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Der Tod in Venedig

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In der venezianischen Zeitung „II Gazzettino“ ist jeden Tag eine Spalte dem Verfall von Venedig gewidmet und den heroischen Bemühungen, diese irreale Traumkulisse für die Zukunft gleich einem Museum (für Tourismus) zu retten'und zu konservieren; der Filmkunstschau am Lido geht es nicht anders — wobei höchstens das Echo auf alle Versuche, die Lebensdauer des sterbenden Patienten noch hinauszuzögern, immer leiser und schwächer wird... Immer weniger ausländische Journalisten bevölkern den Lido zur Mostra-Zeit, die ernsthaften beginnen unauffällig immer spärlicher zu werden: „Wo ist dertn heuer der Kollege Soundso?“ „Er ist nicht mehr nach Venedig gekommen, er hat Wichtigeres zu tun, sagt er.“ Und so können darin vor äijeift Frankreichs und Italiens heftige Linksjournalisten (sie nennen sich jung, sind es aber in den seltensten Fällen wirklich!) triumphierend den Sieg des'politischen venezianischen Filmfestivals in den nächsten fünf Jahren verkünden...

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In der venezianischen Zeitung „II Gazzettino“ ist jeden Tag eine Spalte dem Verfall von Venedig gewidmet und den heroischen Bemühungen, diese irreale Traumkulisse für die Zukunft gleich einem Museum (für Tourismus) zu retten'und zu konservieren; der Filmkunstschau am Lido geht es nicht anders — wobei höchstens das Echo auf alle Versuche, die Lebensdauer des sterbenden Patienten noch hinauszuzögern, immer leiser und schwächer wird... Immer weniger ausländische Journalisten bevölkern den Lido zur Mostra-Zeit, die ernsthaften beginnen unauffällig immer spärlicher zu werden: „Wo ist dertn heuer der Kollege Soundso?“ „Er ist nicht mehr nach Venedig gekommen, er hat Wichtigeres zu tun, sagt er.“ Und so können darin vor äijeift Frankreichs und Italiens heftige Linksjournalisten (sie nennen sich jung, sind es aber in den seltensten Fällen wirklich!) triumphierend den Sieg des'politischen venezianischen Filmfestivals in den nächsten fünf Jahren verkünden...

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Nim, entweder existiert die „Mostra internazionale d'arte cinematografi-ca“ nach dieser Zeit nicht mehr oder sie macht bald einen schnellen und energischen Schwenk zu einer anderen Programmauswahl, die jedenfalls konsequent entweder nur noch den sogenannten „revolutionären Film“ vertritt oder aber den etwas konventionelleren, dafür künstlerischen Film (so wie früher) wieder zu Ehren kommen läßt; in beiden Fällen wird ein bestimmter Kreis von Festivalteilnehmern fernbleiben — doch wenigstens wird dann eine klare Linie vorherrschen, wo heuer nur unentschlossenes Lavieren (um ja nirgends anzuecken und das Schicksal der Berliner Filmfestspiele zu vermeiden) zwischen Links und Rechts unbedingt auf Kosten des künstlerischen Wertes eine gewisse äußere Ruhe — Zeichen einer Agonie? — bewahren ließ. Diese Verneigung vor den Forderungen nach dem „modernen“, dem jungen revolutionär-politischen Film (wozu auch der Fernsehfilm zu gehören scheint, denn TV ist ja ein so beliebtes und modernes Phänomen!) einerseits und die peinliche Vermeidung irgendwelcher als „kommerziell“ ankreidbarer Filmwerke anderseits (wobei solche Filme verbrämt unter der Deklarierung von „ausgefallenen Themen“ doch nicht vermeidbar waren) führte zu der grotesken Situation bei der diesjährigen 31. Filmkunstschau am Lido, daß nicht ein einziger wirklich künstlerisch zu nennender Film, nicht eine „Sensation“ in Venedig gezeigt wurde.

