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Literarische Ursprünge des Marxismus

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FRANZÖSISCHES THEATER DER AVANTGARDE. Herausgegeben von Joachim Schondorff. Verlag Langen-Müller, München, 1963. 498 Seiten, Paperback, Preis 7.80 DM. - UND NEUES LEBEN BLÜHT AUS DEN KULISSEN. Von Manfred Vogel. Hans-Deutsch-Verlag, Wien-Stuttgart-Basel, 1963. 288 Seiten, Preis 160 S. — DRAMEN. Von Max Zweig. Hans-Deutsch-Verlag, Wien-Stuttgart-Basel. Band I, 362 Seiten, Band II, 312 Seiten. Preis 95 S je Band.

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FRANZÖSISCHES THEATER DER AVANTGARDE. Herausgegeben von Joachim Schondorff. Verlag Langen-Müller, München, 1963. 498 Seiten, Paperback, Preis 7.80 DM. - UND NEUES LEBEN BLÜHT AUS DEN KULISSEN. Von Manfred Vogel. Hans-Deutsch-Verlag, Wien-Stuttgart-Basel, 1963. 288 Seiten, Preis 160 S. — DRAMEN. Von Max Zweig. Hans-Deutsch-Verlag, Wien-Stuttgart-Basel. Band I, 362 Seiten, Band II, 312 Seiten. Preis 95 S je Band.

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Im Bereich der durchaus sympathischen Hausse an für den Leser herausgegebenen Bühnenwerken, die in diversen billigen bis sündteuren Reihen erscheinen und ein Beweis mehr dafür sind, daß das Phänomen Theater heute lebendiger ist denn je, nimmt die Folge der Langen-Müller- Paperbacks eine Sonderstellung ein. Hier scheint nicht der Zufall sosehr in Verbindung mit dem Lockruf bestverkäuf- licher Bühnenbestseller der Vater der Wahl zu sein als vielmehr die vornehmere Verlegerpflicht sorgsamer und kenntnisreicher Zusammenstellung im Sinn geist- haltig aufgebauter und kontinuierlicher Information. Daß diese beim ersten Durchblättern auftretende Impression stimmt, zeigt in diesem Fall das eben weit genug ausholende Vorwort Schwab- Felischs, der es unternimmt, jedes denkbare Vorurteil gegen die Ergebnisse der Arbeit der emst zu nehmenden Avantgarde, soweit es im Bereich vernünftiger Diskutabilität liegt, a priori zu analysieren, ehe der weniger spezialisierte Leser in den folgenden Originaltexten auf Formen und Inhalte stößt, deren Sinn für den Unvorbereiteten um so mehr spanisch bleibt, als er ihn bloß liest und nicht durch die Vermittlung der Regie präsentiert bekommt.

Die besondere Tugend der Einführung liegt darin, daß die hier vorgestellten Werke (Audiberti, Tardieu, Schehadė, Adamow, Genet, Jonesco, Arrabal und Vian) gleichsam nicht mit Schockabsicht und als meteorisch vom Himmel gefallen in den Aspekt gesetzt werden, sondern als legitime Teile jenes Geistgeflechtes, das unsere Kultur ist, und mit dynamisch gedeuteten sichtbaren und (zunächst) unsichtbaren Fadenwurzeln in die jüngere und ältere Vergangenheit reichen. Zugleich wird ein Bild unserer Zeitsituation entworfen, in dem die Avantgardisten notwendig ihren Platz finden. Das heißt, daß ihre Problematik, die, ob wir es wissen und wollen oder nicht, auch die unsere ist als Bestandteil des Lebensstroms, nicht aber, horribile dictu, als Anschlag von dessen nihilistischen Feinden und Zerstörern. Allein das Thema des Grotesken, in kluge Beziehung gesetzt etwa zu den Picaro- Romanen (wir denken dabei geschwind an di Meisterschaft unseres Johann Beer, dessen eben bei der ‘Insel erschienene Romane „Die teutschen Winternächte" und „Die kurzweiligen Sommertäge“ mit ihrem Schelmentum auf eben dieser Tradition mitberuhen), zu Grimmelshausen, zu Eulenspiegel, eröffnet als signifikant für Übergangszeiten manchen Zugang, und wir sehen hinter dem, was uns stutzig macht oder bei erster Begegnung gar abstößt, die Sinnfülle tragischen Lebensgefühls aufleuchten. Wenn Schwab-Felisch weiter etwa bei Audiberti auf Kleist, Strindberg, Büchner, Lorca und die Surrealisten als geistige Ahne hinweist, beginnen wir an der „Modernität" deren historischen Anteil zu begreifen.

