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Reise um die Welt in 12 Tagen

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Mit einer Beteiligung von 42 Nationen stellte heuer Berlin einen absoluten Rekord für Filmfestspiele auf. Doch wer meinen möchte, daß damit die Filmkunst der Welt in einem umfassenden Panorama gesammelt wurde, irrt gewaltig. Diese Zahl besagt vielmehr, daß sehr viele Länder — sogar Ghana als jüngstes Mitglied der Völkergemeinschaft — sich ohne wesentliche Rücksicht auf Qualität dabei präsentierten. Daneben muß man noch einkalkulieren, daß Berlin prinzipiell den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang verschlossen bleibt. — Die erste Woche dieser „Internationalen Filmfestspiele Berlin“ erschien unter dem subjektiven Blickwinkel des unvoreingenommenen Beobachters alles andere als künstlerisch ergiebig.

Der amerikanische Streifen „Die zwölf Geschworenen“ wahrt die klassischen Dramenregeln der Einheit der Zeit und des Ortes und zeigt sich trotz dieser geradezu unfilmischen Beschränkung von einer konstant steigenden Dynamik. Wir erleben hier nichts anderes als die Diskussion der Geschworenen vor der Fällung des Urteils in einem Mordprozeß. Aber was haben Regie, Kamera und Darsteller (Henry Fonda in der Hauptrolle) hierbei geleistet! Mjt stärkster Konzentration auf das Wesentliche gelang auch eine packende menschliche Aussage.

Am nächsten kam ihm der italienische Film „Das Fenster zum Lunapark" von Luigi Comencini, dessen Regie viele gute Einflüsse von de Sica und Fellini zeigt. Im Mittelpunkt steht hier ein großartiges Kind aus den Außenbezirken Roms, das nach dem Tode der Mutter seinem meist im Auslande arbeitenden Vater seelisch entfremdet ist und in einem jungėn Freund der Familie die nötige verständnisvolle Wärme findet. Wie hier echte soziale und menschliche Problematik in Bilder voller Poesie umges.etzt und köstlicher Humor stets ohne Klamauk und Krampf entwickelt wird, das nahm man mit dankbarem und freudigem Herzen auf.

Obgleich eine Novelle von Cronin zugrunde lag, gelang den Engländern in „Der spanische Gärtner“ nur eine wesentlich schwächere Variation eines sehr ähnlichen Themas. Manche Fehlkonstruktion und Lieberzeichnung beeinträchtigte die verinnerlichte Substanz etlicher Szenen. Noch zwei weitere Filme standen im Zeichen des Kindes: als sympathische, frische Komödie mit ernsten Untertönen servierte Dänemark „Sei lieb zu mir", die Geschichte eines durch die Berufe seiner Eltern vernachlässigten Mädchens, während Japans Drama „Der Pferdejunge" vor allem von dem hinreißenden Darsteller eines ungezügelten, frechen und frühreifen Rangen getragen wurde, in Drehbuch und Photographie jedoch mäßig blieb.

Einige andere Streifen wußten zumindest in ihrer Art zu gefallen. Frankreichs Eröffnungsfilm „Arsene Lupin, der Millionendieb", eine Kriminalkomödie unter der fein pointierten und parodierenden Regieführung von Jacques Becker, in der auch Liselotte Pulver und O. E. Hasse zu einer heiteren deutsch-französischen Verständigung beitrugen. — Die mexikanische Legende „Tizoc“ berührte angenehm durch ihre ursprüngliche Naivität. Der großartige, leider vor kurzem tödlich verunglückte Pedro Infante und manche prächtige Landschaftsbilder in Cinemascope entschädigten für ein gewisses Maß an Pathos und Kitsch in der von Rassen- und Standesproblemen bestimmten Handlung. Auch mit Argentiniens „Pechvogel“, der ehrlichen Tragikomödie eines kleinen Mannes, konnte man zufrieden sein.

Mit großem Interesse verfolgte man die Beiträge der „kleineren Exote n“, die sich vielfach erstmalig auf einem Festival vorstellten. Hier verdient in erster Linie Korea genannt zu werden, das mit „Der Hochzeitstag“ eine charmante Komödie im Märchenstil präsentierte, wobei besonders die Anmut der. Frauen auffiel. Malaya zeigte sich in „Hang Tuah“, einer Heldensage aus dem 15. Jahrhundert, in formaler Eigenart und Qualität an den Japanern geschult, blieb aber inhaltlich ziemlich fremd. Hongkongs Spielfilm „Das Tal der ver-

lorenen Seelen“ verdarb sich vieles durch manche schlechte Wildwestmanieren.

