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EROS UND SEXUS IM FILM

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ES WAR IM ERSTEN AUFSATZ dieser Untersuchung (siehe „Die Furche“ Nr. 27 vom 2. Juli 1960) die Rede von allgemeinen Zeit-und von besonderen Filmimpulsen, die einander beeinflussen und steigern und jene erotische Hochspannung erzeugen, die sich im ganzen öffentlichen Leben unserer Zeit ausdrückt und allgemein fast wie eine Qual empfunden wird.

Auch im Film. Niemals in der ganzen Filmgeschichte hat eine eindeutige, aufdringliche Erotik eine so große Rolle gespielt wie in unseren Tagen.

VON DER GEBURTSSTUNDE AN kennzeichnet den Film unverkennbar ein erotischer Infantilismus und Primitivismus — haben wir den Mut, zu sagen, daß diese Epoche schon ganz überwunden ist? Sie exerzierte vorwiegend die traditionelle primitiv-erotische Situation der Schundliteratur.

Ihr folgt eine Ära erster erotischer Haltungen — der Stars und der Storys — im Gegensatz eur vorhergehenden Zeit aber nicht von außen, sondern von innen.

Augenblicklich halten wir in einer dritten Station: dem Primat der Körperformen. Gemessen an der Hochentwicklung des Filmkünstlerischen, bedeutet diese unsere Gegenwart deutlich einen Rückfall und kann schon aus diesem Grunde nicht als letztes Ziel, als endgültiger Dauerzustand angesehen werden. Anzeichen für eine Wandlung zu seriöserer Erotik liegen bereits vor.

Aber noch ist sie am Zug: die Epoche des Kurvenstars, des Stars „mit dem gewissen Etwas“ (im ominösesten Sinn), kurz: das Zeitalter des Sex-Appeals. Darüber hat Gert Wolff-rams Buch „Der Sex-Appeal“ (München 1959) Erstaunliches berichtet.

WOLFFRAM GEHT VON EINER INTERESSANTEN THESE AUS. Aus dem wilhelminischen Fin de siecle gelangt in den Film vorerst der Gänschentyp, der dann aus heulendem Elend sozusagen von der Femme fatale abgelöst wird — erstmals prägt der Film einen eigenen Terminus für die letztere: den „Vamp“ (Asta Nielsen). Aber erst die Mischung von beiden, von Gänschen und Vamp, Unschuld und Verruchtheit, ergibt — und das scheint sehr scharf beobachtet zu sein — den modernen Begriff des Sex-Appeal.

DER NAME ALLEIN HAT SEINE GESCHICHTE. Als zu Ende der zwanziger Jahre die Filme der Clara Bow einen so durchschlagenden Erfolg hatten, daß ihn die Fachleute sich nicht mehr erklären konnten, veranstaltete eine amerikanische Zeitschrift eine Preisfrage nach der treffendsten Antwort. Die englische Schriftstellerin Elinor Glyn gewann den Preis mit den drei Worten: „She has it!“ — „Sie hat es!“ Jetzt wußte man es. Clara Bow hatte es eben, doch wußte man noch nicht, was das „es“ war. Die Zeitschrift telegraphierte an Elinor Glyn, und die wortkarge Schriftstellerin antwortete ein einziges Wort: „Sex-Appeal.“ Es war ein nie gehörtes Wort, und dennoch wußte jeder, was es bedeutet. Das Wort stieg wie eine Rakete auf und beleuchtete mit seinem grellen Licht den Tatbestand des Skandalösen. Die puritanischen Amerikaner schreckten davor zurück und gebrauchten noch einige Jahre lang das Schleierwort „It“ (It-Girl — Glamour-Girl).Doclif'seit 1930 ist „Sex-Appeal“ ein offizieller Ausdruck. Alle Lexika führen das Wort, ver-, weisen zwar auf seine Herkunft aus der amerikanischen Traumfabrik, räumen jedoch ein, daß es ein Umgangswort geworden ist, das die erotische Anziehungskraft einer Person oder Sache bezeichnet. Selbst Backfische gebrauchen heute das einst so explosive Wort, und zweifelhaft ist nur die Frage, ob man es mit oder ohne Bindestrich schreiben soll. „Heute ist das Wort schon wieder ein wenig im Verblassen. Schon beginnt sich der, appeal' vom, sex' zu lösen, und die chicken jungen Leute sagen einfach:, sexy' “ (Walter Kiaulehn, „Münchner Merkur“, 4./S. April 1959).

