägyptischen Großkönig Thamus, daß er ein Mittel zur Stärkung von Gedächtnis und Weisheit ersonnen habe: die Schrift, durch die Ägypten zum weisesten aller Völker aufsteigen werde. Doch der Großkönig erwiderte ihm zu seiner Verblüffung, daß der Erfinder einer Kunst nicht auch für die Beurteilung ihres wahren Nutzwertes zuständig sei. Nicht für das Gedächtnis - im Sinn der platonischen Anamnesis - habe er ein Mittel ersonnen, sondern lediglich für die Erinnerung; die aber führe bestenfalls zu Vielwis-serei und Wissensdünkel, nicht aber zu wahrer Weisheit.

Zu Zwiespalt und Konflikt führte erst recht die Technisierung der Schrift im Buchdruck und der konkurrierenden Medien. Durch die drucktechnische Vervielfältigung wurde das Buch zur Ware, die heute, neben Wasch- und Nahrungsmitteln in Supermärkten erstanden werden kann. Mit der Entstehung der elektronischen Medien kam es jedoch zu einem Konflikt innerhalb der Hochtechnik, der ihre zentrale Wirkung der Umsetzung von Utopien in Realitäten in Frage stellte.

Zwar liegt auch die sich rapide fortentwickelnde Nachrichtentechnik im allgemeinen Trend, der nach Freud darauf abzielt, göttliche Attribute - in diesem Fall die Allwissenheit - in menschliche Verfügungsgewalt zu bringen. Während die Hochtechnik insgesamt jedoch darauf ausgeht, Märchenwünsche zu erfüllen (Freud), bewirkt das Fernsehen allabendlich das genaue Gegenteil davon: die Verwandlung der harten Alltagswirklichkeit in Traum und Show. Und seine suggestive Kraft - „the medium is the message“ (McLuhan) - geht insgesamt davon aus, daß es damit dem fast unersättlichen Zerstreuungsbedürfnis des durch die Leistungswelt überforderten Menschen entgegenkommt.

Metaphysisch gesehen aber ist seine Folge somit das „allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit“. Und wenn man sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigt, daß der religiöse Akt, insbesondere in seiner Urform, dem Gebet, auf Fühlung der Gottwirklichkeit, verallgemeinernd gesprochen: auf Wirklichkeitsgewinn abzielt, ist das Wort vom „strukturellen Atheismus“ des Fernsehens nicht zu hoch gegriffen .

Bevor der damit angeschnittenen Frage nach dem menschlichen Rückbezug genauer nachgegangen werden kann, ist der Kampf der Medien zu erwähnen, der an den Aufstand der jungen Götter des babylonischen Olymps gegen ihre Ur-mutter Tiämat erinnert.

Wenn auch die These vom Untergang der Schriftkultur vor den unbestreitbaren Tatsachen nicht standhält, läßt sich doch ebensowenig übersehen, daß eine der intimsten Gattungen der Schriftlichkeit - der Liebesbrief - durch das Telefon meuchlings hingemordet wurde und daß dem Lexikon im Zeitalter des Bildschirmtextes schon in absehbarer Zukunft dasselbe Schicksal bevorsteht. Dagegen sind die von den Medien auf die Schriftkultur ausgehenden Anreize nur schwer auszumachen, wenngleich mit derartigen Impulsen durchaus zu rechnen ist.

Die Medien verändern das Wirk-lichkeitsgefüge; sie verändern aufgrund ihrer Vermittlungsstrategie und nicht zuletzt ihrer dominanten Eigengesetzlichkeit die Botschaft. Spricht da nicht alles für die Vermutung, daß sie nicht weniger auch den rezipierenden Menschen verändern? Die Frage setzt voraus, daß sich der Mensch tatsächlich verändern, ja im Extremfall geradezu von sich selbst „abfallen“, auf jeden Fall aber, daß er durch Fremdbeeinflu-ßung zu einem anderen seiner selbst gemacht werden kann.