So verschieden die Charakteristika der einzelnen Autoren auch sind (über Schehadė etwa, der in Alexandria geboren ist und in Beirut lebt, schrieb Erich Fran- zen in „Formen des modernen Dramas , C.-H.-Beck-Verlag, München 1961: „Im Gegensatz zu Beckett vertraut er der magischen Kraft des Worts; er läßt sich von der Sprache in ein Phantasiereich tragen, in dem alle Dinge ihre Schwere verlieren und die Natur in ihrer ursprünglichen Reinheit erstrahlt.“ - Und Walter Hollerer merkte in „Spiele in einem Akt , ediert 1961 im Suhrkamp-Verlag, zu Genėt an: „Faszination und Ennui der psychischen Regung werden in den ,Zofen’ bis an die Grenzen ihrer Möglichkeit ausgespielt — und schließlich als bloße Vorwände überspielt."), hat doch jeder eine Botschaft an unsere Zeit zu tagen, möge sie uns behagen oder nicht. An uns liegt es, unsere Probleme in den Kristallflächen und Facetten der Kunst der Gegenwart aufleuchten zu sehen. Wer Beckett in diesem Band vergeblich sucht, findet zum Beispiel sein „Endspiel“ und „Warten auf Godot" in den sehr wohlfeilen deutsch-französischen Ausgaben der kleinen Suhrkamp-Bändchen.

Ein Volltreffer, geschaffen für Theaterfans ebenso wie für Fachleute im In- und Ausland, sind die Theaterstreifzüge durch Österreich: „Und neues Leben blüht aus den Kulissen“ von dem bekannten Theaterkritiker und Rundfunkkommentator Manfred Vogel. Gleich, ob man im Detail seiner Meinung ist oder nicht, ob man, zaust er einen unserer Bühnenlieb- linge, mit der Faust auf den Tisch schlägt oder aber findet, seine Kritik sei noch mild, man gewinnt eine geistreiche Lektüre, kräftig sprudelnd im Rhythmus der Premieren und Uraufführungen, ein Buch für den Arbeitstisch des Theaterwissenschaftlers infolge des Reichtums an Fakten, für den Praktiker infolge der Erläuterungen zur Regie- und Schauspielerleistung, ein Nachtkastelbuch aber auch für den Theaterbesucher, der denkwürdige Ereignisse noch einmal nacherleben und „seine" Schauspieler, Dirigenten, Orchester und Sänger in der Intimität stiller Stunden wieder lebendig sehen will.

Die Faszination, die von dem Werk ausgeht, ist schwer, vielleicht überhaupt nicht zu analysieren. Dennoch sei versucht, Teilaspekte des Gesamteindruckes zu verstehen. Da ist einmal das unverkennbar Österreichische des Was, Wo, Wie, woran Vogel sich entzündet, nämlich die Theaterwelt hierzulande, in der wir zwar viel missen, wie etwa den Wagemut der großen Subventionstheater, die aber doch, erkennbar immer wieder allein an Resümees wie hier, eine enorme Leistung der Zusammenschau heterogener Elemente evoziert, ein gut österreichisches Sowohl- als-auch. Sowohl Sophokles also, wenn auch mit exemplarischer Kritik an Rudolf Bayrs allzu direkt antikisierender Sprache im „Ödipus“, mit einem Strafgericht über Regie und Hauptdarsteller verbunden, beides aus Anlaß des Burgtheaterzyklus „Antikes Drama“ — als auch, beispielsweise Picasso oder Beckett, als auch „Orphėe“ von Cocteau, „Orpheus und Eurydike“ einmal von Gluck, das andere Mal von Kokoschka, diesmal (leider) nicht in der Vertonung von Krenek ...

