Sigmund Freud - © Illustration: Rainer Messerklinger

Doktor Freud auf Zeitreise

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Zum 80. Todestag von Sigmund Freud: Was würde der große Seelenkenner über die sexualisierte Gesellschaft, den Aufstieg des Rechtspopulismus und den aktuellen Psycho-Boom sagen? Ein fiktiver Monolog mit freien Assoziationen.

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Zum 80. Todestag von Sigmund Freud: Was würde der große Seelenkenner über die sexualisierte Gesellschaft, den Aufstieg des Rechtspopulismus und den aktuellen Psycho-Boom sagen? Ein fiktiver Monolog mit freien Assoziationen.

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Sigmund Freud ist zur Ikone geworden – weil seine Ideen in alle Richtungen funkeln und strahlen. Sein Denken fiel nicht nur in der Medizin und Psychotherapie auf fruchtbaren Boden. Auch Philosophen, Kultur- und Sozialwissenschafter sind davon betört. Genau das wollte der ehrgeizige Nervenarzt: Schließlich hielt er es für „gar nicht wünschenswert, dass die Psycho­analyse von der Medizin geschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde (…). Sie verdient ein besseres Schicksal und wird es hoffentlich haben. Als ‚Tiefenpsychologie‘, Lehre vom seelisch Unbewussten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer gro­ßen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen.“

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Mit seinem literarischen Stil gelang es Freud, seine Lehre außerordentlich populär zu machen – und logische Klippen in seinem Werk elegant zu umschiffen, wie der deutsche Autor Jens Bergmann kritisch bemerkt („Der Tanz ums Ich“, 2015). Auch literarische Inhalte spielten für Freud eine wichtige Rolle: Seine Theorie vom Ödipuskomplex wurde durch die Tragödie des antiken Dichters Sophokles inspiriert. Und der intellektuelle Freigeist liebte es, seine revolutionäre Psychologie durch die Analyse literarischer Werke zu verdeutlichen, etwa anhand von E. T. A. Hofmanns Erzählung „Der Sandmann“ (1816) oder Wilhelm Jensens Novelle „Gradiva“ (1903). Es erscheint daher nicht illegitim, seines 80. Todestags in der frei assoziativen Form eines fiktiven Monologs zu gedenken.

Herr Doktor Freud, was würden Sie heute wohl sagen über …

… den Stellenwert der Sexualität

Wie sehr sich doch die Zeiten wandeln! Die moderne Gesellschaft ist in einem Ausmaß sexualisiert, wie ich es mir nie hätte erträumen können. Die Umstände, unter denen ich meine Theorie formuliert habe, waren damals noch ganz andere – bitte vergessen Sie das nicht! Spannend war es allemal, im Wien des „Fin de Siècle“. Euphorie und Angst lagen in der Luft; neue Lebensformen dämmerten am Horizont. Ebenso wie seelische Leiden, die mir wie verborgene Mitteilungen erschienen: Man musste sie nur entschlüsseln.

Sigmund Freud

Der Wiener Nervenarzt mit jüdischen Wurzeln kam 1856 im mährischen Freiberg zur Welt. Er starb am 23. September 1939 im Exil in London, wohin er nach der Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland geflüchtet war.

Der Wiener Nervenarzt mit jüdischen Wurzeln kam 1856 im mährischen Freiberg zur Welt. Er starb am 23. September 1939 im Exil in London, wohin er nach der Besetzung Österreichs durch Nazi-Deutschland geflüchtet war.

Ich begann zu erahnen, was mir meine „hysterischen“ Patientinnen sagen wollten. Sie wundern sich, dass ich die Auseinandersetzung mit Sexualität zum Bollwerk meiner Theorie gemacht habe? Ach, heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wieviel Lüge und Unwissenheit, Scheinheiligkeit und Körperfeindlichkeit damit verbunden waren. Der Doktor Schnitzler hat mich intuitiv verstanden. Lesen Sie nur seine Werke! Manche Kollegen aber waren ganz schön harte Brocken. „Versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben“, habe ich C. G. Jung beschworen. Ohne Erfolg, seine esoterische Ader war zu stark.

Zugegeben, manches in meiner Theorie mag aus heutiger Sicht ein wenig verstiegen sein. Aber es war einfach so lustvoll, wild in unseren Abgründen zu wühlen. Und Hand aufs Herz: Davon gibt es doch genug!

