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UTOPIEN AUF DER LEINWAND

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Die Filmliteratur war im deutschen Sprachraum seit jeher ein Stiefkind der Publikation (nicht nur was Bücher, sondern auch, was Zeitschriften betrifft); nach einem kurzen Aufschwung Ende der zwanziger Jahre — der, prozentual zum Alter der Kinematographie verglichen, recht bemerkenswert war — kam es etwa ab 1933 zu einer Stagnation: in Deutschland infolge des einseitigen politischen Regimes, in Österreich infolge der schwierigen wirtschaftlichen Lage und in der Schweiz infolge des Fehlens einer eigenen Filmindustrie. Erst nach dem zweiten Weltkrieg und eigentlich überhaupt erst seit dem wirtschaftlichen Aufstieg in der Bundesrepublik, der natürlich auch mit vermehrtem Interesse an kulturellen „Luxusgütern” (worunter die Filmliteratur leider gerechnet wird) verbunden war, wagten sich einige mutige Verlage an die Publikation von Büchern kinematographischen Inhalts — und der gewisse, zwar nicht übermäßig große Erfolg derartiger Literaturwerke hat in der Jetten. Jahren zu eįnępą, freulįchęn Austeįggn, dįgper Außenseiter im Verlagswesen geführt. -Es soll hier nicht weiter untersucht werden, welche Thematik auf diesem Gebiet die erfolgreichste ist; ob Filmgeschichte, nasthetik, -technik, die Niederschrift von Drehbüchern oder biographische Werke; jedenfalls steht fest, daß an Hand von Verkaufsziffern auch von Büchern der jeweilig vorherrschende Publikumsgeschmack, das Hauptinteresse, das — wie bei der Mode — bei der Konsumentenmasse vorherrscht, untersucht und festgestellt werden kann.

War es auf dem Gebiet der Filmliteratur noch vor Jahren das historische Werk, das den Filmfreund, den kulturell am Film Interessierten, den „Cineasten” (wohlgemerkt, es ist hier nur von diesem die Rede!), am meisten anzog, konnte man vor kurzem einige bemerkenswerte Veränderungen dieses Zuges wahrnehmen. Aus dem allgemeinen Leser entwickelte sich die Form des „Spezialisten”, der sich immer mehr für bisher vernachlässigte Detailgebiete interessierte: für die schriftlich niedergelegte Gestalt des Filmmanuskripts zuerst und dann, einen Schritt weiter, für einzelne Gattungen des riesigen kinematographischen Sektors selbst, für die — früher — Interesse zu zeigen als „snobistisch” oder, noch härter, „lächerlich” galt. So erschien vor etwa einem Jahr die erste deutschsprachige Untersuchung über die Bedeutung des Wildwestfilms (als Buch) und eine Phänomenologie des amerikanischen Gangsterfilms (in verschiedenen filmkulturellen Zeitschriften). Ein einziges Gebiet wurde bisher noch nicht berührt — gemeint ist hier immer der deutschsprachige Raum —, mit dem sich die Literatur im Ausland, besonders in Frankreich, Amerika und England, schon längst in vielen ernsthaften Studien auseinandergesetzt hat, das aber hierorts noch immer als verpönt gilt und nicht ernst genommen wird: Science-fiction…

Dabei ist es schon jedem nur einigermaßen ernsthaft mit dem Film Beschäftigten längst klar, daß die Unterscheidung „Problemfilm: gut, Abenteuer- und Unterhaltungsfilm: schlecht” absurd und widersinnig ist. Es gibt nur einen guten und schlechten Film überhaupt, egal, welcher Gattung er zuzuzählen ist. (Wobei heute die Grenzen schon vollkommen verwischt sind: Ist zum Beispiel „12 Uhr mittags” ein reiner Wildwestfilm oder ein psychologischer und soziologischer Problemfilm, der eben nur im Milieu und der Zeit des „Wilden Westens” lokalisiert wurde?) Warum kann der vielgelästerte „Heimatfilm” nicht künstlerisch ebenso vollkommen sein wie ein neoveristisches Drama? Daß er es bisher nicht war, ist nicht der in Verruf gekommenen Gattung anzurechnen, sondern der Unfähigkeit derer, die sich bisher ihrer filmisch angenommen haben (dabei lägen die großen Themen herum — man denke nur an Rosegger, Ebner-Eschenbach usw.). Warum soll ein Gruselfilm, eine Horrorstory im Film weniger künstlerisch gestaltet sein, als es beispielsweise die großen schwedischen Bildballaden der Stummfilmzeit nach Werken von Selma Lagerlöf waren? Während in der Literatur streng nach Qualität des Autors und nicht nach Fach unterschieden wird, das heißt, H. G. Wells, Jules Verne und Edgar Allan Poe nicht darnach beurteilt werden, daß es neben ihnen zahllose Zweischillingutopienhefte gibt, existiert im Film noch keine differenzierte Wertung: Der utopische Film gilt von vornherein als künstlerisch wertlos, Science-fiction-Filme sind auf keinen Fall ernst zu nehmen. (Wobei diese Kritiker vergessen, daß die Filme von Mėliės dieser Gattung zuzurechnen sind, ebenso Fritz Längs „Metropolis” und „Die Frau im Mond”, Abel Gances „La fin du monde”, G. W. Pabsts „Herrin von Atlantis”, C. Th. Dreyers „Vampyr” usw. Es ließe sich sogar eine beträchtliche Liste solcher „übersehener” Werke zusammenstellen!)

