6660369-1960_02_14.jpg
Digital In Arbeit

Romantik, Vision, Realitat

Werbung
Werbung
Werbung

DER FILM UNSERER TAGE, wie er sich vornehmlich, aber nicht ausschließlich in der demokratischen Abendfeier des Kinos kundgibt, ist ein Gemisch von zeitloser Romantik, Vision von gestern und Wirklichkeit von heute. Das Morgen ist völlig ungewiß.

Das Abenteuer der zappelnden Leinwand, geweckt von spekulativen Erfindern und Kauf-' leuten, getragen von einer ganz bestimmten Zeitlage und erlebt und geliebt von einer dafür hochempfänglich gewordenen Masse, stellt die romantische Epoche des Filmzeitalters und seinen bis heute fortwirkenden bedeutendsten seelischen Untergrund dar. Das Gesicht der zweiten, visionären Epoche zwischen den beiden Weltkriegen bestimmen die Künstler. Sie träumen in der „neuen Kunst“ des Films von der allgemeinverständlichen, völkerverbindenden Bildersprache und dem wieder „sichtbar gewordenen Menschen“ einen atemraubenden Traum, aus dem sie erst der blutige Morgen des zweiten Weltkrieges weckt. In der dritten Epoche des Films, unserer Gegenwart, verfließen alle technischen, kommerziellen und künstlerischen Strömungen des Films von eh und je zu einer alles umfassenden harten und jederzeit gefährdeten Wirklichkeit zusammen, die von der ganzen Gesellschaft getragen wird.

In diesen Tagen tritt zu den bisherigen Akteuren des Films, den Schöpfenden, Schaffenden und Kaufleuten, mitschaffend und in hohem Maße mitverantwortlich, die ästhetisch-weltanschauliche Kritik und Publizistik, bisweilen ein lästiger, die Kreise störender Quengler, im Ideälfall ein produktiver Faktor, ja eine schöpferische Potenz des Films selber — was immer ihr auch menschlich unterlaufen kann.

ERSTAUNLICH VIEL . GESCHAH in der ersten, romantischen Epoche des Films. Aus der Wiege, dem indischen Salon des Grand Cafe am Boulevard des Capucines in Paris, aus Buden, Zelten und Baracken übersiedelt das Kino in feste Häuser, im unverbesserlichen Europa sofort als neue Möglichkeit für Kunstexerzisen, Schularbeiten und Dissertationen beschlagnahmt, unter der unbeschlagenen Brille des amerikanischen wilden Westens aber früh, sehr früh (nach dem Scheitern des Massensports und des religiösen Sektenbetriebes) als die Chance des Jahrhunderts für die modernste, bequemste und ertragreichste Freizeitgestaltung erkannt — eine soziale Tat gewissermaßen, die weit vorwärts weist, weit über uns hinaus, die wir ja heute noch ein paar Tage der Woche arbeiten ...

Damit sind in dieser Zeit nicht nur die nationalen und internationalen Rohstoff-, Produktions- und Absatzkartelle, also die industriellkaufmännischen Fundamente, sondern auch die sozialen und pseudokünstlerischen Funktionen des Films und des Kinos grundgelegt, die dann in den beiden folgenden Epochen weltwirksam werden. Die Hegemonie liegt die längste Zeit über bei Frankreich; es gewinnt 1918 Elsaß-Lothringen und verliert mit der politischen Großmachtstellung auch die Filmweltherrschaft.

NOCH ANDERES wird grundgelegt:

1. Der Franzose Melies begründet den Trick-, Zauber- und Illusionsfilm, der sich in der folgenden Aera im Gruselfilm und im deutschen Dämonismus voll entfaltet und mitschuldig wird an der Grande Illusion des Films als neuer Kunst, gleichzeitig aber als ewiges Märchen weiterlebt, über „Schneewittchen“ und „Bambi“ bis in unsere märchenarme Zeit, da eben in diesen Tagen ein Mann namens Bozzi in einen Hund verwandelt und solcherart zum Menschen geläutert wird.

2. In Max Linder, den Slapstick-Possen von Mack Sennet und Co. legt das Altertum die Filmkomik grund, die sich in der nächsten Epoche, der Chaplin-Aera, als direkter, eine klaffende Lücke füllender Anschluß an den unsterblichen Hanswurst, als die eigentliche schöpferische Tat der ganzen bisherigen Filmgeschichte erweisen wird, sich fortsetzend und mählich abflachend in Buster Keäton und Harold Lloyd, in den Komikerpaaren Pat und Patachon, Stan Laurel-Oliver Hardy und Lou Costello-Bud Abbot, aber auch noch fortlebend in unserer schrecklich humorlosen Zeit mit Jaques Tati, Toto und Heinz Rühmann. Man kann sich vorstellen, daß der Film einmal nicht mehr sein wird — aber nicht, daß er nicht mehr lachen wird ...

