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Filmschau der Völker

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Venedig, Anfang September Im Jahre 1938 wurde in Venedig der Mussolini-Pokal, den die Amerikaner für „Schneewittchen“ haben wollten, dem „Olympia-Film gegeben, während der Disney-Film nur einen Sonderpreis erhielt. Darafhin blieben die Amerikaner im nächsten Jahre der Biennale mit ihren Filmen fern und entschlossen sich, gemeinsam mit den Franzosen eine Konkurrenzveranstaltung in Cannes durchzuführen, deren Weiterführung allerdings' der Krieg dann verzögerte. Seither wuchsen die Konkurrenzveranstaltungen für Venedig aus dem Boden; im Vorjahr beispielsweise reihten sich die Filmfeste vom Juni bis Oktober aneinander, eines das andere erwartend und Venedigs Bedeutung als Filmkunstausstellung empfindlich bedrohend. Dieses Jahr aber geht die Lagunenstadt daran, ihre alte Bedeutung als Filmfeststadt zurückzugewinnen, Zum erstenmal nach dem Kriege ist die Filmbiennale In Venedig wieder die alleinige internationale Filmveranstaltung des Jahres von allgemeiner Bedeutung. Einen repräsentativen Überblick über das Filmschaffen der Nationen zu geben und die Filmschaffenden und Filminteressenten wirtschaftlicher und geistiger Art möglichstf vieler Nationen zusammenzuführen, Ist der eigentliche Sinn solcher Veranstaltungen. Bei dem Hauptteil der Veranstaltungen, der am 20. August begonnen hat, sind — mit abendfüllenden Filmen — elf Nationen im Programm vertreten: Argentinien, Amerika, Deutschland (zum erstenmal nach dem Kriege), England, Frankreich, Israel, Italien, Mexiko, Schweden, Spanien und Österreich.

Schon die Auswahl der Filme, ihre Placierung und nicht zuletzt ihre Prämiierung erfordern nicht nur Sachkenntnis, sondern auch Diplomatie und sind oft das Ergebnis intensiver Tätigkeit hinter den Kulissen. Die Filme werden von den einzelnen Staaten vorgeschlagen, aber die Auswahl und die Einordnung ins Programm nimmt die Leitung der Biennale selbst vor. Schon das stellt eine erste Wertung dar.

Den Eröffnungstag erhielt in diesem Jahr das Land mit den meisten Filmen, die USA, für den abendfüllenden Zeichenfilm von. Walt:

Disney: „Aschenbrödel“. Er Ist eine

Mischung aus den poetischen Silly-Sympho-nien, mit denen Disney 1932 begann, aus Motiven, die in „Schneewittchen“ angeschlagen wurden — wie dem von den helfenden Vögeln —, mit der akustischen Zeichenfilm-groteske, wie sie Fleischer und andere in Amerika pflegen. Den Abschlußtag, den 10. September, hat, wie üblich, das Gastland für den Film „Domani e troppo tardo“ (Morgen ist es zu spät), einem Film mit de Sicca, erhalten, nachdem Rosselinis „Strom-boli“, der ursprünglich für diesen Termin bestimmt war, vorverlegt wurde.

Von den drei begehrten Samstagen war der erste Italien für die Filme Rosselinis gewidmet. Rosselini selber war mit Ingrid Bergman gekommen, um bei seinen Uraufführungen anwesend zu sein. Die Heiligenlegende „Francesco, Guilare di Dio“, sein mit Laienschauspielern gedrehter, soeben fertig gewordener Franziskus-von-Assisi-Film, entstand unter der Mitarbeit des Pater Morlion von der vatikanischen Universität in Rom. Der Film ist keine Heiligenbiographie, sondern eine Legendenfolge, aufgebaut auf die populäre Fassung der Fioretti di S. Francesco. Aus elf Episoden der Legende ersteht das Bild der Demut, der Armut, der Einfalt, der Naturliebe, des Mitgefühls mit allem Leidenden und des Frohsinns des Heiligen. Rosselini vermählt hier den krassen Realismus seiner früheren Filme — eine brutale Lynchszene fehlt auch hier nicht — mit stilisierter Poesie von Strenge und Schönheit und schafft Bilder, die wie aus Fresken oder Plastiken geschnitten wirken. Eine Szene von so dichterischer Kraft wie die Begegnung Franziskus mit dem Aussätzigen und sein Niederstürzen auf die blumenbesäte Wiese in letzter Verzweiflung riß die Zuschauer zu spontanerminutenlanger Zustimmung während der Vorführung h i n.

Der Film ist ein wesentlicher, weiterführender Schritt in der Entwicklung Rosselinis, während der am Abend aufgeführte, wegen seines Prozesses mit der amerikanischen RKO außer Konkurrenz gezeigte, vieldiskutierte und umstrittene Fi!a mit. Ingrid Bergman,

