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Filmkunst — nur außer Konkurrenz

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AM VORTAG DER GROSSEN ENTSCHEIDUNGEN beherrscht eine große nervöse Ratlosigkeit den Lido von Venedig. Die wirklichen Filmfreunde, von denen nicht wenige dieses Festival als die letzte Bastion der aktuellen Filmkunst angesehen hatten, werden ebenso vergeblich wie verzweifelt nach einem würdigen Kandidaten für den ersten Preis (den „Goldenen Löwen von San Marco“) suchen und schließlich feststellen müssen, daß man sich wieder einmal auf eine unbefriedigende Kompromißlösung zusammengerauft hat.

Bei allen relativen Maßstäben,' die man an Filmfestspiele auf Grund der. jeweiligen Produktionssituation anlegen muß, kann man doch nicht umhin, immer deutlicher die absolute Frage nach ihrem Wert und ihrer Berechtigung zu stellen. Der Kritiker, der die Filmfestivals unter diesem Aspekt sieht, ist heute schon vielfach als Gewohnheitsraunzer verschrien. Aber gerade er ist es, hinter dessen Strenge und Schärfe sich noch am ehesten die liebende Hingabe an eine Filmkunst verbirgt, für die es doch gewisse objektive Wertmaßstäbe gibt und die auch dem technischen Fortschritt und dem unbarmherzigen Rat der zeitlichen Entwicklung standhält.

Venedig führt heute als einziges Festival noch den anspruchsvollen Titel „Internationale Filmkunstschau“, Cannes und Berlin hingegen haben sich auf die unverbindlichere Bezeichnung Filmfestspiele geeinigt. Dieser Verpflichtung sucht man in Venedig dadurch gerecht zu werden, daß man seit drei Jahren njcht einfach die Beiträge der gemeldeten Länder entgegennimmt, sondern eine Vorauswahl durchführt. Der junge und energische Doktor Ammanati, der aus der katholischen Filmbewegung Italiens kommt und seit 1956 die Geschicke am Ljdo lenkt, mußte diese notwendige Einschränkungsbestimmung schwer durchkämpfen. Ein Manko liegt zweifellos darin, daß die Auswahlkommission nur aus einem dreiköpfigen italienischen Komitee besteht und somit dem internationalen Charakter dieser Veranstaltung nicht entspricht.

ALS WIR IM VORJAHR, kurz nach Abschluß dieses Festivals, einige Filme aus der Auswahl von 1957 in Wien zu sehen bekamen, stellten wir mit Befremden fest, daß sie für unser normales Kinoprogramm zu schlecht waren. Dieses Erstaunen wird, fürchte ich, heuer noch größer sein. Hier weiß man, daß manche der unbestreitbar besseren Filme nicht in den offiziellen Wettbewerb zugelassen , wurden. Man konnte ihren Wert dafür in der „Sezione informativa“ kennen und schätzen lernen. Diese zweifellos höchst lobenswerte Einrichtung gibt Gelegenheit, jeweils an den Nachmittagen Filme zu sehen, die entweder keine Gnade vor der Auswahlkommission gefunden haben oder aber zu den interessantesten Erscheinungen der Jahresproduktion gehören, zumeist aber schon auf den vorhergegangenen Festivals von Cannes und Berlin gelaufen sind. Daher sind die Experten bei diesen Vorführungen im Großen Saal des „Palazzo del Cinema“ meist sehr zahlreich vertreten, während bei den Abendvorstellungen der Hauptkonkurrenz viele Snobs und Adabeis glauben, in diesem eleganten Rahmen ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen erfüllen zu müssen. Innerhalb dieser Informationsschau konnte man diesmal Filme wie „The goddess“ von John Cromwell (USA), die beiden schwedischen Ingmar-Bergman-Filme „An der Schwelle des Lebens“ (in Cannes ausgezeichnet) und „Am Ende des Tages“ („Goldener Bär“ von Berlin 1958), die köstliche italienische Diebskomödie „I soliti ignoti“ von Mario Monicelli, das packende amerikanische Drama „The defiant ones“ von Stanley Kramer, den englischen Problemfilm „Orders to kill“ sowie die bei uns schon bekannte ,.Kanonenserenade“ (hier allerdings in italienischer Fassung) sehen; vor allem aber die bezaubernde Komödie „Weddings and babies“, von dem kleinen, unabhängigen Produzenten Morris Engel, die vielfach als der beste der gezeigten Filme neuer Produktion angesprochen wird.

