Mensch - © Foto: iStock / v_alex

Der Mensch in der Digitalisierung

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Das Bild vom generell dummen und schlechten Menschen dient heute als perfekter Nährboden für das digitale Götzentum und die moderne Fortschrittsreligion. Doch es entspricht nicht der Realität.

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Das Bild vom generell dummen und schlechten Menschen dient heute als perfekter Nährboden für das digitale Götzentum und die moderne Fortschrittsreligion. Doch es entspricht nicht der Realität.

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Lässt man den Mainstream der heutigen Wissenschafts- und Politeliten gewähren, dann hat man das Gefühl, man landet in den Schattenseiten der Märchen. Die Wirtschaftswissenschaften sehen den Menschen als einen Homo Ökonomikus an, der an nichts interessiert ist als an sich selbst; als Individualist geboren, um sich selbst maximal zu bereichern. Unser Rechtsstaat gründet historisch auf der Idee, dass der Mensch des anderen Menschen Wolf ist; so dass ein starker Staatsapparat unumgänglich ist, um die menschlichen Wölfe vor sich selbst zu schützen.

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Und die Nobelpreisträger unserer Digitalökonomie sind die, die all dem noch das Krönchen der Missgunst aufsetzen: Nach ihren „wissenschaftlichen“ Experimenten und Statistiken zu urteilen, ist der Mensch völlig irrational und systematisch voreingenommen, er ist stur in der Verteidigung seiner eigenen Dummheiten, kooperiert nur für Geld, überschätzt sich selbst und alles Kurzfristige, unterschätzt alles Langfristige, inklusive Risiken und Nebenwirkungen von allem, was er tut. Kurz: der Mensch ist ein Fehler!

Doch das Bild vom allgemein dummen schlechten Menschen ist möglicherweise mehr üble Nachrede als gelebte Realität. Warum ist diese Karikatur dann so erfolgreich? Da sind zum einen die von Cathy O’Neil beschriebenen „mathematischen Waffen“, oder ich würde eher sagen „mathematischen Blindgänger“: Wenn ich meine Professorenkollegen in der Volkswirtschaftslehre bitte, sie sollten doch endlich mal den Homo Ökonomikus entsorgen, dann halten sie mir entgegen, dass sie dann ihre wissenschaftlichen Modelle nicht mehr rechnen könnten. Vereinfachte Menschenbilder machen das, was man heute „Wissenschaft“ nennt, schlichtweg einfacher.

Moderne Aristokraten ohne Tugend

Viel wichtiger für die Akzeptanz und Verbreitung eines vor allem schlechten Menschenbildes ist jedoch ein anderer Aspekt: Ein schlechtes Menschenbild dient schlichtweg Machtinteressen. Als je dümmer, ineffizienter, fauler und verantwortungsloser wir uns selbst sehen, desto höher ist unsere Bereitschaft, „intelligente“ und „effiziente“ Maschinen als überlegen anzusehen, diese zu kaufen und uns diesen unterzuordnen. Das fängt in betrieblichen Abläufen an, wo der Computer Recht haben muss und es doch klar sein sollte, dass man ineffiziente Menschen mit nahtlos funktionierenden Maschinen ersetzen muss! Je unberechenbar schlecht wir angeblich Auto fahren, desto höher die Akzeptanz für selbst fahrende Autos. Je mehr Kriminelle unter uns, desto größer die Akzeptanz für Überwachungskameras, Roboterpolizisten und Minidrohnen, die uns allzeit im Blick haben. Je mehr Hasser im Internet, desto mehr Akzeptanz für überwachende Filter. Und je undisziplinierter und ungesünder wir leben, desto wichtiger die Apps, die uns zu sportlicher Aktivität und besserem Essen „nudgen“ sollen.

Ein schlechtes Menschenbild und das Anfeuern von Selbstzweifel ist also ein perfekter kultureller Nährboden für die Art von kaltem Fortschritt für unterschätzte Menschen, den wir heute überall beobachten können. Würde man den Menschen auch nur für annähernd so klug und gut halten, wie er wahrscheinlich ist, dann gäbe es gar keinen Grund, all diese Maschinen zu kaufen. Aber „the business of business ist nun mal business“ und wenn man dafür ein möglichst schlechtes Menschenbild braucht, kommt einem die Verhaltensökonomie gerade recht.

