Die ganze Welt ein Disneyland

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Zum Dossier. Der Faktor "E" erobert die Welt. "E" steht für Erlebnis, Entertainment und Emotion. Die "Erlebniswelten" sind besonders spektakuläre Varianten dieser Entwicklung. Alles wird zur Ware, alles ist käuflich. Das Leben selbst ist es, das zum Objekt der Vermarktung geworden ist.

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Zum Dossier. Der Faktor "E" erobert die Welt. "E" steht für Erlebnis, Entertainment und Emotion. Die "Erlebniswelten" sind besonders spektakuläre Varianten dieser Entwicklung. Alles wird zur Ware, alles ist käuflich. Das Leben selbst ist es, das zum Objekt der Vermarktung geworden ist.

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Der Soziologe Gerhard Schulze spricht 1995 in seinem gleichnamigen, berühmt gewordenen Buch von der "Erlebnisgesellschaft". Das ist zweifellos eine Behübschung der Entwicklung, denn der Kern der Sache ist nicht das exponentielle Anwachsen der Erlebnisse, sondern der Erlebnismärkte. Der Warenkapitalismus wandelt sich in einen Erlebniskapitalismus. Warenkonsumenten werden zu Erlebniskonsumenten, Leben zu Konsum. Damit wird der endgültige Abschied von den Konzepten einer "vita activa", (tätigkeitsbejahendes, gestaltendes Leben), ganz zu schweigen von einer "vita contemplativa" (Leben in gelassener Nachdenklichkeit), vollzogen.

Das Gold der Zukunft ist das Immaterielle. Träume, Geheimnisse, Emotionen werden marktfähig. Welch ein Fortschritt! Erlebnisse muß man nicht mehr mühselig selbst produzieren. Endlich kann man sie kaufen.

Die Erlebnisindustrie steht, obwohl schon heute omnipräsent, erst am Anfang. Erlebniswelten wie Disneyland, Gardaland, Movie World oder Legoland sind nur eine besonders spektakuläre Variante der Entwicklung. Erlebnisbäder, Märchenparks, Themenhotels, Shopping-Malls mit Event-Angeboten, Kino-Entertainment-Centers: Die Infrastruktur für Erlebnissuchende wird langsam flächendeckend und ermöglicht ein zeitlich unbegrenztes Verweilen in den Markthallen einer "zweiten Welt".

Man muß aber zugeben, daß dieser Markt überfällig war. Seine fulminante Entwicklung wäre ohne die Lücken und Risse in den Lebenswelten, ohne die wortlos akzeptierte Absenz von Sinnproduktion im Alltag, ohne die Dekonstruktion der großen Erzählungen von einst nicht denkbar.

Noch nie hat es so viel Nachfrage nach Sinn, Gefühlen und Träumen gegeben. Denn genau das, was die Erlebnisindustrie anbietet, wird permanent vernichtet. Während der Regenwald verschwindet, besuchen die vom Lebensgefühl des Regenwaldes und seiner Faszination beseelten Menschen die Rainforest-Cafes.

Niemand bestreitet: Die echte Wirklichkeit ist ungeheuer beeindruckend, schön und gewaltig, in ihrer Unmittelbarkeit, in der atemberaubenden Größe ihrer lebendigen Stofflichkeit, in ihrer Offenheit für das Abenteuer Leben. Die Faszination des Echten ist ungebrochen. Aber das sanfte Gift der Erlebnis-Pick-up-Kultur wirkt schon deswegen, weil die in der Realität verborgenen Lebensmöglichkeiten erst erschlossen, erarbeitet und entdeckt werden müssen.

Wirklich leben, das ist auch wirkliche Arbeit. Das erfordert Zeit, Kommunikation, Regeln, Vereinbarungen, Kontemplation, Inszenierungen, Feste, Synchronisierung, Sinn für Traditionen, Erfahrungen, Wertüberlieferungen und eine narrative Glaubensbasis. Der Verfall dieses Umfelds ist aber offensichtlich.

In dem Maße, in dem das Leben, also sinnerfüllte Zeit, aus dem Alltag auswandert und seine Abläufe als dürr, ausgebrannt, gehetzt, nichtssagend, kommunikationslos empfunden werden, springt der neue Markt dienstbeflissen ein. Gezielt nützt er seine Chance und findet eine leichte Beute.

