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VIEL LARM UM WENIG KUNST

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ALLJÄHRLICH SCHLIESST VENEDIG den allzu üppig gewordenen Reigen von Filmfestivals in aller Welt ab. Obgleich die „Internationale Filmkunstschau“ am Lido in den letzten Jahren, nicht zuletzt auch durch die Konkurrenz von Cannes und Berlin, einiges an ihrem Prestige verloren hat, ist man geneigt, ihr in einer inoffiziellen Rangordnung noch immer den ersten Platz zuzuerkennen.

Hiemit scheint die Aufgabe und Verantwortung in Venedig auch größer als anderswo. So ist es nicht verwunderlich, daß man hier in den Nachkriegsjahren — im Gegensatz zu Cannes und Berlin — einen ziemlichen Verschleiß an Festspielleitern hatte. Das vierjährige Regime Ammanati hat sicher manch löbliche Reform und Programmerweiterung auf sein Konto buchen können. Die internationale Anerkennung seiner Arbeit mußte von Haus aus für seinen Nachfolger eine schwierige Position schaffen.

Noch nie jedoch dürfte ein Festivaldirektor am Lido vor einer so harten Prüfung gestanden sein wie Dr. Emilio Lonero, als er im Frühjahr dieses Jahres nach Venedig berufen wurde. Zu gleicher Zeit brandeten in Italien die Wogen der Erregung um „La dolce vita“, zu dem Lonero als Generalsekretär der Katholischen Filmzentrale Italiens natürlich eine negative Stellung einnahm. So hagelte es Proteste, Boykotte und Polemiken gegen seine Ernennung. Daß Lonero unter diesen Umständen nicht die Flinte ins Korn warf, spricht zweifellos für ihn. Er bereitete jedenfalls unbeirrt die „XXI. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica“ vor und ging mit einer gegenüber den Vorjahren vergrößerten Auswahlkommission an die undankbare Aufgabe der Programmerstellung; nach wie vor ist diese Kommission jedoch rein italienisch.

Lonero wollte in seiner ersten „Mostra“ ein Programm bieten, das die Extreme der Pornographie sowie der plumpen politischen Propaganda ausschließt, und in dem weiten Kraftfeld dazwischen den menschlichen, sozialen, künstlerischen und kulturellen Spannungen, die im derzeitigen Filmschaffen begründet liegen, den gebührenden Raum geben. Er wollte in der Konkurrenz Filme bieten, die für die einzelnen Nationen charakteristisch und signifikant odeT innerhalb deren nationaler Produktion als interessante Außenseiter zu werten sind. Unter diesem Aspekt war eine spezifische Prägung im Geistigen und Stofflichen nicht zu erwarten. Auffallend ist jedoch, daß sich die 14 Filme des Wettbewerbs — mit einer Ausnahme — auf keine formalen Experimente einließen.

Die offizielle Festspieljury hatte einige klangvolle Namen aufzuweisen. Ihr Präsident war — wie schon öfters und mit wenig Erfolg in Cannes — Marcel Achard. An prominenten Filmschöpfern gehörten ihr der Spanier Luis Garcia Ber-langa und der Russe Sergej Bondartschuk an, der Amerikaner Robert Aldrich mußte im letzten Moment absagen, so daß schließlich nur elf Geschworene zu Rate saßen.

DA SICH DIESMAL wirklich kein Film für den „Goldenen Löwen“ unmittelbar aufdrängte, war ein umstrittenes Urteil zu erwarten. Mit der Auszeichnung von Andre Cayattes „Le passage du Rhin“ traf es auch gründlich ein. Eine stürmische Auseinandersetzung zwischen Beifallsbezeigungen sowie Pfiffen und Schmährufen begleitete die Preisverkündung. Man muß Cayatte zugute halten, daß er mit seinem jüngsten Werk wirklich eine ideologische Brücke über den Rhein schlagen wollte. Dem Film fehlt aber sowohl die innere Überzeugungskraft als auch die Glaubwürdigkeit der äußeren Aktionen. Man kann nicht schwerwiegende Probleme auf den französischen Einheitsnenner von Liebesgeschichten bringen, zumal wenn sich eine davon in mehreren Serpentinen windet, um den Streifen auf die bei diesem Festival anscheinend obligate, aber doch nur belastende und abschv chende Mindestlänge von mehr als 3000 Metern zu bringen.