DIE GESCHICHTE DES SEX-APPEAL ist also nach Wolffram ein ständiges Auf und Ab auf der Schaukel Gänschen—Vamp. Er spürt ihr in allein Gassen nach und geißelt schonungslos die Kryptobündnisse des filmischen Sexbetriebs mit Presse und Rundfunk, Adel und Hochfinanz. So konnten sich im Oktober 1956 Marylin Monroe, Brigitte Bardot und Anita Ekberg vor einem so ehrwürdigen Monument konservativ-feudaler Exklusivität wie Englands Königin verneigen. Sofia Loren drückte in Amerika sogar einem gewissen Mikojan einen Kuß auf die Stirn, daß der Eisberg richtig zu schmelzen begann und der ganze West-östliche Diwan ins Schwanken geriet...

Dankbar sind wir Wolffram für den optimistischen Ausklang des Buches. Er glaubt den Höhepunkt der Sex-Appeal-Epoche bereits überschritten und Anzeichen für ein mählicheres Aufkommen dezenterer, seriöserer erotischer Star- und Stofftypen zu beobachten.

Er scheint inzwischen schon recht bekommen zu haben. Denn die Knef und Kay Fischer haben, unabhängig voneinander, gegen unerwünschte Nacktaufnahmen öffentlich protestiert. Auch ein gynäkologisches Wunder hat sich ereignet: Sexstars können sogar Kinder gebären (Brigitte Bardot, Nadja Tiller, Diana Dors). Das sind Schwalben, wenn auch “noch kein Sommer — denn neuerdings gilt es wieder die „Neue Welle“ wegzuspülen.

WOLFFRAMS DARSTELLUNG IST UNVOLLSTÄNDIG. Sie kennt nur den Sex-Appeal des Weibchens, der inzwischen einige Differenzierungen erfahren hat. Da ist einmal der Sonderfall des Teenagers. Er beherrscht seit kurzem die Mode, die Gesellschaft, die Straße und also auch den Film. Er verwandelt weißhaarige Großmütter in muntere, daumenlutschende Backfische, er verstört gesetzte Fünfziger und droht jahrhundertealte Leitbilder, die Dame, die Frau, das Weib, die Mutter, zu zerstören. Nach einer verläßlichen Zählung waren 26 Filme, das sind 20 Prozent des gesamten westdeutschen Filmangebots 1959/60, ausgesprochene Teenagerfilme, ein beträchtlicher weiterer Prozentsatz war am Rande mit würzigen Zutaten solcher Art garniert.

Das Problem ist wiederum nicht ganz neu, nur derzeit stark übersetzt. Man müsse zur letzten Erklärung, meint Friedrich Heer, bis zu Dantes Beatrice und Boccaccios Laura zurückgehen: Umbruchzeiten greifen gerne auf Anfangskonstellationen zurück, um sich solcherart wie geistig und seelisch so auch körperlich zu verjüngen, zu erneuern. Wilfried Daim glaubt im auffallenden Hinneigen des Mannes von heute zum Teenager eine Fluchtreaktion männlicher Ungenügendheit und Abgewertetheit zu erblicken; er weist im übrigen auf das Prickelnde der ausländischen Bezeichnung „Teenager“ gegenüber dem hausbackenen „Backfisch“ hin. (Eine subtile Nuance: darnach gibt es also sogar erotische Bezeichnungen, wie es unzweifelhaft erotische Vornamen gibt!)

In Wolfframs Buch fehlt, wie erwähnt, das Kapitel Teenager. Aber vielleicht ist die Formel Sex-Appeal = Unschuld + Verrücktheit (Gänschen -f- Vamp) auch auf die besondere Zeitattraktivität des weiblichen Teenagers anzuwenden — der in seiner Kostümierung wie seinem ganzen Gehaben ganz unbewußt haargenau dieser Formel folgt. An den Teenagermodellen der Auslagepuppen wie an den Mädchenstars des Films fällt zum Beispiel sowohl die kindliche Pferdeschwanzfrisur (bis vor kurzem auch der Hula-Hop-Reifen) wie auch ganz deutlich eine eigentümliche, herausfordernde Spreizschrittstellung auf. Sie taucht auf der Straße und im Heim, in Modejournalen und Filmen auf und ist neu, absolut neu. Die Erklärung mit der unbekümmerten, selbstbewußten, herausfordernden Art der Jugend an sich befriedigt nicht restlos. Näher liegt darin, zusammen mit dem kokett wippenden, weit ausgespannten (kindlich-verruchten!) Röckchen, eine Art unbewußter, frühreifer sexueller Bereitstellung zu erblicken (siehe auch die „feminine Aggressivität“ im ersten Aufsatz). Brigitte Bardot ist hier das provokante Leitbild dieser Epoche, und es ist kein Zufall, daß wir sie in tausenden Exemplaren auf der Straße begegnen.

