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GENUG DES GRAUSAMEN SPIELS

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DIE FEDER KNIRSCHT: enttäuscht, erbittert. Das erste Filmfestival des Jahres, die XI. Internationalen Filmfestspiele in Cannes, ist vorbei und hat eine Hoffnung mehr auf die Zukunft des Films begraben. Ueberschau? Gesamtkritik? Ach, der Geist wurde nicht eben strapaziert, die Kunst ging in den blaugrünen Rivierafluten baden.

Außer dieser desolaten Gesamtbilanz lassen sich diesmal kaum irgendwelche resümierende Gesichtspunkte herausstellen, es sei denn: die penetrante Langeweile, die von vielen Filmen ausging. Diese Feststellung ist sicher nicht eine Ermüdungserscheinung nach zwei Wochen Festival und auch nicht die traurige Resignation eines an Kummer gewöhnten Festspielgastes, sondern eher der Niederschlag einer geistigen Leere und mangelnden künstlerischen Bewältigung in den meisten Darbietungen.

UNTER DEN BLINDEN ist der Einäugige der König. Ueberraschend, aber in der betrüblichen Konkurrenz nicht unverdient, fiel der höchste Preis, die „Goldene Palme“, zum erstenmal an Rußland, das nur mit einem einzigen Film, „Wenn die Störche ziehen“, vertreten war. Der aber „saß“ und „kam an“. Weniger durch das Sujet, denn dieses bietet nicht mehr als eine mittelmäßige Liebesgeschichte, in der das große Glück durch die Kriegsereignisse versagt bleibt; immerhin enthält sie sich ausgesprochener kommunistischer Propaganda und läßt es bei patriotischem Optimismus und Welt-friedenstönen bewenden. Zu dem großen Erfolg wurde der Streifen aber durch die auf beste Vorbilder zurückgreifende, kühne Photographie und die junge Hauptdarstellerin Tatjana Samoilova; ihr Gesicht spiegelte eine Reinheit des Empfindens und Echtheit des Ausdrucks wider, die wir bei Maria Schell vor Jahren bewundern konnten.

Auch an der Nebenfront siegte Rußland die beiden anwesenden Russinnen fielen nicht nur durch ihre Schönheit, sondern — im Gegensatz zu den meisten ihrer westlichen Kolleginnen — auch durch ihr bescheidenes und vornehmes Auftreten auf.

DIE BEIDEN GROSSEN ROMANISCHEN NATIONEN, Frankreich und Italien, retteten die Ehre Europas und des Westens. Retteten sie sie?

Das Gastgeberland Frankreich wartete zuerst mit der Jean-Giono-Verfilmung „Lebendige Wasser“ („L'eau vive“) auf, der die ausgiebigen Dokumentarpassagen von Wasserkraftwerken in der provencalischen Landschaft auf der Cinemascope-Leinwand faszinierende bildliche Höhepunkte boten; die für unser Empfinden überakzentuierte Familiengeschichte befriedigte weniger.

Die Franzosen sorgten aber auch für das einzige Erlebnis wirklich befreiender Heiterkeit in Jacques Tatis Komödie „Mein Onkel“ („Mon encle“), in der der liebenswerte Franzose als Darsteller die Gestalt seines Monsieur Hulot weiterführt und als Regisseur ein Brillantfeuerwerk köstlicher Einfälle abschießt; leider ist der Mittelteil eine Kette von Wiederholungen und Gags um ihrer selbst willen, wodurch letzten Endes die Parodie auf die hypermechanisierte moderne Lebensform und auch die menschliche Substanz etwas dünn bleiben. Es reichte aber noch für den „Sonderpreis“ der Jury. Daneben steuerte Frankreich noch drei keineswegs außerordentliche, aber doch recht gelungene und originelle Kurzfilme bei, so daß es insgesamt wohl die beste Auswahl zu bieten hatte.

