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NEUE WELLE?

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“WÄHREND DES ZWEI WOCHEN hektisch aufgepeitschten Starrummels unter Palmen und filmisch außerordentlich interessanter Demonstrationen im Palais des Festivals an der von Menschen und Luxusautos überfluteten Croisette hatten die Franzosen geschickt einen Begriff in die Diskussion geworfen, unter dem das Jubiläumsjahr der 12. Internationalen Filmfestspiele von Cannes wahrscheinlich in die Geschichte des Zelluloids eingehen wird. Ob in der „Blue Bar”, der ewig brodelnden Nachrichtenbörse des Festivals, oder auf einem der zahllosen, champagnerumschäumten Empfänge in einem der Hotelpaläste von „Carlton” bis „Martinez”, ob beim Gespräch mit Roberto Rossellini oder mit einem der internationalen Klatschspaltenfabrikanten, überall fiel nach den ersten Sätzen das Wort von der „nouvelle vague”. Schon bevor die Filme eines Franęois Truffaut oder Marcel Camus über die Leinwand gingen, begahn die „Neue Welle” die Festivaliers gedanklich zu überfluten. Der Begriff wurde mit südländischer Lebhaftigkeit einem schillernden Spielball gleich durch die Gegend geworfen, ohne daß man sich zunächst ernsthaft Rechenschaft darüber gab, was sich denn wirklich hinter dieser sich revolutionär gebärdenden Seifenblase, mit der die französische Filmjugend zwischen 25 und 35 ihren Auftritt vor diesem internationalen Forum dekorierte, verbarg. Bis man plötzlich entdeckte, daß sich die Jungen darin gefielen, einem mit diesem Schlagwort weismachen zu wollen, das französische Filmschaffen existiere erst seit dem Augenblick, da sie sich entschlossen, eine Kamera in die Hand zu nehmen und’den Stürni auf die Bastille „Film” zu beginnen. Alles Vorangegangene zu negieren, ist das Vorrecht der Jugend. Aber Filme zu machen, in denen man ohne Stars auskommt, mit der Kamera in wirkliche Häuser geht, das Leben auf der Straße möglichst ungeschminkt festhält und die erschütternde Realität des Alltags, die schon ein Duvivier, Rossellini, Dellanoy auf die Leinwand brachten, als große künstlerische Offenbarung herauszuposaunen, scheint für eine echte revolutionäre Woge doch nicht ausreichend. Die Feststellung, eine erfreuliche Dünung in der Fortsetzung der filmkünstlerischen Intentionen des Realismus und Verismus zu sein, dürfte da eher zutreffen. Der Vergleich mit dem Einrennen offener Türen drängt sich einem auf, und die nachstehende Anekdote, die in Cannes die Runde machte, umreißt die Situation der „Neuen Welle” vielleicht deutlicher als alle propagandistischen Für und Wider: Rene Clair traf in Paris eine junge Amerikanerin. Man unterhielt sich über Film und Literatur. Clair sprach von seinem Urlaub und meinte: „Ich ruhe mich in Saint-Tropez aus.” — „Ach, da kennen Sie doch Monsieur Vadim (Exgatte von Brigitte Bardot)”, flötete die Amerikanerin. — „Warum?” — „Ich habe ihn nämlich letzthin kennengelernt. Er hat mir auch gesagt, daß er Saint-Tropez entdeckt hat.” — „Wirklich?” — „Doch. Und ganz Paris ist ihm dorthin gefolgt.” — „Schon möglich”, antwortete Renė Clair, der schon seit über zwanzig Jahren eine bezaubernde Villa in Saint-Tropez besitzt. Das ist alles. Die „Neue Welle”. Die „Neue Welle” entdeckt das Meer . .. Womit wohl dieses Kapitel abgeschlossen werden kann.

DABEI SOLL ABER DEM WERK des sieben- undzwanzigjährigen französischen Regisseurs Franęois Truffaut in „Les 400 coups” (Die vierhundert Schläge) keineswegs eine packende künstlerische Aussage abgesprochen werden. Die _ Schicksalepisoden aus dem Leben eines Halbwüchsigen — man vermutet dahinter autobiographische Züge aus Truffauts Entwicklung —, den Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit von seiten der Erwachsenen allmählich auf die schiefe Ebene bringen, verraten sowohl thematisch wie in Regie eine eigenwillig-starke Persönlichkeit ihres Gestalters. Insgesamt ein außerordentlich beachtliches Erstlingswerk des einstigen Filmkritikers, auf dessen weitere Arbeiten man gespannt sein kann. Der Preis der Jury für die beste Regieleistung wird ihn jedenfalls ermutigen.

Eine filmische Dichtung von wahrhaft bezwingender Intensität und Atmosphäre schuf Marcel Camus — er ist mit dem Dichter Albert Camus nicht verwandt — mit seinem großartigen Farbfilm „Orfeu Negro” (Der schwarze Orpheus), der zu 60 Prozent bei Außenaufnahmen in Rio de Janeiro entstand. Die Einmütigkeit, mit der die Jury — Julien Duvivier, Marcel Achard, Carlo Ponti, Micheline Presle und der Amerikaner Gene Kelly waren unter anderen in ihren Reihen zu finden — diesem Streifen die Qpldene Palme zuerkannte, zeugt für die in allen Bezirken vorhandene künstlerische Gestaltung dieses Films. Regie, Darstellung, Musik und Photographie verschmelzen darin zu einer seltenen Einheit, so daß der faszinierte Beschauer gar nicht weiß, welcher Leistung er den Vorzug geben soll. Vor dem erregend-bewegten Hintergrund des Negerkarnevals in Rio rollt die in die Gegenwart übertragene Legende von Orpheus und Eurydike voll erschütternd zarter Poesie ab, zu der sich noch die unglaubliche Vitalität und ursprüngliche Spielfreude der Neger — die meisten Mitwirkenden sind Laien und standen zum erstenmal vor der Kamera — als Stimulans der Begeisterung gesellt.