Das Vorhandensein solchen Lineaments besagt an sich wenig — doch das Wie alles. Wie das hier im flüchtigen Sprung vom Text zur Darstellung und ins Publikum, gespiegelt in der Rezension, Traum und Wirklichkeit zugleich ist, im Geltenlassen des Fernen, des Andersartigen oder Unartigen, im kleinen und großen Erkennen von Weltgeheimnissen und ihren Schatten auf den Bühnen, im Widerspiel in den Ausführenden wie im Zuschauer und passiven Mitformer —, das ist einzigartig, unverwechselbar österreichisch, selbst dann noch, wenn einmal eine Saison hindurch oder zwei kein Schwerthieb eines großen Akzents zu spüren ist. Dies vielleicht unbewußt eingefangen zu haben, auf eine Weise, die Brauchbares bestätigt und zugleich immer noch gebieterisch ein Mehr an Leistung, an Transparenz, an Gültigkeit notwendig fordert: das ist Manfred Vogels eigentliche, reifste Leistung. Die Registratur, dreigeteilt nach Autoren, Theaterpersonal und Werken, ist praktisch und vollständig, die Illustration durch Bildtafeln großzügig.

Endlich liegen Max Zweigs Dramen in Buchform vor! Dies mit großer, unbegreiflicher Verspätung zwar, hier jedoch als Zeichen des Wagemuts eines noch jungen Verlags, der eben dabei ist, sich ein gültiges Profil zu schaffen. Spät insofern, als die meisten der Stücke längst geschrieben und im „inneren Kreis" der Wissenden bekannt sind, spät auch, weil außerdem der größere Kreis der Interessierten schon sehr früh, im deutschen Sprach- raum vor allem durch eindringliche Publikationen in Ernst Schönwieses „Silberboot", auf Max Zweigs kraftvolle Bühnendichtung aufmerksam gemacht worden war.

Max Zweig, weder mit Arnold noch Stefan gleichen Namens verwandt oder verschwägert (ein diesbezüglicher Hinweis im Klappentext beruht auf einem Irrtum), Moralist hoher Graduierung, hat eher naiv und vital als aus intellektuellem Kalkül ein unserer Zeit gemäßes Ideentheater geschaffen, auf eine Weise, die ihn zu einem originären und etwas unheimlichen Phänomen macht. Darin, daß ihm gelang, was Hunderte vor ihm, in Report oder Kolportage steckenbleibend, vergeblich versuchten, nämlich der Griff in den Zeitsteff, die Tragödie im Exempel von beim Namen genannten und im Wesen durchleuchteten Zeitgestalten, liegt seine Originalität. Und darin, daß er diese Gestalten, etwa Hitler, Rohm, Göring, Goebbels, um die schärfste Zeitgebundenheit zu nennen, nicht als Figurinen seiner Theorien sieht, sondern als Menschen, in denen sich ihr persönliches Wesen zum Nonplusultra des Zeitsymbols verdichtet (so sehr, daß ihre Leibhaftigkeit, lähmend und erregend zugleich, uns aus den Szenen über die imaginäre Rampe hinweg anspringt), liegt das Unheimliche seiner Apperzeptionsmacht.

In Band I sind enthalten: Die Erweckung der Pia Cameron, Franziskus (aufgeführt anläßlich der heurigen Bregenzer Festwochen), Saul, Tolstois Flucht, Ghetto Warschau; in Band II: Die Marranen, Die deutsche Bartholomäusnacht, Aufruhr des Herzens, Morituri, Wir sehen schon, die Spannweite reicht vom historischen Drama, entzündet am alt- testamentlichen Stoff, bis zur Stunde X des Heute, sie erfaßt den historisch oder aktuell bekannten Einzelmenschen wie die vom Dichter ersonnene stellvertretende Gestalt, die zum Schlüssel des Seinsverständnisses wird. Unnachahmlich gezeichnet etwa ist („Aufruhr der Herzen“) die gespenstische Atmosphäre einer Lungenheilstätte, in der wie auf einem anderen, einem ins Nichts stürzenden Stern Leidenschaften Sterbender und vermeintlich Sterbender aufflammen, die in der Alltagsrealität kein Heimatrecht haben; exemplarisch ist („Morituri“) die Situation des Sohnes, der aus Mitleid seine unheilbar kranke Mutter tötet; unter die Haut schießend in Tolstoi kongenialer Imagination ist „Tolstois Flucht“, um nur etliche Verweise zu geben und um zu sagen, daß Zweig nicht nur dort am stärksten ist. wo er. teils selbsterlebtes, jüdisches Schicksal bannt. „Ghetto Warschau", Leidabgrund und jüdische Sternstunde zugleich aufzeichnend, sei dennoch besonders hervorgehoben: als Beispiel dafür, mit welcher Herzensehrfurcht, die Teil ist echter Begnadung, das Thema, das für alle Zukunft zu den großen Menschheitsthemen gehören wird, anzufassen ist.

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