… das Unbehagen in der Konsumkultur

Stets habe ich den Menschen als zerrissene Existenz gesehen: hin- und hergebeutelt zwischen Sex und Moral, Eros und Thanatos, Aggression und den verinnerlichten Anforderungen vonseiten der Gesellschaft. In den Tiefen unseres Inneren tobt ein Kampf, und ich glaube nicht falsch zu liegen, wenn dieser ständige Streit zwischen „Es“ und „Über-Ich“ weiterhin auf unserer Seele lastet, wiewohl unter dramatisch veränderten Bedingungen. In der modernen Arbeitswelt hat sich die Situation noch verschärft – die Menschen müssen sich doch immer mehr kontrollieren! Zugleich sieht dieser innere Kampf heute ganz anders aus als früher; das haben manche meiner Nachfolger bereits hellsichtig diagnostiziert. Im digitalen Kapitalismus geht es nicht mehr nur um Disziplin und Mäßigung, sondern auch um Konsum- und Genusszwang, bis hin zur Perversion. Schauen Sie sich nur um: Die Werbung arbeitet schon lange unverschämt mit erotischen Reizen. An allen Ecken und Enden wird man aufgefordert, lustvoll zu leben. Geheime Fantasien und libidinöse Wünsche werden nun im Internet kanalisiert, das für die unterirdischen Gefilde des Geistes als kollektives Speichermedium fungiert. Jederzeit verfügbar, weltweit! Was wird die Digitalisierung mit dem menschlichen Seelenleben machen? Oh, wir wissen es nicht. Das Unbehagen aber bleibt: All das provoziert Unruhe, Unglück, Angststimmung. Ich sehe also nicht den geringsten Anlass, mein pessimistisches Weltbild ad acta zu legen.

… den Aufstieg des Rechtspopulismus

Sie glauben gar nicht, was man alles sieht, wenn man mit der Brille des Analytikers auf die Geschichte blickt. Ödipale Dramen überall! Aber alles der Reihe nach ... Dass die Jugend nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs bald aufbegehrt hat, war doch nur konsequent, besser gesagt „psycho-logisch“. Die jungen Menschen haben gesehen, wieviel Unheil der Faschismus angerichtet hat, mit seiner bedingungslosen Verherrlichung einer väterlichen Führerfigur. Es folgte die antiautoritäre Rebellion der 68er-Bewegung. Sie trugen lange Haare, weil sie sich nicht „zurechtstutzen“ lassen wollten. Sie huldigten der kindlichen Fantasie und suchten, um es in den Worten meines verehrten Freundes Romain Rolland zu sagen, das „ozeanische Gefühl“, die Empfindung von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem.

Bilder von brechenden Dämmen können tiefst sitzende Ängste hervorrufen. Schon sind sie obenauf, die politischen Kräfte, die mit diesen Gefühlen ihr Geschäft betreiben.

Aber Sie sehen ja selbst, das Pendel schlägt wieder in die Gegenrichtung. Die liberale Gesellschaftsordnung ist ins Wanken geraten, erschüttert durch innere Unsicherheiten ebenso wie durch Krieg und Flüchtlingsströme. Identitäten sind brüchig geworden; gesellschaftliche Autoritäten haben an Bedeutung verloren. Schmerzlich tut sich ein Vakuum auf. Die Stimmung neigt zur Vaterverehrung, nicht zum Vatermord. Auf der politischen Bühne schlägt die Stunde der starken Männer. Sie inszenieren sich im Kampf für rigide Grenzen, für Gesetz und Ordnung. Denken Sie daran, dass Migration als „unheimliche Heimsuchung“ erlebt werden kann! Und dass Bilder von brechenden Dämmen tiefst sitzende Ängste hervorrufen können. Schon sind sie obenauf, die politischen Kräfte, die mit diesen Gefühlen ihr Geschäft betreiben. Wissen die denn nicht, wie gefährlich das ist? Ich würde Ihnen meine Schrift über das Unheimliche nahelegen. Ehrlich gesagt, vieles wäre mir heute unheimlich, ja ungeheuerlich.

… die heutige Psychotherapie

Sich in Therapie zu begeben, hat zuweilen schon „Sex-Appeal“, und das ist, bei aller Bescheidenheit, auf unsere Pionierarbeit zurückzuführen. Bei der Verbreitung meiner Theorie hatte ich sicherlich ein gutes Händchen, wiewohl mir ihre unabwendbare Trivialisierung so manches Kopfzerbrechen bereitet hat. Theater- und Werbeleute, Schriftsteller und Filmemacher halfen mir, das tiefenpsychologische Denken in Umlauf zu bringen. Dadurch wurden die Türen für eine neue Sicht des Menschen aufgestoßen – und therapeutische Standards gesetzt. Die Verschwiegenheitspflicht der Psychotherapeuten zählt zweifellos dazu. Dass diese Pflicht nun mit dem geplanten Gewaltschutzpaket in Österreich­ ausgehebelt werden soll, halte ich übrigens – diese tagespolitische Anmerkung sei hier gestattet – für keine gute Idee. Die Klienten sollten sich im geschützten Raum der Therapie weiterhin uneingeschränkt anvertrauen können. Was eben heißt, „alles sagen zu können“, ohne dass dies gleich zur Anzeige gebracht wird. Glauben Sie mir, gerade dieses Sagen- und Zeigen-Können ermöglicht Triebabfuhr und verhindert Gewalt. Gedenken Sie meiner Worte – und achten Sie auf Ihre Träume!

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