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Ist der Film Kunst?

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Eine Erwiderung an den Verfasser der verneinenden Antwort in der „Furche“, Nr. 22

Sehr geehrter Herr!

Daß Ihr Aufsatz auf Widerspruch stoßen

würde, hat die „Furche“ erwartet. — Er muß auf Widerspruch stoßen angesichts und im Namen vieler künstlerisch strebender Menschen, die in zwei Generationen

— bis 1928 und von da bis heute — mit heißem Bemühen und gläubigem Fanatismus am Werk waren, zunächst stumme und später sprechende wirkliche Filmkunst zu verwirklichen.

Das Wollen dieser beiden Generationen

— von Asta Nielsen bis Chaplin,. vom Regisseur des „Studenten von Prag“ bis zu dem der „Maskerade“ — läßt sich weder mit dem Schlagwort „Kunst für Massenniveau“ noch mit dem Fleißzettel „starke künstlerische Elemente, aber keine Kunst“ abführen.

Kann man fragen: „Ist Theater Kunst?“ oder „Ist Roman Kunst?“ — Wie soll man antworten, wenn der Begriff „Theater“, Schmiere und Dilettantenbühne ebenso umfaßt wie Burgtheater, und wenn er von Blumenthal bis Goethe und Shakespeare reicht? Wie soll man antworten, wenn unter dem weiten Begriff „Roman“ gleichermaßen ein Tom-Jack-Büchel verstanden werden kann wie Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“ oder „Die Buddenbrooks“ von Thomas Mann?

Die Frage „Ist Film Kunst?“ fordert weder ein Ja noch ein Nein; sie läßt sich überhaupt nicht beantworten. „Kann der Film Kunst sein?“ oder so ähnlich wäre zu fragen; aber Ihre Formulierung regt zur Diskussion an. Und darum seien Sie dafür bedankt.

Das Theater bediene sich der Technik, aber sie sei ihm entbehrlich, sagen Sie; der Film aber sei ohne Technik undenkbar. Ich erwidere: Wenn das Theater nicht zum Lesedrama oder zur rezitativen Deklamation wird, kann es der Technik nicht entraten. Selbst der Kreidekreis auf dem Boden der Bauernstube, der im Volksspiel den Schauplatz des Paradieses umgrenzt, und die arm-sefcge Lampe, die diesen Schauplatz des Mürztaler Adam- und Eva-Spieles und den Apfelbaum in seiner Mitte beleuchtet, sind schon Technik; es muß nicht gleich eine Drehbühne mit raffinierten Lichteffekten sein. Wenn aber der Film in seinen stärksten Momenten bewußt auf jede Hilfe des szenischen Apparates, ja sogar auf die Hilfswirkung des Kostüms verzichtet und in der Großaufnahme den Zuschauer zwingt, die Spiegelung der Tragik aus dem leisen Zucken einer Muskel des menschlichen Antlitzes zu erleben oder die Entscheidung des Schicksals vom Aufleuchten eines Blicks abzulesen — wo bleibt dann die Technik?

Gewiß, der Film bedient sich der Teehnik — der Photographie, der Tonwiedergabe, der Trickaufnahme; aber niemand verurteilt das Theater, wenn es sich der Technik bedient — schon in der Antike des Stelzschuhs und der Maske und des Sprachrohrs und der Flugmaschine ... Oder verliert das Theater dort an künstlerischem Wert, wo ihm seine größten Meister in Szenenanweisungen sehr erhebliche technische Leistungen — bis zu Geistererscheinungen und Verwandlungen auf offener Bühne — vorschreiben?

Daß im Film zwischen den Schauspieler — dessen künstlerische Leistung Sie gelten lassen — und das Publikum noch das Medium der Leinwand, des Lichtes, des Filmstreifens und dergleichen tritt, finden Sie, Herr Verfasser, tadelnswert; mir aber scheint dieser Umstand für die Frage, ob der Film Kunst ist, unerheblich. Einerseits kommt jene Tatsache dem Kinobesucher gar nicht zum Bewußtsein, andererseits bedarf audi der Theaterbesucher oft eines recht störenden, wenn auch den Kunstcharakter des Theate keineswegs berührenden Medhm, mt) die Wirkung des Spieles aufnehmen zu können, des' — Opernguckers.

Scherz beiseite! Es stört Sie der Umstand, das sich das Drehbuch, das nach Ihren eigenen Worten „ein Kunstwerk sein könnte“, eine zweimalige Übertragung gefallen lassen muß. Sie verkennen die Bedeutung des Drehbuches. Es ist mit der einer Theatervorstellug zugrunde liegenden Dichtung keinesfalls gleichzustellen! Es ist vergleichsweise kaum mehr als die anonyme Fabel, aus der ein Dichter ein dramatisches Kunstwerk, formt.