Doch genauso entspricht es der Selbsterfahrung des heutigen Menschen, der sich durch die Übermacht seiner Lebensverhältnisse - zunächst in der ersten Jahrhunderthälfte und weit darüber hinaus, der terroristischen, dann der persuasi-ven Diktatur - so sehr auf den Prüfstand gestellt sieht, daß sogar die Frage nach ihm neu gestellt werden muß. Nicht mehr im Sinn der klassischen, auf sein Wesen zielenden Was-Frage, die nach Kant alle möglichen Frageweisen der Philosophie, der Ethik und der Religion in sich zusammenfaßt, sondern die biblische Wo-Frage (Gen 3,5) , die ihn auf den „Ort“ seiner primordialen Geborgenheit und Sinnerfüllung hin zur Rede stellt.

In den mit dieser Frage - der Schlüsselfrage der Modal-Anthropologie - aufgerissenen Möglichkeitsspielraum stoßen die Medien hinein, genauer noch: in den Abgrund, in den sich der Mensch im

Fall seiner Selbstentfremdung fallen läßt. Sie tun es im Bund mit seinem-nachPostman- „fastgrenzenlosen“ Verlangen nach Zerstreuung und Entlastung. Ihre Faszination geht nicht zuletzt darauf zurück, daß sie diesem Verlangen auf dem Weg einer Ästhetisierung der Alltagswelt entgegenkommen.

Wie jedes Bild spricht auch das Fernsehbild den Rezipienten nicht als Faktum, sondern als Versprechen und Verheißung an. Es enthebt ihn der als trist und langweilig empfundenen Arbeitswelt und versetzt ihn in einen Zustand wohltuender Schwebe und Beziehungs-losigkeit, gegenständlich gesprochen: in eine Sphäre des Illusionären, in der ihm die harten Gegebenheiten des Alltags in einer schwerelosen, unverbindlichen und geschönten Abwandlung wiederbegegnen. Daß mit diesem Gewinn ein mehrfacher Beziehungsverlust verbunden ist, kommt ihm kaum je zu Bewußtsein.

Er äußert sich in erster Linie in der Lockerung des Sozialkontex-

(aus: medium 1/1985)

tes, denn Fernsehen vereinsamt, auch wenn es im Familienverbund rezipiert wird. Es betrifft sodann den Rezeptionsakt, sofern er die Denklogik einer ausgesprochenen Bildlogik unterwirft: Fernsehen narkotisiert. Und es greift in das Selbstverhältnis des Rezipienten ein; denn Fernsehen entfremdet, indem es die Bewußtseinsabläufe in einer an die mystische Inversion erinnernden Intensität an die Fremdregie der Apparatur ausliefert.

Die Schere der Auswirkungen öffnet sich somit denkbar weit. So hoch man den Informations- und Bildungseffekt der elektronischen Medien veranschlagen mag, so bedenklich steht es um die anthropologische Rückwirkung. In den Medien, insbesondere dem Fernsehen, schuf sich die moderne Lei-stungs- und Konsumgesellschaft das bisher perfekteste Instrument, den Menschen ihren spezifischen Zwecken, dem Gelderwerb durch ständig gesteigerte Leistung und dem Verlangen nach ungezügeltem Konsum, zu unterwerfen. Die Gewichte von „Haben und Sein“ ver-• schieben sich dadurch, wie Erich Fromm als eindringlicher Warner verdeutlichte, zugunsten einer wachsenden Hab-Gier.

Folgenschwerer ist jedoch die Beschädigung der menschlichen Konstitution. Denn der narkotisierte und mit Erfahrungen aus zweiter Hand überfütterte Mensch, der dadurch ebenso seiner Primärwelt wie sich selbst entfremdet wird, läuft Gefahr, zu einer Metapher seiner selbst verfremdet zu werden.

Wie ist gegenüber dieser eskalierenden Gefährdung Abhilfe möglich? Sicher nur in Form einer Gegensteuerung. Sie aber leistet keine Instanz wirksamer als die Erfindung des mythischen Theuth: die Schrift in ihrer modernen Gestalt als Buch. Denn das Buch stärkt tatsächlich, wie der Erfinder Theuth behauptet, das Gedächtnis und es mehrt die Weisheit.

