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IN DER ZWANGSJACKE

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Cannes liegt an der C6te d'Azur und das ist ein Geschenk, kein Verdienst. Für viele Canneser, Cineasten aus aller Welt, scheint Cannes der Mittelpunkt der Erde zu sein. Obwohl es nicht auf dem Schnittpunkt von Null Meridian und Äquator liegt. Aber lassen wir die Vorstellung eines Filmmittelpunktes gelten, als Methode zur Prüfung und Würdigung eines Filmfestivals, das zum 18. Male Kritiker, Produzenten, Regisseure und natürlich auch Vedetten zu einem Treffen angelockt hat, dem der Ruf einer Weltschau dieses unbekannten und schwer begreifbaren Kindes Film voraus-aber nicht immer nachgeht. — Die kreißenden Berge und die lächerlichen Mäuse, man findet sie in Cannes nebeneinander an einem Tag und an jedem Tag des Festivals, dessen Name und Begriff sich wandelt vom herrlichen Kampf der Gesänge der Völker zur Schau einer Breite ohne ersichtliche Rücksicht einzig auf die Höhe. Die alten Festivaliers wissen es, die neuen Besucher müssen es lernen: Begnügt euch mit dem Kommißbrote und seid zufrieden, wenn es an 16 Tagen Filmauswahl drei oder vier große herrliche Gerichte gibt,

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Die Auswahl der Filme für Cannes bleibt rätselhaft, wenn man nur das Maß des Films gelten läßt. Vieles kann nur nach politischen und aus politischen Maßstäben erfaßt werden. Das Festival ist in Cannes, aber das Zentrum ist Paris. An der Seine ist man der hohen Weltpolitik sehr nahe, an der Cöte d'Azur blüht nicht nur eine duftende Pracht, auch das Geschäft. Der Weg von Paris nach Cannes aber ist kurz. Darüber täuscht kein Festglanz hinweg, der sich abendlich wie eine Marktschau den ehrfürchtigen Blicken der Draußenstehenden bietet und ihnen Blendung statt Licht gibt.

25 Länder hatten die Ehre, durch Filme in Cannes vertreten zu sein; die Zahl der Filme hat sich verringert, das Angebot scheint kleiner geworden zu sein. Eine starke Verschiebung gegen die Beteiligung früherer Jahre ist festzustellen. Den weitesten Weg nach Cannes hatte Australien, das heuer wieder einmal, eine Seltenheit, einen Spielfilm anbot. Clay („Der Ton“) formt aus schlichtem grauem Ton ein sehr einfaches Gefäß, das langsam wuchs, an der ungeübten Hand des Bildners aber nicht bis zur Glasur gedieh. Dagegen gewann sich Japan mit zwei Filmen, Kwaidan und Tokyo Olympiade, alle Anerkennung. Die Volksrepublik China wurde eingeladen, erstmalig, und schickte zwei Kurzfilme, die man nur unter dem Aspekt ihrer Herkunft ansehen, aber nicht europäisch werten kann. Es fehlte Indien, dieser große Subkontinent mit seiner nicht übersehbaren Filmproduktion. Die Vereinigte Arabische Republik (sprich Ägypten) war wie jedes Jahr mit einem Spielfilm und einem Kurzfilm vertreten, in denen Folklore und Propaganda eine nichtrepublikanisctie Vereinigung bilden. Damit'sind Asien und Afrika abgetan. Nichts von Marokko, von Kongo oder Gabon und anderen Staaten, deren junge Filmproduktion in anderen Jahren in Cannes das Licht der allgemeinen Filmwelt erblickte. Wer vertrat Amerika? Von Südamerika waren wie immer Argentinien und Brasilien als starke Filmländer in Cannes. Mexiko schickte heuer keinen Gesellschaftsfllm, sondern einen ansehnlichen Versuch, nach der Art Flahertys, dokumentarische Schilderung vom mühseligen Leben der Tarahumara-Indianer in der nördlichen Bergwelt Mexikos, wirklich ihrer Mühe und Plage mit einer Story zu verbinden, die das Vordringen der Zivilisation mit all ihrer gierigen Härte und Rücksichtslosigkeit anprangert. Der Film dauert zwei Stunden und 15 Minuten, ist in seiner szenischen Gestaltung einfach und ehrlich und war tausendmal mühevoller herzustellen als der schönste Hollywood-Atelierfilm. Dem Regisseur Luis Alcoriza gebührt Anerkennung, nicht minder seinem Kameramann. Die Fipresci-Jury war der gleichen Meinung und verlieh diesem Film ihren Preis. Die Vereinigten Staaten hatten vier Filme auf dem Programm in Cannes, von denen drei außer Konkurrenz liefen. Der Eröffnungsfilm In harm's way („Der erste Sieg“) von Otto Preminger gehört dazu, dessen Lautstärke auffällt. Years of lightning, day of drums zeigt die Erfolgsjahre des Präsidenten John F. Kennedy und den Tag der Trauertrommel, die Begräbnisfeierlichkeit, weniger eindringlich als der kürzere Film „Vier Tage im November“. Außerhalb des Wettbewerbes beschloß der Film von Walt Disney Mary Poppins das Festspielprogramm. Als Wettbewerbsfilm wurde The collector („Der Sammler“) von William Wyler gezeigt, der am Beispiel eines einsamen jungen Mannes psychoanalytisch entwickeln wollte, wie die vergebliche Sucht, wegen seiner selbst von einem Mädchen geliebt zu werden, zu einer ausweglosen Gefangenschaft des Mädchens und ihrem unglücklichen Ende führt. Eine freudlose Verkrampfung ohne Heilerfolg!