.StromboH“, sein durchaus zeitnahes Thema im Grunde verfehlt. Der Film handelt von einer heimatlos gewordenen Frau — gespielt von der Bergman —, die, um endlich aus dem Internierungslager entlassen zu werden, einen italienischen Fischer aus Stromboli heiratet. Sie ist dann von der Armut und Einsamkeit des Lebens auf der Insel maßlos enttäuscht, will den Mann verlassen, auch dann noch, als sie ein Kind erwartet. Ihre Flucht übers Gebirge bringt die Läuterung: sie bittet Gott um die Kraft, ihr Loi auf sich nehmen zu können. Der Film hat drei grundlegende Hemmnisse: sein Buch reicht für einen abendfüllenden Film nidit aus. So muß Rossellini mit großartigen Kulturfilmepisoden, dem aufregenden Thunfischfang und einem Vulkanausbruch, die wohl beide dramaturgisch begründet sind, auffüllen. Das Buch gibt der Bergman auch keinen Gegenspieler, der ihr Pausen gäbe, Atem, um sich nach der Parenthese am Spiel des Partners zu steigern. So muß die Schauspielerin fast den ganzen Film hindurch einen Monolog bestreiten, der ihre Grenzen enthüllt. Zudem kann sich der Zuschauer kaum von den vorangegangenen Sensationen um ihr Privatleben völlig freimachen. Da die Handlung dazu manche ungewollte Anspielung enthält, wird auch die künstlerische Wirkung beeinträchtigt. Denn es ist ein anderes, der Gestaltung eines Leides zuzuschauen, als einen leidenden Menschen zu sehen. Der Film ist ein großer Wurf, den leider sein Atem nicht ganz durchsteht. Ein spöttischer Kritiker meinte im Hinblick auf die Reihenfolge der Aufführungen: Rosselini setzt uns die Buße vor der Sünde vor.

Der zweite Samstag gehört Österreich mit dem Anzengruber-Film „Das vierte Gebot“ (am Nachmittag, am Abend wird das Ergebnis des Wettbewerbs um den goldenen Lorbeer für den europäischen Film, der am meisten der Völkerverständigung dient, be-kantgegeben), und den dritten haben die Briten mit „Panik in the streets“ (den Nachmittag Argentinien mit „Marihuana“) besetzt.

Deutschland zeigt nur zwei Filme, beide an Nachmittagen. Der ein — von und mit Kurt Götz — ist die Filmfassung des Theaterstückes „Frauenarzt Doktor Prätorius“, mehr Komödie als Film, mit Szenenbeifall aufgenommen, der zweite der jüngste Film Helmut Käutners „Epilog“, ein nach einem wahren Ereignis geformter Stoff von außerordentlicher Spannung. Drei weitere gemeldete deutsche Filme hat die Biennale abgelehnt. „Herrliche Zeiten' könnte zu politischen Mißdeutungen führen, „Nachtwache“ wurde für den Wettbewerb um den goldenen Lorbeer bestimmt und so aus dem allgemeinen Wettbewerb ausgeschaltet, .Föhn“ wurde nicht berücksichtigt.

Ein starker Eindruck bleibt von dem britischen Film „Staatsgeheimnis“, der einen lebensnahen Vorwurf in einem Vosnien genannten Diktaturstaat in den Alpen spielen läßt, eine dichte Dramaturgiemechanik, die bis zum Schluß nicht mehr losläßt, Satire und beängstigende Wirklichkeitsreminiszenz vereinend. Außerordentlich positiv ist die Haltung der beiden Laienfilme Israels „Dem Übel entronnen“ und „Land der Väter“, mehr als symptomatisch ist das zahlenmäßige überwiegen der Kriminalthemen im Programm, angefangen von der sachlich exakten Behandlung des Polizeidienstes und der Nachkriegskriminalität der Jugend in dem britischen Film „Die blaue Lampe“, über die Destruktion der amerikanischen Filme „Once of Thief“ und „Asphalt Jungle“ und schließlich auch „Caged“, deren Thema immer wieder das Verbrechen und deren Helden Verbrecher sind, bis zu den Verirrungen der Mexikaner in „Mann ohne Antlitz“ zur mißverstandenen Psychoanalyse und zum Filmexpressionismus zur Erklärung des Seelenlebens eines Lustmörders.

Die Franzosen brachten feinen Realismus in .Rendezvous avec la Chance“ (sie verkleiden die Eindeutigkeit von Schnitzlers „Reigen“ mit ihrem skeptischen Charm) und bringen noch Cocteaus Experiment „Orphe“; die Amerikaner senden den Oskargekrönten Film über einen politischen Korrupitonisten „All the Kings Men“, für den sie den großen Preis erwarten. Im ganzen nach den bisherigen Eindrücken und Vorberichten ein Uberwiegen virtuoser Technik in konventionellen Bahnen und ein Kulturpessimismus im Inhalt, dem sich nur wenige Filme (etwa Götz' „Prätorius“) entziehen. Rußland und die Staaten seiner Einflußsphäre sind in Venedig nicht vertreten.

Neben den künstlerischen Wettbewerben gibt es heuer zum erstenmal zum Kennenlernen des Geschäftsfilms die Filmmesse, auf der weitere 135 Filme gezeigt werden; es gibt ferner eine internationale Ausstellung der Filmliteratur, auf der Österreich nur durch die Zeitschriften „Filmkunst“ und „Wiener Filmrevue“ vertreten ist, es gibt künstlerische Rückschauen auf frühere Filme von Greta Garbo, Maerel Carne und King Vidor für die Filmhistoriker.

Schon vor der Eröffnung der eigentlichen Filmkunstschau war in Venedig eine Schau der wissenschaftlichen und der Kinderfilme. In diesen trug Österreich zwei ehrenvolle Erwähnungen davon, für den Puppenfilm .Schneeweißchen und Rosenrot“ und für den Forschungsfilm „Das Starlingsche Herz-Lungen-Präparat“.

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