Aber ist der Mensch nicht in Wirklichkeit ganz anders? Ist er nicht im positiven Sinne Lust? Spiel? Eros? Menschen sind alle auf ihrer Weise Denker, ernsthaft ebenso wie manchmal verrückt. Sie sind als Einzelne so einzigartig, wie die Vielfalt der Tierarten es uns nur nahe legen kann. Sie sind verletzbar wie Pflanzen. Und sie können im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen Teilnehmer am Schöpfungsprozess sein; einem Prozess, den wir einmal „Kultur“ nannten.

Info

Der vorliegende Beitrag ist die gekürzte Version einer Rede zum Evangelischen Kirchentag, der von 19. bis 23. Juni in Dortmund stattgefunden hat.

Die größte Gefahr für uns unfassbare Menschen ist jedoch unser heutiges Hinausgeworfen-Sein aus genau diesem Schöpfungsprozess. Aus freien Stücken haben wir uns dem Takt der industriellen und digitalen Transformationen unterworfen, statt dem eigenen Rhythmus zu folgen. Der harte Beton der Urbanität und das Rasen des digitalen Hamsterrads lassen uns leicht vergessen, was wir eigentlich sind: verletzbare Pflanze und verwundbares Tier ebenso wie Schöpfernaturen. Wir sind Wesen mit Seele und Rhythmus.

Aber der Beton der Urbanität scheint zum Beton unserer Seelen geworden zu sein. Seit Jahren steigt in diesem Milieu die Depression. Die Nettoproduktivität der Wissenschaften sinkt ständig, trotz der Vielzahl der Publikationen und Patente. Aus Rasen ohne Muße entsteht eben nur Rauschen und Stillstand. Verhärtet und einsam starren viele moderne Menschen heute aus den Fenstern ihrer modernen Plattenbauten aus Glas, deren langweilige Aussicht sie dazu verleiten, sie durch die quadratischen Fenster ihrer Facebook-, Instagram- oder Twitter-Walls zu ersetzen.

Aus dem Rahmen dieses global homogenen abgeschotteten Lebensstils heraus bilden sich Eliten, die in Wahrheit keine mehr sind. Moderne Aristokraten ohne Tugend. Aus ihrem weltvergessenen Wissenschaftsblick heraus, der vom Menschen als Mensch abstrahiert, arbeiten sie hart daran, den Rückweg ins Paradies zu verhindern, weil sie wie Adam und Eva immer wieder vom Baum der Erkenntnis essen wollen. Bei allen Lippenbekenntnissen zum Umweltschutz wollen sie nur eins: die Natur vergessen und unterwerfen. Vergessen, weil sie vergessen wollen, dass der digitale Fortschritt hungrig ist: Eine Tonne Seltener Erden für die Produktion von Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) verursacht 75.000 Liter verseuchtes Wasser und eine Tonne radioaktives Material. Zudem steigt der Stromverbrauch allein für die Digitalisierung um jährlich neun Prozent. Man arbeitet lieber daran zu berechnen, zu modellieren, zu kontrollieren und zu züchten, was in einer zerstörten Umwelt vielleicht noch überleben kann; zur Not auf dem Mars. Ist das in Ordnung?

Verletzbarkeit der Seelen

Mit der Digitalisierung haben wir Menschen begonnen, uns in eine neue Sphäre der Weltzusammenhänge einzuarbeiten, die man bis dahin als „das Unsichtbare“ ignoriert hatte. Hier tappen wir bei aller äußeren Souveränität im Dunkeln und arbeiten alchemistisch experimentell. 60 verschiedene Metalle müssen kombiniert werden, um einen Chip herzustellen und wie Substitute geartet sein müssten, um die zwölf Metalle zu ersetzen, die uns bald ausgehen, das wissen wir nicht. Die Frequenzbänder in der Luft werden benutzt, um Informationen zu übertragen. Man weiß nicht, wofür Mutter Natur diese Frequenzbänder bisher bereits benutzt hat. Man will das auch dann nicht so genau wissen, selbst wenn 230 Wissenschaftler aus 40 Ländern warnen, von 5G erst mal die Finger zu lassen, denn das würde ja unseren kommerziellen Fortschritt aufhalten.

