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FERNSEHEN - NÄHER BESEHEN

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Als vor mehr als dreißig Jahren das Radio aufkam und mit Neugier begrüßt wurde, gab es gewiß auch besorgte Menschen, die sich gegenüber dem neuen Instrument eher ablehnend als erwartungsvoll verhielten. Die große Mehrheit aber empfand die Erfindung des Radios als einen Triumph der Technik und den Rundfunk als große Chance für die Ausbreitung von Bildung und Kultur.

Anders waren nach dem zweiten Weltkrieg die Reaktionen auf die Ausbreitung des Fernsehens. In Europa jedenfalls, und dort wiederum vor allem in den intellektuellen Kreisen, setzte sich sehr bald ein handfestes und pauschales Ressentiment gegen das neu aufkommende publizistische und künstlerische Verbreitungsmittel fest. Den Anlaß für diese Antipathie boten a priori einerseits die Erfahrungen, die man mit dem Radio gemacht hatte (Massensuggestion, Dauerberieselung usw.), zum anderen gelangten aus dem klassischen Land der Television, aus den Vereinigten Staaten, Nachrichten und Zahlen nach Europa, die uns in Schrecken versetzten. Daher lehnte beispielsweise das Schweizer Volk 1957 die Fernsehvorlage der Regierung ab; ja in Bern wurde spontan eine Antifernsehbewegung gegründet. Inzwischen aber hat sich die Television auch in Europa stetig ausgebreitet. Je nach dem Stand der Entwicklung in den einzelnen Staaten stieg die Proportion zwischen Fernsehapparaten und Haushaltungen z. B. in Oesterreich auf 1:70, in der Schweiz auf 1:40, in Italien auf 1:18, in Frankreich auf 1:16, in Westdeutschland auf 1:10 und in Großbritannien sogar auf 1:1,7 an. Auch die Affekte gegen das neue Instrument sind einer milderen Form der Reserviertheit gewichen.

So wäre denn auch der Zeitpunkt gekommen, um einmal eine nüchterne und umfassende Ueberschau zu halten und um die Frage zu stellen, inwieweit das Fernsehen unsere Lebensgewohnheiten und unser Verhältnis zur Umwelt beeinflußt oder verändert. Wir müssen dabei zunächst eine grundsätzliche Feststellung treffen. Das Fernsehen ist kein völlig neues Phänomen, dem wir gewissermaßen unvorbereitet und wehrlos ausgeliefert sind. Es ist die folgerichtige Weiterentwicklung des Rundfunks. Um seine Wirkungen abzuschätzen, bieten uns daher die Erfahrungen mit dem Hörfunk schon recht gute Anhaltspunkte. Zählen wir also einmal die Hauptauswirkungen des Hörfunks während der dreißig Jahre seiner allgemeinen Verbreitung auf und knüpfen wir daran Betrachtungen über bereits erfolgte oder denkbare Weiterungen durch die Television!

Der Hörfunk ermöglichte eine nie zuvor dagewesene Mühelosigkeit der Information, der Belehrung und der Meinungsbildung. Der moderne Mensch ist dank Rundfunk über die Vorgänge in aller Welt erheblich besser im Bilde als der Zeitgenosse der Jahrhundertwende. Er ist intelligenter, weltoffener, auffassungsbegabter und anpassungsfähiger geworden. Ja, die Tatsache, daß dieses neue Verbreitungsmittel Gemeingut aller Schichten wurde, hat sich sehr günstig und mäßigend auf die sozialen Spannungen innerhalb der Gesellschaft ausgewirkt. Dem stehen aber auch nachteilige Auswirkungen gegenüber. Die schnelle Greifbarkeit der Information und auch das flüchtige Vorüberhuschen von inhaltlich sehr verschiedenen Meldungen, Belehrungen und Meinungen hat beim Durchschnittsmenschen eine passivere, ja bisweilen sogar fatalistische Grundhaltung gegenüber den öffentlichen Dingen zur Folge gehabt.