Im Blick auf die Medien besagt das: Der elektronischen Narkotisierung gegenüber wirkt die Buchlektüre ernüchternd; der elektronischen Zerstreuung gegenüber nötigt das Buch zur Konzentration; und der elektronischen Entfremdung gegenüber verhilft die Lektüre zur Selbstaneignung.

Lesen beruhigt, es bringt auf Distanz. Wer liest, gewinnt Abstand von der Alltagswirklichkeit. Es entzieht ihrem Getümmel und ihrer Hektik. Lesen konzentriert. Es erfordert jenes Mindestmaß an Sammlung, ohne das kein Text aufgenommen werden kann. Und es holt den in das Buch „vertieften“ Leser immer mehr in sich selbst zurück.Lesen bewirkt Selbstfin-dung. Denn das Buch ist, wie (nach Jak 1,23) das getätigte Wort, wie ein Spiegel, in dem der Leser das eigene Gesicht erblickt.

Zuerst bedürfte es somit eines Wandels im Verhalten des Lesers. An ihm und dem von ihm „angemeldeten“ Bedarf liegt es letztlich, ob das Verlagswesen die Bedrohung durch die elektronischen Medien be- und überstehen kann. Gegenüber der im vorigen Jahrhundert herrschenden Lesewut und der gegenwärtig um sich greifenden Leseapathie müßte eine neue Lesekultur, getragen von einer behutsam geweckten Lesewilligkeit und Lesefreude, entwickelt werden. Und arbeitet nicht sogar das Zeitgeschehen darauf hin, sofern es im Zug der „Wiederkehr der Prinzipien“ daran erinnert, daß die gegenwärtige Kultur von ihrer Wurzel her Schriftkultur ist?

Sodann müßten aber die Verlegerermutigt werden, angesichts des anhaltenden Sterbens der nach Kriegsende wagemutig und erfolgreich ins Leben gerufenen, jetzt aber Mal um Mal von den Großkonzernen verschlungenen Unternehmen, unbeirrt einen Kurs zu steuern, der ihr Überleben und damit die Existenz ihrer Mitarbeiter garantiert, gleichzeitig aber auch ihre Doppelrolle als Pioniere und Konservatoren des geistigen Lebens bestätigt.

Unerläßlich ist dafür, daß das Prinzip der Selbstkontrolle gegen alle Versuche aufrecht erhalten wird, Autoren, Journalisten, Redakteure und Verleger einer staatlichen oder kirchlichen Kontrolle zu unterwerfen. Wer die Freiheit der Literatur, insbesondere der christlichen, beschränkt, entzieht ihr den Atemraum der Spontaneität, der Fähigkeit zu kreativer Entfaltung sowie aktiver Mitsprache und drängt sie, ob bewußt oder unbewußt, in jenes Ghetto zurück, aus dem sie sich unter größten Mühen und Opfern herausgearbeitet hatte.

Überdacht werden müßte aber schließlich auch die Position des Autors. Denn die gegenwärtige Schriftstellergeneration erweckt den Eindruck, sich in einem bedenklichen Anachronismus zu befinden. Während für ihre Leser längst das gebrochene Verhältnis zu Welt und Selbst zum quälenden Problem geworden ist, beschreiben sie seine Situation immer noch unter der sozialkritischen Perspektive der neomarxistischen Revolte. Nicht zuletzt müßte sie sich im Blick auf die durch den Zusammenbruch des Sowjetblocks drastisch beleuchtete Geisteswende dazu verstehen, ihre Inspiration dort zu suchen, wo die zentralen Probleme - und die Quellen der gegenwärtigen Lebensangst - liegen: im gestörten Verhältnis des heutigen Menschen zu seiner Welt, auch in ihrem kosmischen Verständnis, und zu sich selbst.

Der Autor war bis zu seiner Emeritierung Inhaberdes Romano-Guardini-Lehrstuhlsander Theologischen Fakultät der Universität München. Der Beitrag zitiert auszugsweise seinen Festvortrag beim 120-Jahre-Jubiläum der „Sty-ria“ am 3. November 1989 in Graz.

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