LIEBE IN IHREN VIELFÄLTIGSTEN DEUTUNGEN UND ÄUSSERUNGEN bildete über haupt das Generalthema bei der Mehrzahl der in Konkurrenz stehenden Filme. Am eindringlichsten behandelt wurde sie außer in dem Werk Camus’ in dem mit malerischer Virtuosität geformten Film „Der weiße Reiher” des Japaners Kunigasa, zu dessen bemerkenswertesten Schöpfungen zum Beispiel der Film „Das Höllentor” gehört. Beinahe jede Einstellung, die im Film „Der weiße Reiher” über die Leinwand geht, ist ein Gemälde von voHendeter Meisterschaft. Zugleich erhebt er die aus rührseligen Courths- Mahler-Gefilden stammende Geschichte von Liebe und Tod einer Geisha gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in die Sphäre eines zarten Liebesepos. Von ähnlich packender Gewalt an Stimmungen und Gefühlen erwies sich der außer Konkurrenz gezeigte Film „Hiroshima — meine Liebe”, der in japanisch-französischer Co-Pro- duktion von Alain Resnais mit der ausdrucksvollen Französin Emmanuele Riva und dem jungen Japaner Eiji Okada in den Hauptrollen gedreht wurde.

AUFSEHEN ERREGTE auch die jüngste Schöpfung des von kompromißloser Sehnsucht nach absoluter Freiheit erfüllten Revolutionärs Luis Bunuel in dem mexikanischen Film „Naza- rin”. Der Weg dieses- Armenpriesters, der sich nur den Geboten Christi verantwortlich fühlt und nach ihnen handelt, wird mit unerbittlicher Strenge im Zusammenprall mit kirchlicher Obrigkeit und Staat gezeichnet. Ein Film, dessen Bejahung oder Ablehnung jeder Beschauer mit seinem eigenen Gewissen und Glauben abmachen muß. Aus dem Reigen der düsteren und schweren Problemfilme ragten dann noch der englische Streifen „Room at the top” (Der Weg nach oben), in deni Simone Signoret den Preis als beste weibliche Darstellerin errang, und der init einem Sonderpreis ausgezeichnete ‘ Film „Sterne”1, der in “-Jjulgarisch-ostdeutscHer Gumeinschaftsarbeit entstand, hervor. Wenn auch die drei Hauptdarsteller, Orson Welles, Dean Stockwell und Bradford Dillman, für ihre Leistung in dem Film „Compulsion” (Der Zwang zum Bösen) gemeinsam den Preis für die beste männliche Darstellung erhielten, so vermochte weder dieser von Richard Fleischer inszenierte Streifen noch der zweite amerikanische Beitrag „In the middle of the night” (Mitten in der Nacht) mit Kim Novak und dem großartigen Frederic March in den Hauptrollen völlig zu überzeugen. Auch der mit Spannung erwartete Film „Das Tagebuch der Anne Frank”, der außer Konkurrenz die Festspieltage- an der Cote d’Azur beschloß, litt unter Längen, so daß der Achtungserfolg mehr dem erschütternden Thema als seiner filmischen Gestaltung galt. Die Verfolgung des Judentums durch den Nationalsozialismus hatte übrigens auch in dem schon erwähnten Film „Sterne” ihren Niederschlag gefunden und bildete ferner das Grundmotiv in dem mit der Goldenen Palme für Kurzfilme gekrönten tschechoslowakischen Streifen „Die Schmetterlinge leben nicht hier”, einem Mosaik von Zeichnungen jüdischer Kinder aus deutschen Konzentrationslagern.

WENIG ERFOLGREICH war ebenfalls Italien. Roberto Rossellinis abendfüllender Dokumentarfilm „Indien”, mit eingestreuten episodistischen Handlungen, ließ, abgesehen von einigen prachtvollen Naturaufnahmen, eine einheitliche Linie vermissen. Und das Zusammentreffen von Anna Magnani und Giulietta Masina unter dem Regisseur Renato Castellani in dem Schwarzweißfilm „Die Hölle in der Stadt” wurde zu einer von hysterischen Ausbrüchen zerquälten Milieuschilderung aus einem römischen Frauengefängnis, das einen eher abstieß als mitriß.

Die geringe Gegenliebe, die Oesterreich für seine „Halbzarte” fand — sie hieß in Cannes „Eva” —, wurde ein klein wenig durch das ehrliche Interesse für seinen Kurzfilmbeitrag „Sinn im Sinnlosen” von Dr. Peter Scheffler und Doktor . Bernhard Peithner-Lichtenfels wettgemacht.

Zum Lachen und Schmunzeln gab es bei diesem Festival kaum Gelegenheit. Nur Deutschland und Holland brachten mit „Helden” und „Fanfare” von Bert Haanstra etwas Fröhlichkeit in die von schwerwiegenden Problemstoffen’ angefüllten Festspieltage.

EIN GESAMTBLICK über die mehr als 60 Filme von 30 Nationen aber zeigte uns, daß die Gerüchte von der Weltkrise des Filmschaffens doch nicht so ernst zu nehmen sind. Frankreich zum Beispiel hat bei richtiger Einschätzung der „nouvelle vague” seine gewisse künstlerische Stagnation überwunden. Aehnliche Tendenzen waren auch bei anderen Nationen zu spüren, die durchaus nicht alle zu den Großen der Filmtradition gehören. Eine erfreuliche Erkenntnis, die einem Jubiläumsfestival durchaus würdig ist.

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