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DER FILM-BRENNSPIEGEL DER ZEIT

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Es war kürzlich an dieser Stelle (siehe „Die Furche“ Nr. 48 vom 2. Dezember 1961) vom „Brennspiegel Film“ die Rede, der nahezu alle Züge der Zeit aufnehme, überhöhe oder verzerre und solcherart wieder in die Zeit zurückwirke. Der Angstfilm und der Kriegsfilm (I. und 11. Kapitel) waren als erste Auswahl dieser Wechselwirkung ausführlicher behandelt — drei weitere mögen hier den Gedanken beschließen.

III. KAPITEL: DAS SÜSSE LEBEN

TP\aß der Slogan von der dolce vita in Rom geprägt worden ist, ist kein Zufall. Das wilde, demokratische Aufschießen der Weltstadt, abzulesen an dem ruckarrigen Bevölkerungszuwachs, den häßlichen Bauten am Stadtrand und einer tobenden Lebensgier hat eine bis zum Zerreißen gediehene Spannung mit dem erzeugt, was Rom einst gewesen ist und unter dem Schatten des Domes der Christenheit noch heute teilweise ist. Hier bricht sich alles mit fast schmerzender Schroffheit: Heiliges und Gotteslästerliches, Geistliches und Profanes, Feudales und Pöbelhaftes, hektischer Betrieb und schleichende Langeweile.

Hier konnte, mußte Fellinis heißumkämpfter Film ,,La dolce vita“ entstehen und, wie immer wir uns zu ihm stellen, zum Fanal eines weitverbreiteten, ja weltweiten Lebensstilübelstandes werden. Denn es ist ja nicht so, daß Rom und nur Rom die Hauptstadt dieses süßen Lebens ist. Es ist die Krankheit nicht der hungernden asiatischen oder der aufbrechenden afrikanischen Völker, nicht die Krankheit jenes russischen Riesenreiches, das für seine Idee opfert, robotet und spart, sondern die Krankheit des „Westens“. Noch flattern die zerfetzten Fahnen der milites Christiani voran, die Augen aber hängen nicht mehr daran, sondern starren fiebrig auf die Lockungen des Genuß- und Superkonsumlasters: des süßen Lebens.

Welche Wandlung! Vor 38 Jahren schrieb ich in Kitzbühel die Dissertation über einen österreichischen Arbeiterdichter, dessen Hauptwerk nicht das süße, sondern das geschundene, bluthustende, abgerackerte, ausgenützte, das „rauhe Leben“ heißt. Heute muß der Kulturpionier der österreichischen Sozialisten, Franz Senghofer, in der Zeitschrift „Bildungsfunktionär“ des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (Heft 73 vom April-Juni 1961) in verzweifelten Tönen den Wohlstandalkoholismus, auch unter den Arbeitern, beklagen. Brauchtum und Reklame stehen in seinen Diensten. Von der Wiege bis zum Grab fließt der Alkohol in Strömen, bei Konferenzen, zu Feiern, zu großen Entschlüssen, ia es geht das blutige Witzwort, daß die Jubiläumsfeier eines Abstinenzvereinspräsidenten in Strömen von Riesling und Veltliner ersoffen ist...

Willig folgt der Film diesem Zug: Der Griff nach dem Wein-und Whiskyglas ist eine stehende Passage geworden, wenn dem Regisseur oder Schauspieler gerade nichts-Besseres einfällt. Max Reinhardt pflegte Schauspielschülern des Schönbrunnseminars bei Übungen zuzurufen: „Hacken Sie sich die Hände ab, Sie fangen ja doch nichts Gescheites damit an.“ Das kann dem Filmdarsteller von heute nicht passieren: Der greift nach dem Kognakglas, einmal, fünfmal im selben Film.

Einmal hat sich der Film, selber dagegen aufgebäumt. Der erschütternde Streifen „Das verlorene Wochenend“ hat die Tragödie des Potomanen realistisch bis zur Grenze des Erträglichen aufgerollt. Einmal — und tausendmal, zehntausendmal hat er dazu gereizt I

„Maß halten — Bier trinkenl“ tönt es aus der Pressereklame. Und in den Anzeigen einer deutschen Illustrierten las ich: „Seit dem griechischen Eros ist kein größerer Genuß gefunden worden als die Zigarette.“ Es ist mit ihr nicht besser als mit dem Alkohol. Jean Paul Belmondo, trauriger Held des Films „Außer

Atem“, jagt in diesem Film nicht nur den Weibern und den Autos nach, sondern soll in dem 98-Minuten-Film 31 Minuten lang davon die Zigarette im Mund gehalten haben.