So wie der Wildwestfilm immer mehr das Interesse von Cineasten und darüber hinaus auch von weitblickenden ernsthaften Kritikern zu gewinnen beginnt, sollte es auch dem utopischen Film beschieden sein — oder die Bezeichnung einer ortsüblichen „Rückständigkeit” dürfte in einigen Jahren zum Los so mancher werden, die immer um Zeitabschnitte hinter fortgeschritteneren, einstweilen noch verlachten Erkenntnissen nachhinken.

Daß es im westlichen Ausland eine immer zunehmendere Strömung von Kritikern, Filmhistorikern und -experten gibt, die dem utopischen Film (bleiben wir in Hinkunft bei dieser geläufigeren Bezeichnung als der des treffenderen Begriffes von „Science-fiction”) nicht nur historisch, sondern auch künstlerisch eine wachsende Bedeutung einzuräumen beginnen, sollte aus den dort erscheinenden Publikationen (Büchern wie Zeitschriften und Artikeln in Zeitungen) dem Fachmann eigentlich bekannt sein. Es wäre daher Zeit, sich auch einmal bei uns mit diesem Faktor zu beschäftigen, der immerhin anderorts wert erscheint, sogar in einem eigens veranstalteten Filmfestival die Augen der Öffentlichkeit auf sich zu lenken. Es existiert, man höre und staune, in Triest ein „Festival internazionale del film di fantascienza”, das heuer bereits zum zweitenmal stattfand und unter dessen Gästen Produzenten, Regisseure und Journalisten von Weltruf zu bemerken waren, deren Namen eine Zierde jedes ähnlichen Festivals in Wien bilden würden; doch in welcher deutschen oder österreichischen Zeitung (von Ausnahmen abgesehen) wurde davon Notiz genommen?

Es ist nun zweifellos so, daß der Glaube an das „Übersinnliche” enger in der angelsächsischen beziehungsweise amerikanischen Mentalität verwurzelt ist als in unserer und daß das kühne oder erschreckende Spiel mit „things to come”, mit der Zukunft, ebenso dieser Geisteshaltung eher entspricht als einer phäakischen. Dazu kommt die Verwirklichung eines fast unbegrenzten technischen Fortschrittes, der — besonders dem amerikanischen Bürger — freie Bahn für jede noch augenblickliche Utopie auszumalen gestattet. So kommt es, daß die meisten utopischen Erzählungen in englischer Sprache geschrieben wurden, und der Schritt’ vom Wort Zum Bild ist heute ein geringer. G -H seilt sich zu dieser Grundlage noch romanische Phantasie, südlicher Feuergeist, dann ist es nicht verwunderlich, daß gerade Italien den utopischen Roman, den utopischen Film so schätzt und bewundert, daß dort die ersten Filmfestspiele dieser Gattung stattfinden mußten; ist es doch ein Land, das im Begriff ist, eine gewaltige Umwandlung zu vollziehen, eine Entwicklung, die auf uralter Kultur im Geistigen beruht, deren schöpferische Kraft vor kühnen Neuerungen und faszinierenden Manifestationen nicht zurückschreckt, sondern sich ihrer originell-kraftvoll bedient (wofür zum Beispiel der neue italienische Baustil Zeugnis ablegt).