3. Als die dauern afteste Grundlegung der ersten Epoche erweist sich das Filmdökument, der Dokumentarfilm aller Gattungen. Er hat auch die höchste Entwicklung unter allen drei genannten Vorspielen der Filmromantik bis zur Vollendung durchlaufen, von der simplen Naturaufnahme bis zum „Verlorenen Kontinent“, bis zur „Traumstraße der Welt“, bis zu „Paradies und Feuerofen“; von den ersten französischen Verkehrsunfällen, Attentaten und Staatsereignissen bis zur farbigen Krönung von Englands Königin. Es ist wohl auch diesem Dokumentarzug des Films mit zuzuschreiben, daß sich der Film früh den nur bedingt als Spielhandlung anzusprechenden (bisher 32) Christuspassionen, den (bisher 15) Jeanne-d'Are-Passionen, dem Alten Testament und dem Katakombenfilm zugewandt und darin eine erstaunliche Produktivität entwickelt hat, durchaus romantisch, konventionell, unverbindlich — und doch ein wichtiges Bindeglied zum Ver sacrum, dem heiligen Frühling des religiösen Films nach dem zweiten Weltkrieg, mit dem wir (Jean Bernard) nicht allzu streng verfahren sollten.

IN DEN FLAMMEN DES ERSTEN WELTKRIEGES stürzt die romantische Epoche des Films zusammen. Aber, die Musen schweigen nicht unter den Waffen, sie schweigen nie ganz, sie sind ja Frauen. Der romantische Film ist tot, gewiß. Aber mitten im Kriege bahnt sich Bedeutungsvolles an. Der Film, Spielfilm und Wochenschau, lernt erstmals Hurra schreien. Das Stimmband ist geölt — 20 bis 25 Jahre später wird's mit „recht vielen Heil Hitler“ noch besser gehen. Amerika, mit ein paar blechernen Tanks und ein paar tausend Toten einziger Sieger auf der Walstatt, beerbt unter vielen anderen auch das ausgeblutete Frankreich und damit Filmeuropa. Mitten im Waffenlärm wird, mit listigen Hintergedanken, die UFA gegründet, bildet in der Nachkriegszeit eine Art nationaler Notwehr gegen den arroganten, scheinheiligen Boykott der Siegermächte und bestimmt von da an, von Hugenberg bis Babelsberg, ein auf und ab wogendes, aufregendes, erschütterndes deutsches Schicksal — wir lesen Abenteuerliches darüber in Siegfried Kracauers „Von Caligari bis Hitler“. Der teils erstaunlich liberale und nonkonformistische, teils direkt zum Nationalsozialismus hinführende „UFA-Stil“ (urteilen wir nicht zu streng über ihn, denn Schiller, Nietzsche, Houston Stuart Cham-berlain und Julius Langbehn tun, ohne es ausdrücklich zu wollen, dasselbe) — dieser UFA-Stil bildet überdies das einzige weitum sichtbare und in die Waage fallende Gegengewicht zu dem ' abwegigsten und genialsten Traum der Filmgeschichte, zu Bela Bäläcs' Vision vom wieder sichtbar gewordenen Menschen, von der wiedergefundenen, jahrtausendelang verlorenen Sprache des gemeinverständlichen Bildes, der menschlichen Geste, des Gesichtes — und damit nicht nur der völkerversöhnenden, sondern Völker und Rassen sogar richtig einschmelzenden Funktion des (stummen) Films. Ob wir's glauben oder nicht: Bäläcs glaubte allen Ernstes, daß die Menschen durch die ständige Imprägnierung mit filmischen Personsleitbildern anatomisch eingeschmolzen, einander ähnlich und schließlich völlig gleich werden und sich solcherart schillerisch und freimaurerisch verbrüdern und umarmen würden.

Das Erwachen ist schlimm. Schon vier Jahre nach dem Erscheinen des seltsamen Buches, dem heute noch, ohne es zu wissen, hunderte Filmleute und Kritiker ganz oder teilweise verfallen sind, hebt der Sprechfilm die These Bäläcs' und damit das ganze Zeitalter der Vision, des Kunstfilms und der Filmkunst, aus den Angeln.