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Europa hatte heuer ein starkes Übergewicht, der Zahl nach. Deutschlands gemeldeter Beitrag, der Film „Das Haus in der Karpfengasse“ von Hoffmann, wurde abgelehnt. Das gleiche Thema behandelt der tschechische Beitrag Obchod na korze („Der Laden in der Hauptstraße“). Ungarn versuchte sich in der Nachfolge der „Roten Schuhe“ mit einem Tanzfilm, der sein Vorbild nicht erreicht, aber als Eletbetan-coltatott läny („Ewiger Tanz“) farbig und choreographisch beachtenswerte Leistungen ausweist. Italien zeigte nur einen Spielfilm. II momento della veritä („Der Augenblick der Wahrheit“) von Francesco Rosi tobt sich in geballten Kameraaufnahmen von Stierkämpfen in Spanien aus, wobei sich der Regisseur der wahrheitsnahen Leistung eines echten Torero bedient, aber die Augenblicke der Wahrheit mischen sich in diesem Film eindringlich mit Raffinesse, falschen Bezeichnungen und Vorgängen, die der Publikumswirkung verpflichtet sind, nicht aber der Wahrheit. England konnte drei Filme vertreten. The hill („Der Hügel“) von Sydney Lumet war davon der stärkste und für die Menge am eindringlichsten, weil er in der Rolle eines unbeugsamen Gewaltbe-kämpfers in einem englischen Militärstrafgefangenenlager Sean Connery zeigt, der nur mehr als James Bond gilt und von der fanatischen Fanwelt als solcher mehr umjubelt wurde als ernste Filmgrößen. An seinem Fall ließ sich in Cannes wie eine einfache Gleichung die Frage nach Geschmack, Ver-