DIE EIGENTLICHE FILMKUNST war jedoch am stärksten in den Retrospektiven vertreten, die jeweils das Vormittagsprogramm bildeten. Die ersten drei Tage davon waren Asta Nielsen gewidmet, der nächste Eisenstein, der Rest von neun Tagen Eric von Stroheim. Hier zeigte sich, daß dieser eigenwillige, früh nach den USA ausgewanderte Sohn unserer Stadt als Regisseur unvergleichlich größer war denn als Schauspieler. Seine Stummfilme „The wedding march“ und „Greed“ strahlen noch heute einen unverwelkten Glanz aus. Leider ist hier nicht der Raum, auf solche Meilensteine der Filmkunst näher eingehen zu können.

So müssen also die Retrospektiven und die Informationsschau dazu dienen, das Renommee des Festivals zu retten und diese Veranstaltung erst richtig zu legitimieren.

VON DEN VIERZEHN FILMEN DES HAUPTPROGRAMMS stellte Frankreich drei, die leider durchweg jenen destruktiven Geist bezeugten, der von einer „geistigen Avantgarde“ dieses Landes hochgezüchtet wird. Die artistische Brillanz war in keinem Falle so groß, daß sie die bedauerlichen stofflichen Mißgriffe hätte aufwiegen können. Sie war noch am ehesten bei dem jungen Louis Malle gegeben, den man nach seinem Erfolgsdebüt in„L'ascenseur a t'echa-faud“ wohl überschätzt. In „Les Amants“, zum Abschluß des offiziellen Wettbewerbs gezeigt, zeigte er sich jedenfalls bereits von der erotischen Spekulation in die Irre geleitet. Der gehässige Zynismus eines Claude Autant-Lara ist bereits aus „Le diable au corps“ und anderen Filmen bekannt. Diesmal gab er seine amoralische Visitenkarte in „En cas de malheur“ ab, einer Routineangelegenheit für ihn, Brigitte Bar-dot und Jean Gabin. Formal am schwächsten fiel aber die Maupassant-Verfilmung „U n e v i e“ unter der Regie des noch jungen, innerlich anscheinend aber früh gealterten Alexander Astruc aus, die noch dazu durch das schauspielerische Versagen von Maria Schell und Christian Marquand belastet war. Bei diesen drei Versagern wird die Problematik der bestehenden Vorjury besonders offenbar. Man gewinnt den Eindruck, daß hier überspitze Formal-

ästheten am Werk sind, denen einzelne künstlerische Finessen absolut über den menschlichen Wert eines Sujets gehen.

Ein solcher wird durch die unfreundlichen Kritiken erhärtet, mit denen ein Großteil der italienischen (aber auch der französischen) Presse dem insgesamt besten und wertvollsten Streifen des Festivals, dem amerikanischen Beitrag „T h e B I a c k O r c h i d“ von Martin Ritt begegnete. Diese ebenso einfache wie saubere und psychologisch richtige Familiengeschichte verrät die gute Schule von „Marty“, „Mädchen ohne Mitgift“ und „Alle Sehnsucht dieser Welt“. Der gesunde Geist, der diesen Film beherrscht, offenbart sich ohne Effekte und Phrasen und fügt auch das religiöse Element (auch dieser Streifen spielt in einem Italienerviertel der

USA.') als organische Lebensgrundlage ein. Die große LIeberraschung darin ist Sophia Loren: ohne Spur von penetranter Erotik, bietet sie diesmal die weitaus reifste und beste Leistung ihrer Karriere. Als sie zur Premiere nach langer Zeit wieder auf heimatlichen Boden kam, würde sie freundlich begrüßt; in den Kritiken dürften jedoch noch manche Ressentiments gegen sie und Carlo Ponti, der hier als Mitproduzent zeichnet, den Ausschlag gegeben haben. Aber welch eine Welt trennt doch ihren Film von dem der BB.' Und wie sehr hebt sich ihre nunmehr gewonnene charmante Damenhaftigkeit von der vulgären Note des französischen Sexgänschens ab! Großartig ist Anthony Quinn als Sophias Partner. Keine Spur seiner gewohnten vitalen Dynamik, dafür vollendete Kunst des diskreten Unterspielens.

Der zweite amerikanische Beitrag, „G o d' s 1 i 111 e a c r e“, erschöpfte sich hingegen in seinen brutalen Effekten und der Schwüle des Südstaatenmilieus, das hier deutlich nach „Baby Doli“ schielte. Unter den Erwartungen blieb leider die englische Komödie „The Horse's Mouth“, in der Alec Guiness sich wieder als brillanter Schauspieler erwies, aber leider erstmalig auch als Drehbuchautor versuchte und dabei nur auf sich selbst Bedacht nahm. Es gab wohl einige köstliche Kabinettstückchen des englischen Regisseurs Ronald Neame, aber inhaltlich vermochte der skurrile und überspielte Film nicht zu befriedigen.

Außer sich vor Begeisterung gerieten die ' Italiener bei „La S f i d a“, einer mit hartem Realismus und steigernder Bildintensität inszenierten Story unter Geschäftsgangstern in Neapel. Immerhin gaben in diesem Kolportagedrama ein junger Regisseur (Francesco Rosi) und unverbrauchte Schauspieler eine beachtliche Talentprobe ab.

DIE GROSSE ÜBERRASCHUNG DIESES FESTIVALS war eigentlich Deutschland, das mit „Das Mädchen Rosemarie“ einen großen Erfolg erzielen konnte und in „D e r achte Wochenta g“, einer Gemeinschaftsproduktion mit Polen, ein allzu trist gefärbtes, aber sozial und politisch doch ernst zu nehmendes Zeitbild lieferte. Auch hier wurde ein Star erstmals als Schauspielerin entdeckt: Sonja Ziemann.

Die Japaner, auf Grund früherer Erfolge in Venedig besonders gerne gesehen, lieferten zwei menschlich ansprechende und achtbare Filme, von denen „Der Rikscha-Kuli“ unserem Empfinden viel näher kam als ..Die Legende von Narayama“. Doch alle diese Streifen sind von der Spitzenklasse bzw. der Filmkunst noch weit entfernt!

Die Tschechoslowakei zeigt in „D i e W o 1 f s-g r b e“ ein bürgerliches Kleinstadtdrama von mitunter quälender Hysterie, in dem nur die Hauptdarstellerin Jirina Sejbalova außerordentlich war. Aehnlich erging es den Schweden mit „Lichter der Nacht“, worin nur Marianne Bengtsson gefiel. Der größte Durchfall war jedoch unzweifelhaft der russische Streifen „O t a r s Witwe“, vor dessen langweiligen Monologen und veraltetem Pathos zahlreiche Festspielgäste vorzeitig flüchteten.

Dieses in seinem Hauptprogramm verunglückte Festival wird auch für Venedig ein Wendepunkt sein müssen. Aehnlich war es 1955, als ein absoluter Tiefstand erreicht war und eine neue Leitung das Steuer erfolgreich herumriß. Das damalige Konzept bestärkt uns immerhin in der Hoffnung, daß man nicht in einem eingefahrenen Routinebetrieb weiterwursteln wird.

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