Das Auto — ja. das hat's auch in sich — der Film wimmelt von den neuesten Modellen von Straßenkreuzern. Amerikanische Ärzte wollen nachgewiesen haben, daß bereits die Beine der Menschen zu schrumpfen anfangen. So wie das Gebiß des Neandertalers gewaltiger, weil beanspruchter war als unsere kariösen Milchzanderln von heute, beginnt sich nun auch das Gehwerkzeug des Menschen zurückzubilden; es reicht heute noch zu einem Tritt aufs Gaspedal (seltener auf die Erenise), aber nicht mehr zu einer Wanderung in den Wienerwald. Morgen vielleicht schon hatschen wir nur noch auf Stumpen, wie Toulouse Lautrec im „Moulin Rouge“, bis zum Zuckerbäcker (nicht zum Bäcker: Haben wir schon einmal im Film einen Brot essen gesehen?) und zum Fleischhauer. Denn aufs Papperl verzichten wir auf keinen Fall.

Auch nicht auf die Weiber, auch die Weiber (erst Kommt das Fressen, würde Bert Brecht sagen, dann die Brunst) — aber, da sind wir ja schon beim nächsten, beim

IV. KAPITEL: NOCH EINMAL EROS UND SEXUS

An dieser Stelle war vor einiger Zeit unter dem Titel „Eros und Sexus im Film“ die Rede von der ungebührlichen erotischen Aufladung der Zeit und in bekannter Wechselwirkung des Films. Es wurden Schelsky, Gert Wolfram und eigene Beobachtungen im Alltag herangezogen, Primärimpulse aus dem Film bloßgelegt — unter anderem die Ausschnirtechnik des Films und die Gegenstöße der sorgenbeladenen Filmwirtschaft — und Impulse aus der Zeit: auch hier wieder Weltangst und Lebensgier, die Emanzipation und Aggression der Frau, den Nachholbedarf nach dem Krieg, die erotisch betonte Frauenmode, die Promiskuität durch die Frauenberufsarbeit und anderes mehr. Es wurde die Hoffnung ausgesprochen, daß der Höhepunkt det erotischen Hochspannung bereits überschritten sei, aber auch die Befürchtung, daß der unerhörte Impetus der Reklame in der Konsumgesellschaft den erotischen Spiegel auf weite Sicht hin über dem Durchschnitt halten werde. Beides ist prompt eingetroffen. Dem Rückzug der erotischen Überreizung hat sich seither auch Frankreichs „Neue Welle“ entgegengeworfen, deren erotische Themenüberwucherting ein Kritiker einmal den dramaturgischen „Phallus ex machina“ genannt hat.

Noch einmal sei hier der Finger auf die übermächtige Rolle der Warenreklame gelegt, deren wachsende Absatzschwierigkeit zu allen erlaubten und unerlaubten Werbemitteln Zuflucht nimmt. Man wirbt ja heute mit erotischer Optik nicht nur für Badeanzüge, Strümpfe und Büstenhalter (willfährig hat sich der Film selber auf der letzten fBerknale den Terminus Businale .•zu;. gelegt), sondern auf die gleiche Art auch für Schokolade und Seife, Parfüm und Eisrevue. I

Auf all diese Dinge reagiert der Film aufmerksam und kreiert seinerseits Impulse von inzitantester Wirkung. Der Bardot sind andere gefolgt, die einfachen Teenager und doppelten Lottchen sind zwar zu Frauen erblüht, aber für Nachwuchs ist gesorgt, und in etwaige Lücken springen die daumenlutschenden Großmütter des Films im Babynachthemdchen ein.

Blicken wir tiefer hinein, offenbart sich auch darin die zersprungene Sozietät, das gelockerte Band der Ehe und Familie und die moderne, offen propagierte Freiheit des sexuellen Genusses.

So dürfen wir uns nicht wundern, daß der Film auch hierin mitschuldig, zum Teil auch initiativ, also primär schuldig geworden ist. Überdeutlich hat er zum Beispiel in dem Film „Die Französin und die Liebe“ durch die Unterteilung in die Episoden: Kindheit. Jugend, Jungfräulichkeit, Hochzeit, Ehebruch, Scheidung und schließlich: Die einsame, verlassene Frau, ein richtiges Schema für das Drama der Liebe unserer Zeit getroffen, im Film „The appartement“ mit fast zynischer Offenheit die berufliche Promiskuität aufgeblendet und m der schon an Zote grenzenden literarischen Dorfkomödie ...Die grüne Stute'' dargetan, daß schon vor 150 Jahren der sittliche Verfall im Dorf begonnen hat — wir pflegen ihn ja häufig nicht zu Recht auf das Sodom und Gomorrha der Großstädte zu lokalisieren.