ständnis und gerechter Beurteilung filmischer Gestaltung durch Publikum und einen Teil der Kritik in erschreckend primitiver Weise beantworten. Mundus vult decipi et decipitur. Der andere englische Film The icpress file („Die ICPRESS-Akte“) behandelt einen Ausschnitt aus dem Gebiet der Spionageabwehr und Agententätigkeit mit einem simplen Zwischenspiel von Gehirnwäsche, das sich weit von der Leistung in einem anderen englischen Film „Der Gefangene“ (mit Alec Guiness) entfernt. Sydney Furie ist der Regisseur des farbig ansprechenden und mit einem sympathischen Darsteller besetzten Films. Der junge Regisseur Richard Lester inszenierte den auffälligsten Beitrag von England The knack and how to get it („Der Dreh und wie man ihn erlernt“). Hier triumphiert in sprudelnden Einfällen und optischen Gags nicht nur ein filmisches Können, sondern auch ein Witz, der sich an besten Vorbildern geschult hat und genug Eigenes noch beisteuern kann. Rita Tushingham und einige junge Leute um sie herum führen ein loses Spiel auf, dessen Heiterkeit jedes Tiefgangs entbehrt. Spanien ließ Besonderes erhoffen, Juan Bardem bot einen neuen Film an: Les pianos mecaniques („Die mechanischen Klaviere“). Die Enttäuschung über diesen mittleren Abklatsch einer üblichen Liebesgeschichte zwischen Hardy Krüger und Mehna Mercouri, farbprächtig umrahmt von der Naturkulisse der Costa Brava und einer Kleinstadt mit Bar in südlicher Buntheit, machte sich allgemein in der Kritik wie in der Pressekonferenz mit Juan Bardem bemerkbar. Namen verpflichten; das ist Bardem mit aller Härte für sein Versagen an den Kopf geworfen worden. Ein zweiter spanischer Beitrag El juego de la oca („Das Gänsespiel“) war ein bescheidenes Spielchen, inszeniert von Manuel Summers, von dem wir schon Besseres gesehen haben; Ehebruch und Rückkehr zur Frau, mit wenig Zwischentönen und lang gedehnt. Mit dem ungeschickt inszenierten Film Prodossia („Der Verrat“) griff der griechische Beitrag in das Wespennest der unverdauten Vergangenheit, und dies trug ihm, der wohlmeinend die Haltung eines deutschen Leutnants erklären wollte, der sich in Athen unwissend in eine junge Jüdin verliebt und sie dann verrät, wütende Pfuirufe ein. Die Atmosphäre eines Gorechto pladne („Heißer Mittag“) war stimmungsvoll eingefangen in dem bulgarischen Film, der das Leben in seiner vielfältigen Form einen Augenblick stehen läßt und Arbeiter, Reisende, Müßiggänger und nahe Verwandte zu Zuschauern an der Rettung eines Knaben werden läßt, dessen Hand in einem Brückenpfeiler verklemmt ist.

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Unangenehm berührte das Wiederaufleben des Krieges in vielen Filmen. Man verurteilt ihn, nimmt ihn aber mit allen Kraßheiten vor die Linse der Kamera; man weiß, wie wirksam er ist. Mindestens pedls Filme brachten direkt den Krieg. Der französische Beitrag, einer^ von den drei Spielfilmen, die das Gastgeberland auf die Leinwand schickte, malte den schmutzigen, ausweglosen Dschungelkrieg. Mehrere tobten sich in Heldenposen und Heldenphrasen aus. Ost und West kennt seine Helden, die ungerührt von Granaten, Einschlägen und Heldentod der anderen bleiben. Rumänien greift

auf einen Roman als Filmvorlage und zeigt in seinem zweieineinhalb Stunden langen Film Pädurea spinzuratilor („Der Wald der Gehängten“) ein Kapitel aus dem ersten Weltkrieg, bei dem Angehörige der kaiserlichen Armee des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn vor die Frage der Wahl zwischen Soldateneid und nationaler Zugehörigkeit gestellt sind. Gute Erwartungen ließ der schwedische Beitrag aufkommen, der von Arne Sucksdorff nach langen Studien in Rio de Janeiro gedreht wurde und die freie, ungebundene Lebensweise und eigene Welt der armen Kinder in Copacabana in sehr charakteristischen Details so zeichnet,

daß man bei dem Film Mitt hem är Copacabana („Meine Heimat ist Copacabana“) ohne direkte soziale Engagement-Gebundenheit die Herzen zum Mitschwingen bringt. Mai Zetterling löste als Regisseurin gemischte Ablehnungsreaktionen für ihren Film Älskande par („Liebespaare“) aus, bei dem sie einen alten, von Bergmann schon verwandten Vorwurf, die Erwartung der Niederkunft mehrerer Frauen in einem Krankenhaus, zur Darstellung ihrer Lebensverhältnisse und ihrer Beziehungen benützt und — mißbraucht.