Die Nettoproduktivität der Wissenschaften sinkt ständig, trotz der Vielzahl der Publikationen und Patente. Aus Rasen ohne Muße entsteht eben nur Rauschen und Stillstand.

Die Gestalter in dieser alchemistischen Wissenschaftswelt, die wir heute mit dem Ort „Silicon Valley“ gleichsetzen, toben sich aus wie noch nie mit einer technischen Macht, die so noch nie da gewesen ist. Das Ziel ist, eine neue Welt zu bauen. Aber für wen eigentlich? Welches Menschenbild liegt ihnen denn zu Grunde beim Erbauen ihrer Luftschlösser? Eins ist jedenfalls sicher: Im digitalen Raum hat der digitale Weltgestalter alles – so scheint es – unter Kontrolle. Hier wird genau erfasst, wer was sagt, wie dumm oder klug jemand ist, welche Wege jemand gehen kann. Während die Facebook- und Twitter-Fenster noch den Anspruch hatten, eine Form von Fenster in die Welt zu sein, sind virtuelle Realitäten nun Fenster in eine vollkommen selbst geschaffene und kontrollierte Welt. Hier gestalten die Wenigen, die die Kontrolle, die Macht und das Geld haben, um die Körper und Seelen der in die Passivität hineinfallenden Fortschrittskinder auszusaugen, zu besetzen, zu bedienen und zu manipulieren.

Was sie aber unterschätzen, ist die Macht des Körpers und die Verletzbarkeit der Seelen in all diesen Menschen, und wie diese, die für Aktivität, Leben und Sinn geboren worden sind, sich unbewusst wehren – wehren auf je eigene Weise; in Form von Hass und Depression, in Form von geistigen Exkrementen und Gewalt, virtueller Mitwisserschaft und falschem Stolz auf ein verlorenes Dasein: den Stolz, Teil von Ländern zu sein, die sich „modern“ nennen. All das könnte übrigens anders sein. Hätten die Schöpfer der digitalen Welt die Demut und Vorsicht der Natur, die Geduld und den Willen zum Schönen statt zum schnellen Geld und hätten sie ein bejahendes Menschenbild, dann würden die Technologien, die sie schaffen, ganz anders aussehen können. Jede neue Entwicklung könnte sich sorgen um die vielschichtigen Auswirkungen, die Technik auf das Leben von Menschen und Gesellschaften hat: Werden wir in unserem Leben und Charakter gestärkt durch das Neue? Zufriedener, freundschaftlich verbundener, wissender, großzügiger, mutiger? Hat man versucht zu verstehen, was durch neue Technologien im Positiven wie im Negativen für die menschliche Gesellschaft entsteht?

Auf Technik verzichten?

Und besteht die Bereitschaft, Technik teurer und mit aller Sorgfalt zu bauen, statt nur Softwaremodule billig zusammenzuflicken? Wäre es sogar denkbar, im Interesse von Gemeinschaft und Gesundheit auf Technik zu verzichten, wenn sie schlicht nichts Gutes verspricht? Oder hat unser schlechtes Menschenbild und unsere Fortschrittsreligion schon dafür gesorgt, dass wir all diese Fragen als naiv empfinden? Mit solch einem Fragenkompass und einer nüchternen Grundhaltung, die das digitale Götzentum ersetzen sollte, wäre es möglich, zum Fortschritt von Menschen durch Technik zurückzukommen und dem irren Überwachungskapitalistischen Pfad der Ausbeutung von Allem, was lebt, zu entkommen. Voraussetzung ist allerdings tatsächlich, dass wir zu einem guten Menschenbild zurückkehren.

Die Autorin ist Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihr Buch „Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert“ ist heuer im Droemer-Verlag erschienen.

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