Der Spezialpreis der Jury ging an Luchino Viscontis „Rocco und seine Brüder“, der in der Gunst der meisten Festspielbesucher und -Journalisten eindeutig höher stand als Cayattes Werk. Ich möchte jedoch auch diesen Film als eine Enttäuschung bezeichnen, da er die Geschichte einer süditalienischen Familie, die in Mailand Fuß faßt, mit oft unerträglichem Pathos und krassen Brutalitäten auf drei Stunden auswalzt. Immerhin sind hier Milieuerfassung, Kameraführung und Darstellung recht beachtlich. Am Rande sei erwähnt, daß Visconti, um den offiziellen Boykott der italienischen Autoren und Regisseure gegen Lonero nicht zu verletzen, sich die Festvorstellung heimlich aus der Vorführkabine ansah, der Produzent des Films, mit dem zweiten Preis unzufrieden, der Festivalleitung telegraphisch mitteilte, daß er diesen nicht annehmen wolle, und der Russe Bondartschuk sich in einem Brief gegen das Urteil seiner Jurykollegen (und für seinen Gesinnungsfreund Visconti) aussprach und so ein Musterbeispiel undemokratischen Verhaltens lieferte.

Leider konnte man auch mit den anderen drei italienischen Filmen keine rechte Freude haben. Florestano Vancini erhielt zwar den Preis für das beste Erstlingswerk („Die lange Nacht von 1943“), bekam den Stoff — eine italienische Variation von „Die Mörder sind unter uns“ mit einem völlig unglaubhaften Nachspiel — sowie die Schauspieler nicht richtig in den Griff. Maseliis „I Delfini“ geht auf das französische Wort „dauphins“ zurück und will die „Thronfolger“ reicher Familien kennzeichnen, die in einer italienischen Kleinstadt ihr „süßes Leben“ treiben. Man wird auch an die „Vitelloni“ gemahnt, doch wird die künstlerische Höhe Fellinis auch nicht annähernd erreicht. Immerhin haben hier der Dialog, die Psychologie der einzelnen Personen und die Darstellung einige Meriten. Pessimismus und Fatalismus als Geisteshaltung herrschen aber ebenso vor wie in Pietrangelis „Adua und ihre Gefährtinnen“, einem Film, der das Schicksal von vier Prostituierten nach dem Gesetz behandelt, das die Senatorin Merlin zur Schließung der Freudenhäuser in Italien durchgesetzt hat Möglich, daß der Auswahlkommission nicht viel ersprießliches Material vorlag, aber gleich vier italienische Filme ohne einen einzigen wirklichen Treffer, muß man ihr wohl ankreiden. Zudem sei angeführt, daß diese auch moralisch das tiefste Niveau aller Mostra-Bei-träge hatten.

EIN PLUSPUNKT DES FESTIVALS war aber zweifellos der englische Film „Tunes of Glory“. Weniger wegen seiner Story — die Rivalität zweier englischer Offiziere verschiedener sozialer Herkunft und Ausbildung — als der grandiosen Darstellung von Alec Guinness und John Mills. Wenn dieser den Preis für die beste männliche Darstellung bekam, so wohl deswegen, weil Sir Alec erst vor zwei Jahren die „Coppa Volpi“ errungen hatte.

Ein heftiger Konkurrent für John Mills war zweifellos auch Jack Lemmon in „The apart-ment“, Billy Wilders jüngster Komödie, welche die Frivolität ihrer Ausgangssituation zu einem ansprechenden, besinnlichen Ende führt. Insgesamt ein perfekt gemachter Film, der auch glänzende geschäftliche Aussichten besitzt. Shir-ley MacLaine bewährt sich auch hier als glänzende Komödiantin, und gegen den weiblichen Schauspielpreis für sie ist nichts einzuwenden, da die großartige Annie Girardot („Rocco“), Simone Signoret („Adua“) und Betsy Blair („I delfini“) in ihren italienischen Filmen ja synchronisiert waren.

Als wahrer Lichtstrahl des Festivals präsentierte sich „Die Reise im Ballon“, der erste abendfüllende Film von Albert Lamorisse, der dem Auge des Beschauers in überwältigenden Flugaufnahmen die Herrlichkeit der Schöpfung, erschließt. Die Jury des Internationalen Katholischen Filmbüros (OCIC), als deren Präsident der Verfasser dieses Berichts fungierte, verlieh ihm gerne ihren Festspielpreis.

Im Gespräch dafür stand auch der japanische Film „Es gibt -keine größere Liebe“, der ganz im Gegensatz zu seinem süßlichen Titel eine harte Anklage gegen den Krieg und die Greueltaten der eigenen Seite (Schauplatz Mandschurei 1943) darstellt und von einer menschlichen und künstlerischen Kraft beherrscht wird, welche auch die Überlänge von 200 Minuten überwindet.

Anscheinend um die Deutschfreundlichkeit von Cayattes Film wieder auszugleichen und sich nach dem „Achten Wochentag“ in seiner polnischen Heimat zu „rehabilitieren“, schuf Aleksander Ford mit der Verfilmung von Henryk Sienkiewiczs historischem Roman „Die Deutschordensritter“ einen dreistündigen farbigen Monsterschinken, der von antireligiösen und antideutschen Affekten beherrscht ist.