Erst wenn der Filmregisseur vor seinem geistigen Auge den Inhalt des Drehbuchs bildhaft werden läßt und danach seine Szenen- und Spielanweisungen gibt, erfolgt die wesentliche künstlerische Formung des Films. — Es ist ein Wesensunterschied zwischen Theater und Lichtspiel. Träger des Thcaterlebens ist das Wort, Träger des Filmischen ist das bewegte Bild. Wer das bedeutsame Wort für das Theater prägt, also der Dichter, ist sein produzierender Künstler; der Schauspieler reproduziert. Wer das bedeutsam bewegte Bild — bestimmt durch Ausschnitt, Einstellung, Gesichtswinkel, Symbolik usw. — für die leuchtende Leinwand formt, also der Regisseur, ist der produzierende Künstler des Films; der Schwi-spieler reproduziert auch hier wie auf dem Theater, aber ihn produziert der Regisseur und sein Kameramann als Bestandteil des schließlichen bewegten Bildes.

Die gleichsam nur als Vorarbeit zu wertende Bedeutung des Drehbuchs erklärt seine Anonymität — obwohl Anonymität an sidi kein Bedenken gegen ein Kunstwerk wäre; nicht wahr, man hält doch ein Volkslied för Kunst, obwohl sein Verfasser in Vergessenheit geraten ist?

Wenn Sie behaupten, daß ein Drehbuch von wirklich künstlerischem Rang noch nicht geschrieben worden sei, will ich eine Widerlegung mit Beispielen nicht versuchen, weil sie doch nur subjektive Beweiskraft hätte. Aber ich halte entgegen, daß ein solcher künstlerischer Rang des Drehbuchs für den schließlichen künstlerischen Rang des Films völlig unmaßgeblich wäre. Ein Film wird nämlich nicht geschrieben wie ein Theaterstück; auch ein Gemälde wird nicht geschrieben, obwohl man seinen Inhalt vorher beschreiben könnte. Ein Film wird vom Regisseur gleichsam visionär in Bildern geschaut, als ausdrucksweise Bildbewegung wirecht-gedacht; ein Film wird vom Regisseur im Geiste „eingebildet“. Der Regisseur, nicht dr Drehbuchverfasser ist der produzierende Künstler des Films.

Wenn Sie die große Anzahl der jährlich neu gedrehten Filme als Einwand gegen den künstlerischen Wert des Films an sich anführen, vermag ich nicht zu folgen. Zunächst halte ich die Anzahl der jährlich neu gedrehten Filme — es sind wohl nicht einmal tausend! — für wesentlich geringer als die Anzahl der jährlich neu geschriebenen Romane und wohl auch als die Anzahl der nüen Theaterstücke. Daß sich von den Romanen und Theaterstücken nur einige als

Kunstwerke erweisen, hindert uns nicht, an Romankunst oder Theaterlsunst zu glauben. Warum soll uns eine Vielzahl von unkünstlerischen Filmen veranlassen, die Möglichkeit oder das Dasein von Filmkunst zu verneinen?

Wenn manche Dichter mit dem Film nidits zu tun haben wollen, geschieht dies kaum, wie Sie meinen, aus Furcht, ihre Drehbücher könnten in schlechte Gesellschaft geraten. Auch ihre dichterischen Kunstwerke geraten in die schlechte Gesellschaft zahlloser schriftstellerischer Machwerke. Manche Dichter spüren vielmehr instinktiv, daß sie für die ganz anders geartete Ausdrucksform des Films keine Begabung besitzen, genau so wie für die Malerei oder dergleichen. Wären sie für den Film begabt, müßten sie Regisseure und nicht Drehbuchverfasser werden! Herrn Goebbels blieb der denkwürdig lächerliche Versuch vorbehalten, Dichter zu Künstlern des Films zu erziehen; warum nicht gleich zu Bildhauern? ...Kunst ist ein stilisiertes Abbild eines Vorbildes; Sie haben vollkommen recht! Der Künstler photographiert nicht, er unter-drüdct nach seiner subjektiven Art des Erlebens Unwesentliches und rückt Wesentliches in den Vordergrund. Und Sie haben vollkommen recht: Ein Film, von dem man nur sagen kann, er sei „natürlich wie im Leben“, erhält damit eine schlechte Kritik. Aber es gibt Filme, die hoch über einer solchen Kritik stehen.

Ich will nur nebenbei an den sogenannten absoluten Film erinnern, der Bewegung darstellt, die nie und nirgends stattgefunden hat — etwa an die Wunderphantasien des orientalischen Scherenschnittmärchens „Prinz Achmed“ von Lotte Reiniger oder an die Puppenfilme eines Starewitsch. Hier werden Sie c mir Stilisierung ; im Sinne der von Ihnen aufgeworfenen Polaritätsfrage „Vorbild— Abbild“ ohne weiteres zugeben.