Auch Deutschland konnte nicht befriedigen. Interessanterweise war ein abendfüllender Beitrag ein Experimentalfilm. Aber dieser „Jonas“ des Stuttgarter Nervenarztes Dr. Ottokar Domnick war trotz Photographie und Musik — die übrigens mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wurden — weder modern noch ausdrucksvoll genug, um die Schuldprobleme des heutigen Menschen zu symbolisieren. Im Stil des alten UFA-Gesellschaftsdramas war „Die Letzten werden die Ersten sein“ nach John Galsworthy, wobei sich der Streifen recht prätentiös gebärdet, aber oft in Aeußerlichkeit und Banalität steckenbleibt und in Regie und Darstellung reichlich forciert und überzogen wirkt.

Spanien führte in „Wem Gott vergibt" eine langweilige Banditengeschichte zu einem eindrucksvollen Ende, das allerdings besser einen Kulturfilm über die Karwochenzeremonien in Malaga abgegeben hätte.

England stattete seine Kolportagegeschichte „Manuela“ zumindest mit wirkungsvoller Darstellung und Schwarzweißphotographie aus.

Finnland konnte die Erwartungen, die manche nach dem großen Berlinale-Erfolg vom letzten Jahr („Der unbekannte Soldat“) gehegt hatten, leider nicht erfüllen. „1918 — ein Mann und sein Gewissen“, das Drama eines Pastors zur Zeit des finnischen Bürgerkrieges, konnte erst gegen Schluß echtes Ethos gewinnen, belastete sich aber vorher zu stark mit der

Nebenhandlung einer erotisch betonten Dirnengeschichte. Der Nachbar Norwegen hätte mit „Rendezvous mit vergangenen Jahren“ nur eine verkrampfte Liebesgeschichte zu bieten.

Am untersten Ende der Stufenleiter stehen der volksdemokratische Gruselfilm „Es war nicht vergebens" (Jugoslawien) sowie der verworrene französische Kriminalfilm „Spuren in die Vergangenheit", der sich als richtiger Schmutz-und-Schund-Roman entpuppte und gegen Schluß noch herzhaft verlacht und ausgepfiffen wurde. Unbegreiflich, was die große

Filmnation Frankreich zu einer solchen Auswahl veranlaßt haben mochte!

Relativ stark waren die abendfüllenden D o- kumentarfilme vertreten. Hier schoß wieder Walt Disney mit „Eine Welt voller Rätsel" den Vogel ab. Obgleich er diesmal die bewußte artistische Brillanz und humorvolle Auflockerung vermissen läßt, das Leben von Pflanzen, Insekten und Meerestieren ziemlich willkürlich untereinandermengt und am Schluß unvermittelt auf einen Vulkanausbruch und Cinemascope übergeht, bietet er uns doch wieder faszinierende Einzelbilder, die anscheinend nur seine Produktion zustande bringt. Ghana brachte seine Unabhängigkeitsfeiern in einem ganz geschickt gestalteten und sinnvoll kommentierten, in prächtigen Farben leuchtenden Streifen. Venezuela präsentierte einen Dokumentarfilm über sein Land ganz im Stil konventioneller Fremdenverkehrswerbung, die vor allem die moderne Architektur des Landes betont. Marokko versah seinen Streifen „Bra- him“ mit einer kleinen Spielhandlung, wobei man sich zuerst in eine soziale Milieustudie, gegen Schluß aber immer mehr in ein nationales Propagandaepos östlicher Tendenzhaftigkeit versetzt fühlte. Mexiko illustrierte „Die mexikanische Revolution“ an Hand der Fresken von Diego Rivera und anderer einheimischer Meister; die Massenflucht des Publikums sollte wohl zum Ausdruck bringen, daß ihm ein Kurzfilm darüber genügt hätte. 1

Oesterreich war — wieder einmal — mit keinem Spielfilm vertreten, zeigte aber auf dem Gebiet des Kulturfilms durchaus achtbare Leistungen: den schon bekannten Streifen über das Werk von Albin Egger-Lienz sowie als Welturaufführurig „Legende im Sonnenlicht“, dichterische Impressionen aus Schönbrunn. Die absolut beste Leistung des Kurzfilms brachten aber wieder die Franzosen: „Propre ä rien" („Taugenichts“), die zauberhafte Geschichte zweier Kinder und eines Schimpansenbabys, in herrlicher Farbphotographie voll dichterischer Inspiration. Leider war dieser Streifen so ungünstig angesetzt, daß ihn nur die wenigsten Festspielgäste sahen.

Ueberhaupt war das Rahmenprogramm mit seinen sich vielfach überschneidenden Nebenveranstaltungen heuer so überwuchernd, daß die Filmkunst — auch bei wesentlich besserer Auswahl — davon auch stark beeinträchtigt worden wäre. Darauf kann aber in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden.

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