Keine Festivalberechtigung hatten auch der jugoslawische Beitrag „Der Krieg“, eine politische Lesebuchgeschichte, die naiv und primitiv aufgezogen (kaum zu glauben, daß das Drehbuch von Zavattini stammt!) und unbeholfen durchgeführt ist, sowie der konfuse, langatmige und rhetorische Russenfilm „Der Himmel von Leningrad“, eine Episode aus der Belagerung der Stadt während des zweiten Weltkrieges. Die Festivaleignung wurde von der italienischen Presse auch dem in der „Furche“ schon behandelten deutschen Film „Schachnovelle“ vielfach abgesprochen.

Der Vollständigkeit halber sei noch der tschechische Film „Die weiße Taube“ erwähnt, ein trotz des suspekten Titels völlig unpolitisch treifen, dessen Atem zwar nicht für einen abendfüllenden Film reicht, der aber als einziger der Konkurrenz sich um eine völlig unkonventionelle Bildgestaltung bemühte und hiebei echten künstlerischen Sinn bewies.

WENN DIE GESAMTAUSBEUTE VON VENEDIG auch heuer nicht sehr befriedigend war, so kann dieses Festival doch immer wieder auf sein beachtliches Nebenprogramm verweisen. In der „Sezione Informativa“ gab es zahlreiche interessante Filme aus dem heurigen Programm von Cannes und Berlin sowie der sonstigen diesjährigen internationalen Produktion zu sehen; die Retrospektive war englischen Filmen aus der Kriegsperiode sowie den Hauptwerken von David Wark Griffith und Jean Gremillon gewidmet; in der „Sezione Culturale“ konnte man u, a. Eisensteins „Iwan der Schreckliche, 2. Teil“, Chaplins „Großen Diktator“ sowie die drei wichtigsten Filme von Robert Bresson sehen.

Daneben wickelte sich noch ein interner Wettbewerb ab: Eine Jury des OCIC vergab ihren Großen Preis 1960 heuer in Venedig. Er fiel dem französischen Film „Le dialogue des Carmelites“ (nach dem Szenario von Georges Bernanos) zu, wobei in der engeren Auswahl aus den insgesamt acht Kandidaten noch der OCIC-Preis-träger von Berlin „Zorniges Schweigen“ sowie „II suffit d'aimer“, ein neuer, mit größter Ehrfurcht gestalteter Spielfilm über die heilige Bernadette stand. Der Preis wurde in einer Feier vom Patriarchen von Venedig, Kardinal Urbani, der anschließend eine Pontifikalme-sse und Predigt für die Festspielteilnehmer hielt, übergeben.

WENN MAN NOCH DEN RAHMEN um das Filmprogramm in eine Betrachtung mit einbezieht, so muß man wohl feststellen, daß heuer der Star- und Empfangsrummel eine angenehme Ab-schwächung erfahren hat. Unter den anwesenden Größen der Leinwand führte diesmal unbestritten Alec Guinness das Feld an, gefolgt von Shirley MacLaine, Curd Jürgens, Cyd Charisse, Giulietta Masina, Betsy Blair sowie etlichen Darstellern aus den gezeigten italienischen und französischen, aber auch den östlichen Filmen. Unter den Starlets machte sich die üppige und vulgäre deutsche „Skandalnudel“ Barbara Valentin am unangenehmsten bemerkbar.

Für das Publikumsinteresse an der heurigen Mostra bedeutete sicher die zeitliche Kollision mit der Olympiade eine beträchtliche Konkurrenz. Wollte man von dieser Warte überhaupt einen Vergleich ziehen, so müßte man sagen, daß sich die Leistungen der Filmästheten mit jener der Superathleten aus Amerika, Rußland, Italien, Deutschland u. a. nicht messen konnten. Auch bezüglich der Organisation mag Rom einen gewissen Vorteil für sich buchen. Aber man hegt in Venedig und Cannes diesbezüglich ja ohnedies nicht die Erwartungen, die in Berlin befriedigt werden.

Ob die Stürme, welche die heurige „Mostra“ von ihren Vorbereitungen bis zum Schlußakt begleitet haben, sich in normale Wellen abschwächen oder interne Folgen zeitigen werden, ist zur Stunde noch nicht abzusehen. Feststeht aber jedenfalls, daß sich der italienische Ressortminister Folchi nach seiner Teilnahme an der Schlußzeremonie sofort nach Rom zu Regierungschef Fanfani begeben hat, um mit ihm allfällige Reformen zu diskutieren.

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