Der Krieg außen und innen, in den Herzen und Familien, wurde in wenigen erfreulichen Filmen abgelöst durch den Humor, die Lebensfreude, die spitzbübische Durchbrechung der lebensbeengenden Mauern. Pierre Etaix erweist sich immer wieder als einfallsreicher Meister der entzückenden Filmnipps, er kann aber auch weiterspringen. In seinem Festivalbeitrag Yoyo geistert er als einsamer Schloßherr und als Zirkusartist durch einen unfaßbaren Reigen köstlicher Szenen mit dem stummen Gesicht von Buster Keaton, der Clownerie von Chaplin und dem Ossa auf dem Pelion, damit er den Olymp der Freiheit erreicht. Die Jury der OCIC begründet die Zuerkennung ihres Preises an diesen Film damit, daß sich „in ihm — durch die Gestaltung in einem persönlichen und recht feinen Stil — aus dem leichten Spiel als Kern Herzensgüte, Zartheit, aufmunternder Humor und letztlich der Wunsch nach einem einfachen und gesunden Leben herausschälen“.

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Die künstlerischen Höhepunkte dieses Festivals liegen beim japanischen Film Kwaidan, dessen Ausdrucksmittel, Farben und Geist in der Gestaltung einen allgemeinen europäischen Stand weit übertreffen, und bei dem tschechischen Film „Der Laden in der Hauptstraße“, dem es erstmalig gelingt, die oft verunstaltete Behandlung des Problems der menschlichen Gesinnung und Haltung in der Naziära an einem Beispielsfall zu entwickeln. Slowakische Kleinstadt 1942, Korso nach dem Sonntagsgottesdienst. Kleinbürger und Nutznießer der Verhältnisse nebeneinander, ehrfürchtig gegrüßter Rabbiner und Kleinstadtgewaltiger in SS-Polizeiuniform. Ein kleiner Mann, aber kein Schwejk, soll einen alten Judenladen arisieren. Anstatt der Chef wird er der willige Gehilfe der alten, nichts mehr verstehenden Jüdin und versucht sie bei dem plötzlich anbefohlenen Abtransport der Juden zu retten. Eine bewundernswert klare, hintergründige Geschichte, nach dem Erstlingsroman eines älteren Menschen, wird erfreulich menschlich, echt und haßlos dargestellt. Ethos, Stoff und Darstellung dieses Werkes verdienen jede Hervorhebung.

Richtig besehen, sind beide Achsen unseres Canneser Koordinatensystems heuer verkümmert. Die Koordinierung macht Schwierigkeiten und die Ordinate der Kunst ist so verkürzt, daß sie den Pegel früherer Jahre über dem Augenstand stehen hat. Die ostwärts gerichtete Achse ist in Cannes, dem Lärm der Kritik nach zu schließen, die längere. Man liest in französischen Blättern Lobeshymnen und Begeisterung für Filme aus dem Osten, die Zweifel aufkommen lassen, ob die Schreiber bei der Aufführung waren. Noch fremdartiger wird unser Koordinatensystem dem Betrachter, der einen unverzerrten Spiegelblick gewinnen will aus dem Festspielprogramm und den anderen Filmen auf dem Markt, die in nicht zu bewältigender Fülle den Festivalier anziehen durch ihre Originalität und bisweilen bizarre Filmform (zum

Beispiel eine James-Joyce-Verfilmung von Finnegans Wake, an der ich zu rätseln habe). Wo ist die insgeheim in einem Aufbruch stehende Welt von heute, wo der Geist eines Johannes XXIII. zu spüren mit seiner alles umfangenden Menschen- und Völkerliebe? Allerdings, die kritische Sonde, die bei vielen Filmen tiefer gehen muß als die Oberflächenbetrachtung mancher Beckmesser, die immer wieder ihre Zeitelle anlegen und jammern über die Länge der Filme, entdeckt nicht nur Narben und üble Infektionen, sondern findet auch Wachstumskeime, zarte Zellen, die viel Pflege und Beifallsbalsam brauchen.

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