Das Fernsehen erlaubt nun eine noch viel unmittelbarere Anteilnahme am Zeitgeschehen. Der Zuschauer begegnet den Hauptakteuren der Zeit quasi persönlich und ist bei allen aktuellen Begebenheiten „mit von der Partie“. Freilich erlebt er häufig nur sehr äußerliche Vorgänge. Die Tagesschauberichte sagen daher in der Regel viel weniger über den

Kern der Ereignisse und über ihre innere Logik aus als die Meldungen und Berichte des Hörfunks. Mehr noch: sie können in gewissem Grade die Urteilskraft des Zuschauers einschläfern und seine Meinung oder gar sein Gewissen neutralisieren.

Aber man darf diese Feststellung nicht verallgemeinern. Sie trifft nur bei solchen „Oberflächenwiedergaben“ des Zeitgeschehens zu. In anderen Sendungen wiederum wird der Zuschauer unmittelbar an die Stätten der Entscheidungen (Parlamentsübertragungen), ins Zentrum eines Problems (z. B. Nahostdokumentarberichte usw.) oder an die verborgenen Orte erschütternder Notzustände (KZ-Berichte. Vertriebenenlagerszenen usw.) geführt; und wenn man mit solchen Sendungen Hilfsaktionen verband, zeigte sich doch auch eine große Aktivierung von Handlung und Gewissen. Natürlich gibt es auch Bluffeffekte und Suggestivwirkungen. Kein Zweig der Publizistik schließt sie aus. Doch hat sich beispielsweise gerade bei Parlamentsübertragungen im Fernsehen gezeigt, daß der Zuschauer gegenüber den Personen und den Vorgängen auf dem Bildschirm sehr kritisch ist, daß er beispielsweise dem fairen Gegner bisweilen mehr zugute hält als dem robusten und unfairen Streiter für seine eigene Meinung. Der Bildschirm vermag nämlich den Menschen noch besser zu enthüllen als der Lautsprecher. Amerikanische Publizisten schreiben so z. B. den politischen Abstieg des Inquisitors McCarthy zu einem beträchtlichen Teil seinem selbstentlarvenden Auftreten im Fernsehen zu. Auch vermuten viele, der Republikaner Eisenhower sei in erster Linie wegen seiner ruhigen und einfachen Art vor der Fernsehkamera wiedergewählt worden, obschon die Mehrheit der Amerikaner zu jener Zeit der Demokratischen Partei zuneigte.

Alles in allem, wenn auch die magazinartigen Kurzbildberichte eine Nivellierung der Meinungsbildung bewirken, so fördern andere Fernsehsendungen doch politisches Urteilsvermögen und kritische Persönlichkeitsbewertung. Es ist sogar durchaus denkbar, daß gerade die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den Persönlichkeiten der Politik mit zur Ueberwindung einer typischen Erscheinung der heutigen pluralistischen Gesellschaft beitragen wird: nämlich mir Ueberwindung des konformistischen Denkens nach Parteidoktrinen und Gruppeninteressen.

Der Hörfunk hat das Bildungsgut des Abendlandes an Bevölkerungsschichten herangeführt, die ihm zuvor absolut gleichgültig oder gar ablehnend gegenüberstanden. Die Beethoven-Symphonie im Arbeiterhaushalt ist natürlich auch heute noch keine Regel, aber sie ist jedoch längst keine Ausnahme mehr. Der Hörfunk brach damit zugleich auch in das Gefüge der bestehenden kulturellen Einrichtungen ein. Er wurde Konkurrent der örtlichen Orchester, der Theater, der Vortragszyklen.

Er hat sie nun aber ebensowenig ausgeschaltet wie etwa die Theater oder die örtlichen Kulturinstitutionen. Denn er blieb nicht nur die Konkurrenz der alten Kulturinstitute, sondern er wirkte auf die Dauer auch als Stimulans für sie. Durch eine Schiller-Aufführung im Radio wurden Tausende erst zum Theaterbesuch reif und durch die Leseprobe aus einem Buch wurde ein größerer Kreis auf eine Buchneuerscheinung aufmerksam gemacht.

Eben diese vermehrte Ausbreitung von kulturellen Werten rief indessen in den alten Bildungsschichten Unbehagen hervor. Die Schlagworte von der „Massenkultur“, von der „Inflation der Werte“ und der Verdacht der Nicht-bewältigung der kulturellen Werte durch diese neuen Schichten sind für dieses Unbehagen ebenso charakteristisch wie ein gewisses kulturelles Uebersättigungsgefühl dieser alten Bildungsschichten selbst.

Eine parallele Entwicklung zeichnet sich, mit einer Akzentverschiebung zum Visuellen hin, beim Fernsehen ab. Ein Stiefkind der privaten Filmwirtschaft, der Kulturfilm, kommt im Fernsehen in einer bildschirmgemäßen Form endlich zu verdienter Bedeutung. Ueber ferne Länder, fremde Menschentypen, kunsthandwerkliche Erzeugnisse, Kunstwerke und historische Erinnerungen hat das Fernsehen schon beachtliche Sendungen ausgestrahlt. Oft vermochte die Kamera sogar verborgene oder gar unzugängliche Kunstwerke mit den besonderen Mitteln der „Heranholung“ und der „Aus-leuchtung“ höchst wirkungsvoll wiederzugeben, ja wirkungsvoller als die Begegnung an Ort und Stelle. Doch auch hier wird die technische Perfektion und die Fülle des Angebots mit einem Opfer bezahlt, jedenfalls in den alten Bildungsschichten. Die wirkliche Begegnung mit berühmten Kunstwerken, fremden Landschaften, seltenen Pflanzen usw. büßt durch häufiges Fernsehen etwas von ihrem ursprünglichen Reiz ein. Wer in Salzburg z. B. die Pacher-Madonna aufsucht, der hat sie vielleicht schon zuvor im Fernsehen viel besser beleuchtet und viel „näher“ gesehen; oder wer zum ersten Male das Ufer von Sizilien betritt, dem steht vielleicht gar keine „Entdeckung“ mehr bevor, sondern nur ein „Wiedersehen“.

Auch das Fernsehen tritt gegenüber einigen kulturellen Einrichtungen zunächst als Konkurrenz auf. Nachgewiesen werden kann in allen Fernsehländern ein spürbarer Rückgang der Kinobesucherzahlen, so daß einige Filmproduzenten dazu übergegangen sind, auch Fernsehfilme zu drehen. Das Theater dagegen hat bisher kaum unter der Konkurrenz des Fernsehens zu leiden gehabt, ja es hat sogar den Anschein, als dürfe es mit einer wachsenden Besucherzahl rechnen, weil die Television neue Kreise zum Theaterbesuch anregt. Schließlich besagen Zahlen aus den USA, daß zwar bei den großen Illustrierten ein Rückgang der Käuferzahlen zu verzeichnen ist, daß indessen die Problembeiträge der dortigen Television-Networks den Wunsch nach ausführlicher Information inspiriert und somit die Nachfrage nach belehrenden Wochenzeitungen erhöht haben. Man sollte also mit dem pauschalen Vorwurf der „geistigen Verflachung durch Fernsehen“ sehr vorsichtig sein; er ist vielfach nur Ausdruck eines vorgefaßten Mißtrauens in intellektuellen Kreisen.

Hörfunk und Fernsehen haben unseren Bewußtseinsraum erheblich erweitert und unseren Lebensrhythmus beschleunigt. Unser Interesse ist von kleineren Bereichen, von der persönlichen Umwelt und von der engeren Heimat, auf größere Bereiche, ja auf die ganze Welt ausgedehnt worden. Für viele Schichten war dies ein Vorgang der geistigen Befreiung und der Horizontausdehnung. Auch wenn zugegeben werden muß, daß diese Freiheit von einem großen Prozentsatz noch nicht richtig genutzt wird, soll man nicht das Positive an diesem Faktum unterschätzen. Sicher ist freilich, daß wir unsere größere Beweglichkeit und Welt-„fühligkeit“ mit einem Verlust an Geborgenheitsgefühl bezahlen mußten. Stets sind wir mit dem Draußen verbunden, jede Erregung und jede Krankheit der Welt steckt uns unmittelbar an; der Lautsprecher stellte sozusagen die Telephonverbindung zum Draußen her, das Fernsehen reißt gar die „vierte Wand“ unserer Wohnstube auf, um die Welt in voller bild-baftiger Gegenwart erscheinen zu lassen. Kommt noch hinzu, daß die beiden Instrumente eine große Anziehungskraft ausüben und uns leicht zu einem Zuviel an Konsum verleiten. Dadurch verkümmern private Aktivitäten wie Hausmusik, Bastelarbeiten, Hobbies, Lektüre und anderes mehr.

Aber gerade hinsichtlich dieser letztgenannten Auswirkungen dürfen wir dem Fernsehen etwas mehr Vertrauen entgegenbringen, als die Kassandrarufe der Kulturpessimisten uns glauben machen. Während der Hörfunk nämlich bei vielen Hörern eine permanente Aufmerksamkeitsspaltung zur Gewohnheit werden ließ — linkes Ohr Radio, rechtes Ohr Tischgespräch —, bedarf die Fernsehsendung einer ungeteilten Aufmerksamkeit. So wird das Fernseherlebnis in der Regel ein abgeschlosseneres Erlebnis sein als das Hörerlebnis des Dauerhörers. Wichtig ist aber auch, daß man in der Häuslichkeit selbst und nicht in Gaststätten usw. fernsieht. Gerade die Gegner der Television fällen ihr Urteil oft nur auf Grund solcher Bildschirmbegegnungen im Kollektiv schwatzender und ablenkender Kaffeehausgäste. Vielfach wird aber auch auf den Fernsehrausch der Amerikaner hingewiesen, auf ihre Benützung des Fernsehens als Kinderbewahranstalt und auf die Passivierung des Menschen durch apathisches Anstarren des Bildschirms während vier, fünf, sechs Stunden am Tage. Dazu ist zu sagen, daß dieser Rausch der Amerikaner bereits etwas abgeklungen ist. Auch die gegenwärtige „Do't yourself!“-Parole mit ihrer Aufforderung zu selbsttätiger Feierabendgestaltung geht wirksam dagegen an. Man darf aber mit Sicherheit annehmen, daß selbst die jetzige, immer noch große Fernsehbereitschaft der Amerikaner bei uns niemals erreicht werden wird. Der Europäer ist gar nicht einer so naiven und unentwegten Begeisterung für neue technische „Wunder“ fähig wie die Amerikaner. Gewiß wird zwar auch bei uns der Fernsehneuling erst einmal ein paar Wochen lang ieden Abend vor dem Bildschirm verbringen. Mit der Zeit aber wird er wählerischer.

Hier liegt aber auch der Schlüssel zur vernünftigen Nutzung des neuen Mediums. Leider wurde weder bei Einführung des Radios noch bei Aufkommen der Television die Benützungsgebühr so wie bei Gas und Elektrizität nach der zeitlichen Dauer der Benützung gestaffelt. Wenn der einzelne für eine Hörfunkstunde oder für eine Fernsehstunde eine feste Summe bezahlen müßte, und sei es nur ein halber beziehungsweise ein ganzer Schilling, so gäbe es heute nicht das Phänomen der permanenten Ueberfütterung. Der Hörer bzw. Seher würde kritischer auswählen und auch beim Hören und Sehen selbst ein bewußteres Wertgefühl entwickeln. Denn es besteht kein Zweifel darüber: was man bezahlt hat, das ästimiert man mehr, als was einem ohne Opfer in den Schoß fällt. Die gleichbleibende Monatsgebühr für Radio-und Fernsehempfang ist also durchaus keine „soziale Einrichtung“, sie ist für viele Menschen ein Fluch, zumindest aber ist sie eine eminent starke Forderung an unser Verantwortungsgefühl gegenüber uns selbst. Denn es liegt allein bei uns selbst, jene kritische Auswahl aus dem Angebot der Fernsehstationen zu treffen, die uns das neue Instrument als einen guten Gefährten, nicht aber als chronischen Verführer erscheinen läßt!

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