An dieser Stelle sei gleich hinzugefügt, daß auch heuer das Gesamtniveau der Kurzfilme unbefriedigend war: man schwelgte in wehmütigen Erinnerungen an die Zeiten von „Crin Blanc“ und „Le ballon rouge“. Interessanterweise kamen die wenigen auflockernden Versuche - vor allem auf dem Gebiet des Zeichentrickfilms - aus kleineren Oststaaten, wie Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei, der größere Rest erschöpfte sich hingegen in konventionellen Landschafts- und Kunstfilmen. So fiel auch der erste Preis für Kulturfilme an Frankreich für „Die Seine begegnet Paris“ und „Mona Lisa“. Deutschland („Auf den Spuren des Lebens“) und die Tschechoslowakei („Entwicklung der Luftfahrt“) teilten sich in den zweiten Preis.

DEN MENSCHLICH REICHSTEN UND EHRLICHSTEN FILM steuerte Italien: „Der Strohwitwer“ („L'uomo di paglia“), mit Pietro Germi als Regisseur und Hauptdarsteller. Wir kennen von Germi bisher nur „Weg der Hoffnung“, leider noch nicht seinen „Ferroviere“, finden aber in allen seinen Filmen eine starke menschliche Kraft und ethische Triebfeder. Diesmal erzählt er nicht mehr als die einfache Geschichte eines Ehebruchs, zeigt aber mit psychologischer Folgerichtigkeit auch dessen verhängnisvolle Folgen auf. Trotz einiger weicher Stellen ergibt sich auch künstlerisch eine reife und geschlossene Leistung. Die bewährte Mischung von heiterer Fassade und ernstem Lebenshintergrund gab Mauro Bolognini in „Die Jungvermählten“ („Giovani mauiti“), wobei er sichtlich auf den Spuren seiner „Verliebten“ wandelte, sich in Milieu und Typenzeichnung aber noch mehr von Fellinis „Vitelloni“ beeinflußt zeigte. (Preis für das beste Drehbuch.)

FÜR DIE GRIMMIGSTEN ENTTÄUSCHUNGEN sorgte wieder Amerika. Sophia Loren war selbst zur Aufführung ihres dritten Hollywood-Films „Gier unter den Ulmen“ gekommen; sie zeigte wohl eine schlankere Linie und blendende Englischkenntnisse, aber keine wesentliche schauspielerische Weiterentwicklung. Doch bei der Gestaltung dieses theatralischen und düsteren Familiendramas von Eugene O'Neill war auch alle Mühe vergebens. Die zweite künstlerische Pleite nach literarischem Original waren

„Die Brüder Karamasow“, die keine Spur mehr von der differenzierten und hintergründigen Fsychologie Dostojewskijs besaßen und effektgeladener amerikanischer Kintopp waren, in dem unter namhaften Schauspielern (Yul Bryn-ner war in einem US-Bomber von Wien nach Cannes gebracht worden) das stereotype Lächeln von Maria Schell, das manchmal die Aufdringlichkeit einer Zahnpastareklame erreichte, besonders unangenehm auffiel. Nur um wenige Grade besser geriet die Verfilmung von William Faulkners „Der lange heiße Sommer“, trotz großer Besetzung mit Orson Welles, Joanne Woodward, Anthony Franciosa und Paul New-man (an den letzteren fiel der Preis für die beste männliche Darstellung).

England konnte heuer nur mit einem Beitrag aufwarten: „Orders to kill“ ist ein von Anthony Asquith sorgfältig und feinfühlig inszeniertes Gewissensdrama, das auf ehrliche Weise zur Problematik des politischen Mordes vorstößt, aber dann in der Lösung ebenso verflacht wie es am Anfang schleppt. Trotzdem noch einer der interessantesten, weil thematisch bedeutsamsten Filme des Festivals. Ein politisches Thema aus dem Krieg gegen Hitler griff auch der norwegische Streifen „Neun Leben“ in der authentischen Fluchtgeschichte eines norwegischen Widerstandskämpfers auf: menschlich packend, politisch objektiv, formal durchaus ordentlich, eine angenehme Ueberraschung aus einem kleinen Land.

Eine solche hatte auch Ungarn aufzuweisen, das in „Die eiserne Blume“ eine Liebesgeschichte aus dem Budapest von 1930 zeigte und sein Vorstadtmilieu mit Herz und Poesie zeichnete. Weniger vermochten dies die

Tageskarten S 10.—.Tschechen im heutigen Prag in „Die Liebenden der Vorstadt“, wobei eine langatmige Handlung mit übertriebener Bedeutsamkeit gespielt wurde.