Aber schweifen wir nicht ab! Nehmen wir nur einen Film wie „Die letzte Chance“! Ist dieses erschütternde Epos vom landflüchtig gewordenen Menschen des zweiten Weltkriegs nicht Stilisierung? Hier liegt geradezu ein Musterbeispiel vor, wie ein Künstler im Schicksal einer Handvoll Men-schen das Schicksal ungezählter Millionen zu spiegeln vermag. Nur eine einzige Szene sei angedeutet als Muster künstlerischen Abbildes: Die Flüchtlinge sitzen in dumpfer Erwartung und schwerer Erschöpfung in einem düstern Raum beisammen; ihre Haltung, die frostige Umgebung, die trübe Beleuchtung und vor allem der Gesichtswinkel, aus dem sie uns die Kamera sichtbar macht, veranschaulichen das ganze Elend sinnbildhaft und mit beklemmender Eindringlichkeit. Da beginnt einer aus der Gruppe zaghaft zu singen, und nach und nach stimmen alle ein, wiewohl sie die Worte des Singenden nicht erfassen, da er in einer fremden Sprache singt; aber die Melodie des Volksliedes kennen alle, und jeder singt es in seiner Muttersprache und die Melodie einigt alle und tröstet alle und wird zum ergreifen den Symbol...

Sie bemängeln ferner, Herr Verfasser, daß der Film nicht einmalig ist und finden es dämonisch-grotesk, daß er zur selben Zeit in hundert Kinos der Welt gleichzeitig erlebt werden kann. Auch ein Roman, in hunderttausend Exemplaren gedruckt, kann zur selben Zeit hundert Leser beschäftigen. Dieser Umstand vermag doch nicht an die Frage zu rühren, ob dieser Roman ein Kunstwerk ist oder nicht! Und Sie bemängeln, daß der Film nicht zeitlos ist; nach fünf Jahren schon könne man ihn wegen des Fortschrittes der Technik nicht mehr ernst nehmen. Verzeihung! Sehen Sie sich einmal den gut zehn Jahre alten „Rem-brandt“ (mit Laughton) an oder den weit älteren Stummfilm „Sturm über Asien“, den die Gesellschaft der Filmfreunde dieser Tage in Wien wieder gezeigt hat. Sie werden sich überzeugen, daß Ihre Annahme nidit stimmt.

Gewiß werden viele Filme durch die altmodisch gewordenen Frisuren und Kleider nach einigen Jahren ungenießbar. Aber durchaus nicht alle. Und bedenken Sie, daß Goethes Iphigenie einmal Reifröcke trug . .. An solchen Äußerlichkeiten gemessen, ist auch das Theater nicht „zeitlos“.

Daß auch der Film gelegentlich „Furcht und Mitleid“ erregen will wie das Theater in seinen besten Erscheinungen, ist schon durch das Beispiel der „letzten Chance“ angedeutet worden. Daß der Film auch gelegentlich gleich dem Theater unerbittliche Wahrheiten sagt, selbst auf die Gefahr hin, fü*- manchen Zuschauer „unerquicklich“ zu sein, bewies schon vor zwei Jahrzehnten der „Potemkirt“.

Aber Sie haben recht: Ins Kino geht man oft, weil man gerade nichts zu tun hat; doch auch ins Theater! — Audi im Theater ist die Angst, zu sehr erschüttert za werden oder Unangenehmes hören zu müssen, meist grundlos. Daraus geht aber nur hervor, daß heute sowohl Theater wie Kino in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht hohe Kunst, sondern mehr oder weniger wertlose Unterhaltung bieten.

Ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen Kunst und Film liegt in dieser Tatsache ebensowenig begründet wie ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen Kunst und Theater.

Film kann Kunst sein. — Sie haben recht: Er ist ohne Masse undenkbar. Ist nur die Frage, welches menschliche Ausdrucksmittel der Gegenwart überhaupt das Interesse der Masse nur annähernd in dem Grade besitzt wie der Film!

Aus dem Umstand, daß der Film — aus hier nicht näher zu erörternden Gründen — die Masse für sich hat, sollten Sie aber nicht seine Verurteilung ableiten, sehr geehrter Herr Verfasser, sondern eine Verpflichtung für die Volksbildung, für den Staat: daß alles unternommen werde, den Film zu künstlerischer Höhe und die Masse zum künstlerischen Film zu erziehen und zu führen, und zwar dadurch, daß jene Filmkunst gefördert wird, die der Masse etwas zu sagen hat — die sich nicht darauf beschränkt, die durch die grausamen Arbeitsformen des Maschinenzeitalters erschöpfte Menschheit zwischen Arbeitsschluß und Abendessen gleich einem Narkotikum in eine Wunschtraumwelt einzulullen, sondern die imstande ist, ihr aus dem Herzen zu sprechen, sie für eine gemeinsame Idee zu begeistern, sie gleich dem Theater in seinen besten Zeiten des antiken oder mittelalterlichen kultischen Festspiels zu erquicken und zu erbauen — was stets die höchste Aufgabe der Kunst gewesen ist.

Für die Anregung zu dieser Diskussion dankt Ihnen

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