Wirtschaftsberater und Trendgurus bestätigen die Wechselwirkung zwischen der Verarmung des Lebens und dem kometenhaften Aufstieg der Erlebnismärkte. Watts Wacker, Futurist bei einer großen Consulting-Firma, sagt es ganz offen: Je mehr der Druck auf die Menschen im Alltag zunimmt, je schwieriger es wird, ein glückliches Leben zu führen, je weniger wir uns im realen Leben Träume erfüllen können, desto wichtiger werden die Traumwelten. Wir brauchen Entlastungsstrategien, die uns das Leben nicht noch schwerer machen.

Für den Trendforscher Matthias Horx geht es längst nicht mehr um Produkte und einfache Dienstleistungen, zum Beispiel das Servieren einer Tasse Kaffee. Bei einem Kaffee, "den man nicht vergißt", geht es vielmehr um die Bühne, um die Inszenierung, die Konnotation, den Mythos des Ortes. Nicht der Geschmack auf den Lippen, sondern das, was der Konsument fühlt, was er denkt und woran er sich erinnert, sei entscheidend. Inszenierte Erlebnisprodukte steigern die (Gewinn-)Spannen um das vier- bis zehnfache. Und so entstehen Märkte für Thrill und Excitement, für Gewalt, für Einsamkeit, Meditation und Gelassenheit, für Entlastung und Befreiung von Zumutungen, für Erotik, für die Simulation heiler Familien.

Wenn der Zukunftsforscher John Naisbitt meint, das Bild vom Fernseher als neuem Mittelpunkt der Familie sei zu optimistisch, denn die Familienmitglieder zerstreuen sich in die verschiedenen Zimmer, um ihre Lieblingssendungen anzusehen oder Musik zu hören, dann zeigt das zweierlei: Zum einen die stumme Gewalt des neuen gesellschaftlich-ökonomischen Umfelds (desynchronisierte Zeitstrukturen, Unplanbarkeit, Vereinzelung, Durchrationalisierung, Unsicherheit), das wie ein maßloser, widerwärtiger Vampir das Lebensblut und die Lebensenergien, die natürlichen Fähigkeiten zur einer vita activa und zur Gestaltung des Projekts "eigenes Leben" aussaugt. Und gleichzeitig die Rückwirkungen der Erlebnisprodukte, die in einem fürchterlichen Teufelskreis die lebensweltlichen Beziehungen ständig weiter zermürben.

Es sieht daher so aus, als wäre das "Leben aus zweiter Hand" unser Schicksal. In den Ritzen und Poren der verbleibenden Freiräume spielen sich dann die Tagträume vom wahren Leben ab. Wie Blitzlichter in der Diskothek verspüren wir gelegentlich und diffus den Hauch von Freiheit und Abenteuer. Marlboro, Casablanca, James Bond, Pan, Bambi, Diana, Elvis, Bacardi, Porsche, Gucci amalgamieren zusammen mit Filmfragmenten, Identifikationsfiguren, vielen schönen Bildern und den eigenen Erfahrungen zu einer halb virtuellen, mit dem Alltagsleben lose verbundenen Zwitterrealität, einem zwielichtigen Zustand, in dem sich letztlich die Welt aber ganz komfortabel aushalten läßt.

Zuseher zu sein, das ist nicht viel, aber auch nicht so übel. Und am Rande spielt man ja immer auch ein wenig mit. Mit zusammengekniffenen Augen und bei ein wenig gutem Willen vermischen sich Realität und Fiktion, es ist nicht mehr ganz klar, wer man ist und wo man ist.

Palmen, eine freundliche Barfrau, ein Drink lässig in der Linken, ein guter Spruch, zwanglos wie ein Star vorgetragen, in einer Runde monologisierender Figuren im Spiel der Zweiten Welt: Das ist nicht der Horror, gegen den sich die fremde Galaxis "Kulturkritik" endlich Widerstand erwartet. Das ist Leben light, mit beschränkter Tiefe, beschränkter Haftung, beschränktem Risiko, beschränkten emotionalen Investitionen - die sozialstaatliche Facette des Privaten, Sloterdijk würde sagen, eine Art Versozialdemokratisierung des Lebens.