Daß der utopische Film wohl weniger eine kulturelle oder erzieherische und bildende als unterhaltende Bedeutung besitzt, ist bei dem Charakter des behandelten Stoffes von vornherein gegeben (wobei wir von populärwissenschaftlichen Kurz- oder Langfilmen dokumentarischen Inhalts — etwa über die Beschaffenheit unseres Planetensystems, die technischen Möglichkeiten seiner Erforschung usw. — absehen wollen, deren Anzahl beschränkt sein muß und auch nur für bestimmte Publikumskreise Interesse besitzt).

Die „Fiction”, das Angenommene im Rahmen des Abenteuerlichen muß der bevorzugte Themenkreis dieser Filmgattung sein; daß hier der Phantasie und Originalität des Drehbuchautors auf Grund der technischen Vollkommenheit des Mediums Film ebensowenig Grenzen gesetzt sind wie einer künstlerischen Bewältigung des Stoffes durch schöpferische Filmpersönlichkeiten, steht außer Frage. Der Beweis dafür ist in der schon angeführten Aufzählung von Regisseuren und ihren Werken zu finden, die einen bleibenden Platz in der Filmgeschichte besitzen. Das Festival in Triest hat dies erneut dokumentiert, wenn auch die wirklich großen oder bedeutenden Filmwerke dieses Genres in erster Linie nur in den Retrospektivvorführungen zu entdecken waren; einzig der englische Beitrag, „The Damned” („Die Verdammten”) von Joseph Losey, erreichte ein Niveau, das sowohl in seiner thematischen wie filmkünstlerischen Gestaltung weit über die sonstige Qualität einer mehr oder weniger kommerziell erfolgreichen Durchschnittsunterhaltung hinausreichte.

Es wäre jedoch unbedingt falsch, in diesem Zusammenhang das Sprichwort von der „einen Schwalbe, die noch keinen Sommer macht” zu zitieren, denn bei einer filmischen Gattung, die von seiten ihrer Kritiker so keinerlei Ermutigung und Wohlwollen erfährt, ja nicht einmal Beachtung, kann schon eine einzige positive Überraschung den Beginn einer Wandlung vollziehen, die zu großen Hoffnungen berechtigt. Solange der utopische Film von vornherein nur einem Zuschauerkreis mit der Mentalität von Kindern oder kindlich gebliebenen Großen zugemutet wird — eine Haltung, die die Mehrzahl der Kritiker einnimmt —, kann von einem Produzenten eine ernsthafte Einstellung gegenüber der künstlerischen Problematik dieser Thematik wohl kaum erwartet werden. Und solange dies der Fall ist, werden Filme wie „Atoragon”, „Matango”, „Die Zeitreisenden” und „Notlandung im Weltraum” gedreht werden — spektakuläre japanische oder amerikanische Utopien, in denen es von Begegnungen mit Ungeheuern aus der Tiefe, von anderen Planeten und durch Atombombenexplosionen entstandenen Mutationen wimmelt und die ja auch tatsächlich nicht ernst genommen werden wollen.

Doch ist diese Selbstklassifizierung nicht immerhin ehrlicher als manche — besonders beim deutschsprachigen Film — vorgegebene Bemühung um Tiefe und künstlerische Problematik? Der Zuschauer wird nicht durch Vorspiegelung falscher Aspekte in eine Position gedrängt, die Enttäuschung und damit im weiteren Verlauf eine Abkehrung vom künstlerischen Film hervorruft; er weiß, hier wird er nichts als nur unterhalten — es gibt ehrliche Ware für das “ gegen der Besuch eines Films, der von einer geschäftstüchtigen Reklame - ąls -Kunstwerk angepriesen’ wird und nichts weiter darstellt als Pseudoproblematik, dilettantisches Mißverstehen filmischer Gestaltungsweisen und Perfektion in der Handhabung technischer Errungenschaften. In der Herstellung derartiger Werke liegt der große Betrug, der letzten Endes nicht unwesentlich zu jener Krise geführt hat, die heute zu den groteskesten Auswüchsen und nicht weniger paradoxen Versuchen, ihr zu begegnen, geführt hat. Nicht zuletzt trägt auch jener Kritiker sein gerüttelt Maß an Schuld dafür, der in weltfremdem Höhenflug übersieht, daß nicht allein das vollkommene Kunstwerk — das zu schätzen ohnedies nur wenige imstande sind — filmische Existenzberechtigung besitzt, sondern auch der gute Unterhaltungsfilm, unter dem es — wenn man sich die Mühe dazu nähme — manch Wertvolles aufzuspüren gäbe. Beim Wildwestfilm beginnt sich diese Erkenntnis langsam durchzusetzen, der utopische Film jedoch harrt noch seiner Entdeckung …

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