In die erste Gattung fielen dann Füme wie die brasilianische Blutoper ,^>ecado Mortal“ (Todsünde), ein Familiendrama von Miguel Faria junior, der geradezu groteske argentinische Tyrannenfllm „El Seüor Presidente“ nach einem Roman des Nobelpreisträgers Miguel Angel Asturias (der selbst eine Kampagne gegen das so vollkommen mißratene Opus, das selbst von den linksgerichteten Journalisten ausgepfiffen wurde, startete), der kommunistisch bezahlte finnische Beitrag ,JCesaka-pina“ (Eine Sommerrevolte) gegen das nordische Establishment von Jaakko Pakkasvirta und das verworrene, von Godard inspirierte antikapitalistisch-antikolonia-listische Afrika-Drama „Der Leone Have Sept Cabezas“ (Der Löwe hat sieben Köpfe) des Brasilianers Glauber Rocha (dessen fünfsprachiger Titel allein schon ein Programm darstellt), während der Fernsehfilm durch Roberto Rossellinis gestal-tungs- wie darstellungsmäßig indiskutable Aneinanderreihung von Zitaten über den griechischen Philosophen „Sokrate“ (Sokrates), den immerhin interessanten und diskussionswürdigen Entheroisierungsver-such von Bernando Bertolucci „La strategia del ragno“ (Die Spinnen-Strategie) bis zu Federico Fellinis letztem Opus „I Clowns“, mit dem er wieder in den Schöpfungskreis seiner Anfänge, zum Zirkus und Variete, zurückkehrte, vertreten war. Schüchterne Ansätze zur Dokumentierung des traditionellen Films stellten der sowjetische Beitrag „Schuld und Sühne“ von Lew Kulid-schanow dar, eine dreieinhalbstün-dige episch-pathetisch-naturalistische Literaturverfilmung in gewohntem Stil, die britische Filmaufzeichnung der Theateraufführung von Tschechows „Drei Schwestern“, vorbildlich und unnachahmlich dargestellt von Laurence Olivier und seinem Ensemble (doch filmisch völlig verfehlt), und vielleicht noch Francesco Rosis Antikriegsfilm über den verbrecherischen Menschenverschleiß an der italienischen Front im ersten Weltkrieg, „Uomini cont.ro“ (Die Männer dagegen), in dem der zweifellos große italienische Regisseur, sichtlich geschult an Kubricks ,,Wege zum Ruhm“, pazifistisch-humanistische Tendenzen geschickt mit kommerzieller Attraktivität und hervorragender Gestaltung zu verbinden verstand (aber den italienischen Nationalstolz doch zu sehr verletzte).

Und zu den „unentschlossenen“ Filmen, zwischen gefälligem Kinover-bnauch und originell-ausgefallener Thematik oder Gestaltung schwankend, gehörten schließlich der melancholische ungarische Beitrag von Istvan Szabo, „Ein Liebesfilm“ (Szerelmesfilm), die beiden, in der Welt der Nervenheilanstalten spielenden Filme „Bube u glavi“ (Käfer im Kopf) von Misa Radivejevic (für Jugoslawien) und „Le coeur fou“ von Jean-Gabriel Albicocco (für Frankreich) und „Deep end“, eine amerikanisch-westdeutsche Gemeinschaftsproduktion des Polen Jerzy Skoli-mowski, in England gedreht, die tödlich endende erste Liebe eines Fünfzehnjährigen behandelnd. Fast makabre Horrorthemen schließlich bildeten den Inhalt des japanischen Beitrags „Kage no kuruma“ (Drehende Schatten) von Yoshitaro Nomura, die Mordversuche eines Sechsjährigen an dem Geliebten seiner Mutter schildernd, und des französischen von Christian de Chalonge „L'Alliance“ (Der Ehering), der in der durch ein Heiratsinstitut vermittelten Ehe zwischen einem jungen Mädchen und einem Tierarzt geheimnisvoll-unheimliche Aspekte für das Unvermögen des menschlichen Zusammenlebens aufzeigte. Schließlich völlig aus dem Rahmen fielen der amerikanische, neoveristisch geschulte Regiedebutnlm von Barbara Loden (Mrs. Elia Kazan), „Wanda“, eine triste sozialkritische Darstellung einer aus dem Elends-milieu stammenden Frau, und der phantastische polnische Beitrag „Lokis“ (Der Bar) von Janusz Majewski, eine meisterhaft bildlich komponierte und hervorragend ge-spielte und gestaltete Adaption der Novelle Prosper Merimees, ebenso spannend-unheimlich wie asthetisch-faszinierend den damonischen Zwie-spalt eines Tier-Menschen schil-dernd.

Als Ergebnis dieser wenig erfreuli-chen Filmkunstschau hielten sich die Kenner und Fachleute dann an die musterhafte und in ihrer Gesamtheit bisher unerreichte Retrospektive des ,,britischen Dokumentarfilms von seinen Anfangen bis zur Gegenwart“ (also von Grierson iiber „free cinema“ bis heute), ein unerhort wert-volles Studienobjekt, und die nicht weniger aufschluCreiche, dem ameri-kanischen Stummfilmkomiker Harry Langdon gewidmete Filmzusammen-stellung, die neben Kostlichkeiten aber auch die Vorrangstellung Chap-lins, Keatons, Lloyds und Laurel & Hardys eindeutig dokumentierte.

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