AUCH DER MANN KANN DURCHAUS EROTISCH WIRKEN. Die ganze Geschichte des Films weiß von sex-appealischen Männern, bis in unsere Tage: vom aggressiven Typus Marlon Brandos bis zu den nervöseren, brüchigeren Zügen O. W. Fischers und James Deans gibt es zahllose Nuancen, Jugendliche und Grauhaarige, Schwärmer und Cläre Flegel, Blondgelockte und Glatzige, die diversen singenden Peter, die Dämonischen und die männlichen Sphinxe ohne Geheimnisse.

AUCH BESTIMMTE BERUFE, STÄNDE UND SOZIALE KATEGORIEN können erotisch stimulierend wirken, was der Film viel deutlicher als Kunst und Literatur aufgedeckt hat; unter den Ärzten besonders die Frauenärzte und ihre attraktiven Assistentinnen (für die der deutsche Film den hübschen Namen „Karbolmäuschen“ geprägt hat), 'die Lehrer natürlich, ferner alle extrem Gearteten und Georteten, wie Einsame, Verlassene. Verfolgte, Verbrecher, Farbige, Grausame, Herrschende, Dienende, Unglückliche, Leidende, Sünderinnen und Dirnen. Interessanterweise ist die professionelle Dirne im Gegensatz zu früheren Filmepochen im heutigen Film weitgehend uninteressant geworden — sie ist vom Salonsexweibchen und dessen dolce vita verdrängt worden und nicht mehr auf der Straße, sondern im guten Hause oder Palazzo zu suchen ... Nur das Herz des französischen und, sehr sublimiert, des italienischen Films („Die Nächte der Cabiria“!) hängt noch daran. Aus demselben Grunde hat sich übrigens auch der alte Don-Juan-Typus des Films abgeflacht und nach allen Richtungen hin ausgefaltet.

ALLES DAS KÖNNTE NUN DEN EINDRUCK ERWECKEN, daß der Film bei aller Primitivität doch auch eine gewisse Schöpferkraft in der Kreierung neuer erotischer Haltungen, ja Kulturen entwickle. Er könnte es, aber er tut es derzeit ganz und gar nicht, besser: er macht es grob, vulgär, äußerlich, unschöpferisch. Ist es zum Beispiel nicht auffallend, daß der Film, auch der pseudoplastische, eine Erotik des Raumes gar nicht kennt — das ernüchternde Klima seiner Lasterhöhlen zählt wohl nicht ernsthaft dazu. Die gibt es aber und hat sie im Film auch zeitweise gegeben, wie vieles andere noch, das wir durchaus zum nicht nur erlaubten, sondern sogar erwünschten Eros und Sexus zählen.

Aber der Film, wie mit Blindheit geschlagen, geblendet von den kindischen Mätzchen einer Oberflächengeilheit, bemerkt sie gar nicht.

Und so kann das Groteske geschehen, daß Curt Rieß, ein wohl über allen Verdachten der Muckerei erhabener Filmgeschichtsschreiber (in „Die Kultur“, 1. November 1958) mit Recht über den Verlust echter Filmerotik klagen und anfügen kann:

„Heute sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Man spürt vor lauter Fleisch keinerlei Erregung mehr. Die Münder unserer Filmstars sind fast in Permanenz halb offen, wobei ebenfalls offen bleibt, ob *ies geschieht, um die Jacketkronen sichtbar werden zu lassen, oder aus Leidenschaft oder wegen des Asthmas. Der heutige Film ist auf dem besten Wege, vor lautet Erotik vergessen zu machen, daß er auch erotisch wirken kann.,.“

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