Den Preis für die beste Regieleistung und den Kollektivpreis für die beste weibliche Darstellung heimste der Film „An der Schwelle des Lebens“ ein, die neueste Arbeit des“ bekannten schwedischen Regisseurs Ingmar Berg-man, doch wirkt seine ausgezeichnet gespielte Psychologiestudie aus einer Gebärklinik in manchen Szenen degoutant

Drei Filme gänzlich verschiedener Art und Herkunft zeigten saubere Durchschnittsleistungen: Argentinien mit „Rosaura um 10 Uhr“, einer Mischung von Charakterkomödie und Kriminalfall, Tunis mit seiner naiven, aber ehrlich bemühten Fabel „Goha“ und Indien (in Gemeinschaftsproduktion und einträchtiger Freundschaft mit Rußland) mit einer mittelalterlichen Abenteuergeschichte unter dem Titel „Die Reise um die drei Meere“, die ihren folkloristischen Reiz aus farbigen, oft allerdings unscharfen Cinemascope-Aufnahmen bezog.

Einen argen Versager leistete sich diesmal Spanien mit Juan Bardems „Rache“. Man kann es nicht fassen, daß diese pathetische Blut-und Bodenstory von dem bedeutendsterilrR!e;gs'-seur der iberischen Halbinsel inszeniert wurde; die schlechte Darstellung wirkte strafverschärfend, die gute Photographie ließ das mindere Objekt bedauern. Wenn Chiles Beitrag „Das vergessene Fischerdorf“ langweilig und dilettantisch geriet, so muß man ihm immerhin zugute halten, daß hier die erste Spielfilmproduktiön dieses Landes überhaupt vorlag und keinerlei Prätentionen und Namen vorgeschoben waren. In die unterste Kategorie gehören schließlich noch Rumäniens blutrünstiges Sozialdrama „Die Disteln von Beradan“, der nichtssagende und nur durch seine Hauptdarstellerin EHie Lamberti auffallende griechische Streifen „Die letzte Lüge“ sowie die durch ihre Primitivität entwaffnende indische Komödie „Der Stein der Weisen“. Eine arge Zumutung war leider auch der unsinnige japanische Film „Das Schneeland“.

ALLEIN AUF WEITER FLUR stand im abendfüllenden Kulturfilm Arne Sucksdorffs „Dschungelsaga“. Der Schwede erweist sich auch im indischen Dschungel als wirklicher Bildpoet, er berauscht uns diesmal in Farbe und Cinemascope mit grandiosen Naturerlebnissen, aber er zeigt sich bereits von der italienischen Mode willkürlich gestellter Szenen angekränkelt. Seinen einmaligen Wurf „Das große Abenteuer“ konnte er jedenfalls nicht mehr erreichen.

Schließlich waren noch Deutschland mit „Das Wirtshaus im Spessart“ und Oesterreich mit „Sissi III“ vertreten. Wir kennen beide als gute Kommerz- und Gebrauchsfilme; in dieser bescheidenen Umgebung stiegen sie allerdings im Wert.

DAS SPIEL IST AUS: Das Spiel kann beginnen — in den tausenden Kinos von Stadt und Land, in denen das „Fest“ sich in den nächsten Monaten fortsetzen wird und diese Filme laufen werden.

Sie mögen dabei gut oder schlecht abschneiden — für „Festspiele“ bedeuten sie eine beunruhigende Bilanz. Alle Herrlichkeit auf Erden — Landschaft und Luxushotels, Starparaden und Luxustoiletten — konnten darüber in Cannes nicht hinwegtäuschen. Wenn auch, um das Gesicht zu wahren, wieder wie üblich goldene und andere Palmen vergeben wurden — eine fehlte, und ihr Fehlen redet laut: Die Jury des Internationalen Katholischen Filmbüros, als deren Präsident der Schreiber dieser Zeilen auch heuer wieder fungierte, sah sich nicht in der Lage, diesmal ihren Festspielpreis zu verleihen.

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