Die Frage ist nur, ob der E-Industrie künftig die Quadratur des Kreises gelingt. Denn sie liefert zweifelsohne nicht das, wovon die Menschen träumen. Die Identifikationsfiguren Hollywoods und die Traum-Szenarien sehen anders aus: Jennifer Lopez oder Tom Hanks sitzen eben gerade nicht vor dem Fernseher oder fahren mit Todesverachtung in einer Looping-Bahn, nachdem sie sich zuvor eine Stunde angestellt haben. Sie bewegen sich in der Wildnis, ihre Gefährtinnen sind aus Fleisch und Blut und die Gefahren sind unerbittlich echt. Geträumt wird von Ferne, Neuem, Befreiung, in den Projektionen lebt man elitär, einsam, riskant, ohne Netz, und was kommt, ist offen. Eine unüberbrückbare Differenz? Ist das Konzept der erlebnisindustriellen Ausbeutung der Lebenszeit der Menschen wegen der Flachheit des Produkts zum Scheitern verurteilt?

Eher nicht. Solange die reale Welt immer häßlicher, unwirtlicher, fader und sinnentleerter wird, hängt ihre Erträglichkeit immer mehr davon ab, daß die Leerstellen mit immateriellen Angeboten ausgefüllt werden. Die Menschen sind auf die Bühnen und Arenen angewiesen, in denen ein Mischleben zwischen Traum und Wirklichkeit abgespult werden kann. Das ist oft genug attraktiver als ein Leben, in dem man sich mühsam die letzten Fetzen der verschwindenden - guten und sinnhaften - Realität zusammenklauben muß und dazu noch Partner braucht, die bei diesem beschwerlichen und riskanten Projekt mitmachen.

Kein Weg zurück?

Wir werden uns also daran gewöhnen müssen, daß die meisten Menschen den Großteil des Lebens in vorgefertigten Kunstwelten und fremdinszenierten Erlebnis-Arrangements verbringen werden.

Die folgende Hoffnung klingt daher nur gemessen am hehren Maßstab der Utopie einer Rückkehr zur Integrität des Echten und Autonomen zynisch: Die Märkte müssen auch hier ihre Produkte ständig verbessern. Und so wie heute kein Kind mehr freiwillig mit der Oma "Mensch ärgere Dich nicht" spielt, wenn nebenan die Spielkonsole wartet, so ist die große Herausforderung für die Erlebnismärkte ihr heutiges Defizit an Echtheit und Autonomie. Aber kann man Echtheit, Freiheit, Abenteuer, Unmittelbarkeit, Offenheit künstlich erzeugen? Wir wissen es nicht. Die Antwort auf die Frage steht aus.

Der Weg zurück bedürfte jedenfalls einer Rekonstruktion der Lebenswelt. Machbar wäre das, wenn die Politik zum Beispiel Projekte wie eine Tätigkeitsgesellschaft, eine kulturelle Renaissance, ein Leben mit menschlichen Zeitstrukturen und ermöglichter lebensweltlicher Kommunikation verfolgen würde. Da das aber nicht passiert, werden sich immer mehr Menschen immer länger vorgefertigte Erlebnispakete konsumieren. Folge ist, daß es der Gesellschaft immer mehr an Ressourcen zur Etablierung einer autonomen, selbstbestimmten Realwelt fehlt. Immer mehr zwischen Erlebnisangeboten vagabundierende Menschen treffen auf immer mehr ebensolche Traumwandler. Dazwischen liegen ein paar Gesprächsfetzen, Blicke, von denen man nicht weiß, ob sie im Kino abgeschaut werden oder autonom entstanden sind, marionettenhafte Kommunikationssequenzen. Gegenwelt und Realwelt werden ununterscheidbar. Die Lebensstile verschmelzen mit Produkt- und Dienstleistungsmärkten. Leben wie im Kino, das Leben als Kino. Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben wird freiwillig an den Markt delegiert. Das alles entspricht zwar nicht einem mit der Würde des Menschen vereinbaren Zustand. Aber leben kann man damit allemal. Das enteignete Leben läßt sich heute offenbar deutlich besser aushalten als die ewige Plage mit der Realität.

Der Autor ist Präsident der Robert-Jungk-Stiftung und Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Salzburg.

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