Leicht gibt sich die Vision nicht geschlagen. Im schauerlichen Bastard der sogenannten Synchronisation, der Schädelspaltung des Menschen in Gesicht und Stimme, kämpft sich der Tonfilm bald darauf auf die Siegfriedslinie zurück, wird dort, wie von Panzern, von den LImwälzungen des zweiten Weltkriegs überrollt und stürzt kopfüber, kopflos ins dritte Zeitalter des Films, das wir wohl oder übel mit allen seinen Widersprüchen und Stillosigkeiten als das unsere ansehen, annehmen und bewältigen müssen.

DER IKARUSFLUG DES VISIONSZEITALTERS wird freilich ganz verständlich erst,wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß diese Epoche die aetas aurea, die goldene Zeit des Films überhaupt ist, in der überall, in Frankreich, England und Italien, Deutschland und Schweden, Amerika und Rußland, die großen Filme und Persönlichkeiten, die großen Regisseure und Weltstars, Chaplin und die Garbo vor allem, aufgehen — eine eminente Versuchung, den Film über alle und alles zu stellen, der nicht nur Bäläcs erlegen ist.

Der religiöse Film ist in dieser Zeit zwischen den Kriegen doppelt gehemmt: durch das ästhetische Parfüm der ausgehenden Stummfilmzeit und durch die Christusscheu (Charles Ford) des beginnenden Sprechfilms. Er gebiert also wenig in dieser Zeit, aber Bedeutendes: INRI, König der Könige und Dreyers Jeanne d'Arc. Im übrigen flüchtet der religiöse Film erstmals in den reinen Dokumentarfilm, den später Ernst Marischkas „Matthäuspassion“ wieder aufnimmt und zum bedeutenden Typus macht.

DIE DRITTE EPOCHE des Films, die Wirklichkeit von heute, ist noch schwer zu übersehen, zumal alles fließt. Die Filmleinwand krümmt sich beinahe schon so wie wir selbst und ^t fast schon imstande, den sinnlichen Mund einer französischen Geliebten in ganzer Breite unterzubringen. Man weiß heute durch den Raumton genau, ob des Filmes tiefsinnige Weisheiten, wie „How do you do“, von links oder rechts kommen, die Wiesen sind braun, der Himmel gelb, nur die Mädchen werden nicht mehr rot, und die grünen Jungen sind nicht mehr so stark, sondern nur die Hälfte davon, und uns wird schwarz vor den Augen. Kurz, die Wiedergabe der Wirklichkeit im Film nähert sich jener absoluten Treue, die eines Tages Ateliers, Apparate und Leinwand einsparen und als letzte Attraktion leibhaftige Menschen im Kino wird auftreten lassen: das Teatrorama, schon lange vorgeahnt von pfiffigen Managern, wie Metro-Goldwyn Sophokles, Calderon-Lämmle und Mike Shakespeare, wird geboren sein. Und wir werden wie neugeboren sein. Denn der Film ist aus allen Himmeln gestürzt — die Erde hat ihn wieder.

Ob der Film im nächsten Jahrhundert entweder als ideales Gesamtkunstwerk alle jahrtausendealten Künste der Menschheit zum Frühstück wird verspeist haben oder ob er selber von irgendeinem neuen Golem zum Nachtmahl wird verspeist worden sein — wer kann es sagen? Eines steht fest: Weniges, aber Wertvolles und Bedeutendes vom Film wird bleiben. Immer.

Auch die Gewinne der dritten Epoche seien nicht unterschätzt: der substantiellste religiöse Film der ganzen Filmgeschichte. Oder: die Ausdehnung der Publikumsgefolgschaft, der Produktion und damit der ganzen Filmproblematik auf die unterentwickelten Völker. Erreichte die erste Epoche gerade noch das europäisch-amerikanische Niedervolk, gewann die zweite bis dahin hochmütig abseitsstehende Bildungs- und Sozialeliten, so dringt der Film in unseren Tagen mit aller Macht in die afroasiatische Welt ein — dort dieselben Fragezeichen aufwerfend, die diese unheimlichen Zonen auch sonst, politisch, kulturell und sozial, kurz: weltgeschichtlich, aufwerfen.

SO BEGIBT SICH VIEL in unseren Tagen. Und die Zeit ist — auch für den Film — ein Durchgang, ein Uebergang, eine Brücke am Kwai.

Sehen wir zu, daß wir sie nicht in die Luft jagenl

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung