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Krise der Filmfesispiele

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Venedig, im September

Daß das Niveau der Filmproduktionen gesunken ist und es daher für die Leitung der Filmbiennale in Venedig schwierig war, festivalreife Filme zu erhalten, hat der neue Leiter der Festspiele, Doktor Croze, freimütig zugegeben. Zudem hat es Mn Jahre 1954 eine große Reihe von Filmtestspielen gegeben — und Venedig reiht sich dem Datum nach als letztes an! Da jedes dieser Festspiele Ausschließlichkeit beansprucht — Venedig nimmt nach seinen Statuten keine Filme an, die schon vorher auf einem anderen Festival gezeigt wurden —, so bleibt also nach Cannes und Berlin sozusagen nur noch die dritte Wahl des Jahres übrig, soweit es sich nicht um Filme handelt, die eben erst zuletzt fertig geworden sind.

Eine Veranstaltung wie Venedig ist heute nicht mehr ein Wettstreit der Filmkunst — eine Chance, auch den Film als Kunst anzuerkennen, wie es die Absicht seiner Schöpfer war —, sondern es mt für die meisten seiner Teilnehmer ein filmisches Schaufenster für die romanische Welt, der ideale Rendezvousplatz für drei Erdteile. „Ich bin nicht wegen der Filme gekommen", sagte mir ein amerikanischer Freund, „aber treffen kann ich hier ganz Europa." Das gilt auch schon für die Jugend- und die Dokumentarfilmschau. „Soweit die Filmschau von Venedig einen Ueberblick über das Gesamtbild der Weltproduktion gestattet… so befindet sich doch die Dokumentarfilmproduktiön in einem Augenblick des Tiefstandes, der durch zahlreiche Faktoren hervorgerufen ist", stellt die Jury über das Kulturfilmfestival von Venedig in der Begründung ihrer Entscheidungen fest und gibt damit zu, daß das Filmkunstwerk im Kurz- und im Langfilm auch auf den Filmkunstschauen bereits zur Ausnahme geworden ist.

Damit aber gerät das Filmfestspiel selbst in eine Krise. Es erfüllt nämlich dann nicht mehr die Aufgabe, den wahren Fortschritt auf dem Gebiete des Films, die besten Leistungen durch die Anerkennung durch ein Preisgericht herauszuheben und anzuspornen, und es erfüllt ebensowenig die Aufgabe, einen wirklichen Ueberblick über die Tendenzen und Strömungen der Filmproduktion der Welt zu schaffen.

Dr. Croze meint an sich richtig, jedes Land solle nur seinen besten oder eventuell seine zwei Besten Filme nach Venedig senden und auf die andern verzichten. Wenn aber nun ein kleines oder großes Land drei, vier oder, wie 1954, fünf Festivals in einem Jahr beschicken soll und sich nicht wiederholen darf: soll dann nach Venedig der fünftbeste geschickt werden oder gar der erstbeste? Auch eine internationale Jury, wie sie dieses Jahr zum erstenmal in Venedig zusammentrat (9 Mitglieder, davon 5 Italiener), wird ihre Preise nur aus diesem Zufallsnebeneinander der eben gerade verfügbaren Filme vergeben können.

Es ist daher sicher kein Zufall, daß in Venedig die Zahl der Vorführungen außer Konkurrenz anwächst und manche Filme darunter w-aren, die mehr Interesse Verdienten als die im Programm der Filmschau. Nicht der Preis, sondern die Chance, einen Film vor einem internationalen Forum aus der ganzen W'elt zu zeigen, lockt die Produzenten nach Venedig.

Um den Streit der Teilnehmer an der Filmschau «m den Vorführungstermin — nachmittag oder abend -— unmöglich zu machen, hat Dr. Croze als Neuerung in diesem Jahr zwei Filme an jedem Abend eingeteilt. Beginn ist um 21.15 Uhr '(in ' der Praxis allerdings immer wesentlich später), dann folgt nach dem ersten Film eine Pause, und dann kommt ein zweiter Film, Ende um ein oder auch gegen zwei Uhr morgens. Damit erreicht man für beide Filme den glanzvollen gesellschaftlichen Rahmen des Kinopalastes am Lido. Aber man bringt auch durch einen schwachen Film, der die Zuschauer ermüdet, oder durch einen starken Film, der mit dem folgenden unmittelbar zum Vergleich herausfordert, einen der beiden Filme um einen Teil seiner Wirkung. „Zwei Filme an einem Abend sind zuviel, besonders wenn sie mäßig sind", stellt dazu ein italienischer Kritiker fest.

Damit ist zum erstenmal auch die Frage der Filmkritik bei den Festspielen aufgerollt. Denn neben der Chance, einen Preis der Jury zu erhalten oder den Film bestimmten Interessenten zu zeigen, ist es doch die Kritik der internationalen ebenso wie der italienischen Presse, die den Teilnehmern der Filmbiennale interessant ist. Zeit, Mentalität und Sprache sind Faktoren, die für diese Kritik mitbestimmend sind. Auch muß man die Resonanz des Publikums und die der Kritiker unterscheiden. Beginnen wir mit dem Faktor der Sprache. Der gebildete Italiener spricht in der Regel Französisch, und er versteht Spanisch. Nicht jeder kann Englisch wenige können Deutsch. Er fühlt sich am leichtesten in die romanische, aus großer Filmerfahrung auch in die amerikanische Mentalität ein, schwieriger in die britische und noch schwieriger in die deutsche. Nun laufen aber anderssprachige Filme in der Regel nur mit italienischen Untertiteln. Es kommt also in erster Linie der Film beim Publikum an. der vom Bild her bewegt, der den Dialog wirklich nur als Hilfe verwendet oder der seinen Dialog hinreichend übersetzt. Filme in italienischer Sprache gehören in Venedig zu den bestbesuchten.

Daß das Interesse an der Filmkunst lebendig ist und nur die Werke fehlen, dieses .Interesse zu befriedigen, beweist eindeutig der starke Erfolg der Retrospektive deutscher Stummfilme bei der diesjährigen Filmkunstschau. Die Italiener vor zwei Jahren und die Franzosen vor einem Jahr hatten dasselbe versucht, aber sie zeigten immer nur Bruchstücke, endlose Folgen von filmkund- lichen Ausschnitten für Spezialisten. Lavies vom „Deutschen Institut für Filmkunde" zeigte abendfüllende Filme, „Der Student von Prag", „Der letzte Mann", „Menschen am Sonntag" u. a., Filme, die einst Aufsehen gemacht und bewiesen hatten, daß der Film auch Kunst sein kann. Und diese Filme bewiesen es auch heute noch. Im überfüllten Saal des Kinopalastes in der strahlenden Sohne Venedigs. Trotz der strahlenden Sonne!

Eigentlich legt diese Erfahrung doch die Antwort auf die Frage nach dem Heilmittel gegen die Krise der Filmfestspiele nahe: entweder man entschließe sich, auf die Ausschließlichkeit zu verzichten und regionale oder nationale Festspiele zu machen mit dem Ziel, eben in Italien oder in Frankreich oder in Spanien eine wirkliche L'ebersicht über den internationalen Stand des

Films zu geben, zu dem die Nationen ihre jüngsten und besten Filme schicken, gleichgültig, wo sie schon gezeigt worden sind. Ob man dabei prämiiert oder nicht, ist gar nicht so wichtig. Oder man kehre zurück zur Filmbiennale und teile das Recht, Preise au vergeben, so daß jedes Jahr nur ein Festival die Preise wahrhaft international vergibt und die Auswahl aus allen Filmen, welche die Staaten für ihre besten halten, often- steht, während das andere Festival sich begnügt, eine bloße Schau zu veranstalten.

Denn was geschieht jetzt? Je mehr durch die Unsicherheit, welche Television, Breitwand und Raumfilmverfahren, die engere wirtschaftliche Basis des europäischen Films und die Verflachung durch die Rücksicht auf bestimmte Märkte mit sich bringen, die Zahl festivalreifer Filme —- Filme, welche die Kinematographie auf dem Wege zur Kunst wenigstens um ein kleines, um ein winziges Schrittchen weiterführen — zurückgeht, desto mehr Festspiele im Dienste der Filmkunst werden organisiert. Gerade aber weil ein echtes Bedürfnis nach einer wirklichen Ueberschau über die Filmproduktion der Welt besteht, mehr noch als für die Filmhändler für die Filmschaffenden und die Filmkritiker, gerade deshalb ist der gegenwärtige Zustand unbefriedigend. Gerade deshalb sollten sich die Festivals zusammentun. Denn nicht Cannes. Venedig oder Berlin sollten bei Filmfestspielen die Hauptsache ein, sondern der Film, womöglich der Film in seiner höchsten Entwicklungsform: der Filmkunst.

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