Die geheimnisvolle Vieldeutigkeit und Beziehung der Begriffe Eros und Agape schlägt die schwindelnde Brücke vom Liebesfilm zum

V. KAPITEL: DER RELIGIÖSE FILM

\cr religiöse Film hat nach !den?Bwdtent Weltkriege .'kongruent' “ mit dem Aufbruch eines wesentlichen und existentiellen religiösen Empfindens, schöne Früchte getragen. Er tritt, sagen wir es rundheraus, derzeit auf der Stelle, genauso, wie die religiöse Lage im Binnenland und in den Missionsländern nicht recht befriedigt. Stillstand aber ist Rückschritt. Dem religiösen Film fehlen derzeit das Feuer, der Impetus, das Wagnis und der Mut, die er vor 10 und 15 Jahren noch entwickelt hat Er hat sich auch wieder eingekapselt in Gettoproblematik, wogegen der Schockfilm „Der Abtrünnige“ vor Jahren noch die Öffnung nach allen Seiten, die gefahrvolle, aber notwendige Kommunikation mit der Welt und der Sünde richtunggebend vorgezeigt hat. Es mag vielleicht ungerecht sein, im Anblick der unfaßbaren Opfer der schweigenden Kirche, der unsagbaren Mühe unserer Missionäre und des immer schwierigeren Alltagskampfes unserer heimischen Priester, zu sagen, daß der Film auch hier nicht aus sich allein heraus erstarrt und verflacht ist, sondern sehr willig dem Geist der Zeit folgt. Aber es ist bittere Wahrheit. Die Gründe sind, wie gesagt, nicht alle innerhalb des Filmbereiches zu suchen.

Einer davon ist, daß wir Christen immer noch hinter wohlbehütenden Zäunen leben wollen. In Wirklichkeit wandeln wir längst schon auf ausgesetzten Graten. Wir wollen es nur nicht wahrhaben — wie die Mondsüchtigen. Das Fürchterlichste, wohl Verständlichste aber ist, daß wir genau das auch von den Herstellern religiöser Filme verlangen — und daß die es nur allzu willig tun. Sie servieren uns die Pille, wie gewünscht, versüßt, den lieben Gott zwar in der Hostie, aber mit Schlagobers, genauso wie sie uns den Kommunismus in der Spannung eines feschen Zonenkrimis und das unheimliche Asitn mit den pikanten Schlitzaugen einer attraktiven Butterfly 1962 präsentieren. Weil wir es so wollen. Weil wir das Gegenteil, die Wahrheit, nicht ertragen würden. Wir müssen sie aber einmal erkennen und ertragen, wenn wir den Boden unter den Füßen wiedergewinnen wollen, wenn wir das Brackwasser gegenwartiger frommer Filme in einen fruchtbaren, hinreißenden Strom religiöser Filmpoesie umwandeln wollen.

Dazu ist aber nicht nur christliche Filmarbeit — katholische und evangelische — notwendig, sondern auch allgemeine Seelsorge. Denn durch den Film schaut viel Gut und viel Böses in der Welt. Fassen wir es, fördern wir dieses und bekämpfen wir jenes, so fördern und bessern wir den Film.

Denn der Film, sagt der süddeutsche Kritiker Gunter Groll in seinem grundgescheiten Büchlein „Demnächst in diesem Theater“,

„ ... der Film ist der klare oder getrübte, verzerrte oder entschleierte Spiegel der Zeit: der Zeit des Übergangs, in der wir leben ... Unsere Zeit aber: das sind wir. Die Welt, nicht nur die Welt des Films, ist eine Antwort auf uns und unser Sein. Uns geschieht, was wir sind, und wir werden zu dem, was wir lieben: Leere oder Sinn. Der Film ist im Grunde, was {turnet wir auch von ihm wissen, wie mmcr wir zu ihm stehen, und was die Kritiker über ihn schreiben mögen, genauso gut und böse, so furchtsam, fröhlich oder wirr wie wir.

Woraus zu ersehen wäre, wodurch allein er letztlich besser werden kann.“

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