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DER GEPLÜNDERTE BAUM

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Welch seltsame Dinge stellen wir mit unserem Leben an, daß uns selbst die Feste nachgerade zur Plage werden? Das erleichterte Aufseufzen, mit dem wir alljährlich das Weihnachtsfest hinter uns bringen, zeugt von der Bewältigung einer übermäßigen Anstrengung und nicht vom Genuß feiertäglicher Zustände. Die Besorgung der Geschenke, die ein Akt der Liebe sein sollte, ist vielen unter uns ein Alpdruck geworden. Das Zusammentragen der weihnachtlichen Requisiten, vom Tannenbaum bis zur Bratgans, von den bunten Kerzen bis zum Gebäck, das in den Adventstagen munter und erwartungsvoll einsetzt, schwillt schließlich zu einer Art von Panik an, in deren bedrängtem Tempo der Gedanke an den unschuldig religiösen Sinn des Festes erheblichen Schaden nimmt. Die Straßen unserer Städte, unter deren schreienden Beleuchtungseffekten die Menschen sich in Kolonnen drängen, lassen eher an das chinesische Neujahrsfest in Schanghai als an den Auftakt zur Geburtsstunde des Erlösers oder auch nur zum intimsten aller Familienfeste denken. Vergeblich erheben einige kirchliche Stellen ihre ernste Stimme, um die Öffentlichkeit an den eigentlichen Sinn oder Ursprung des Festes zu erinnern. Ein nie dagewesener Lärm leitet die „stille Nacht“ ein, eine Unfreiheit von bislang ungewohnten

Ausmaßen legt sich wie ein Netz um unsere Zurüstungen, wir zappeln im Gewirr der Werbung, des Warenangebots und der sozialen Pflichten. Aus dem Menschen, dem das Fest ein Wohlgefallen sein sollte, wird der „Endverbraucher“, der in den Mechanismus der Absatzorganisationen gerät und von ihm erst wieder freigegeben wird, wenn alles vorbei ist. Daher das erleichterte Aufseufzen, mit dem Familienväter dem nächsten Arbeitstag entgegensehen. Mütter und Hausfrauen die Wohnung wieder in den normalen Zustand bringen und groß und klein in den Alltag zurückkehren.

Nun wird bekanntlich nichts übler angesehen als das Aufbegehren des besagten „Endverbrauchers“. Die einzige Form der Abwehr, die ihm möglich ist, ist Zurückhaltung beim Kaufen. Sobald er zu der Aufdringlichkeit des Angebots und dem Mißbrauch festlicher Gewohnheiten und Symbole kritisch Stellung nimmt, läuft er Gefahr, zum Volksfeind gestempelt zu werden, der der Wirschaft und damit der Allgemeinheit Schaden zufügen will. Es gehört heute schon ein wenig Mut dazu, gegen den Absatzterror zu protestieren. Daher wird der Leser verstehen, daß ich diese Betrachtungen lieber erst nach dem Fest angestellt hätte, zu einem Zeitpunkt also, an dem das „Weihnachtsgeschäft“ zu Ende ist und der Einzelhandel in den verletzten Empfindungen eines sentimentalen Außenseiters keinen Sabotageversuch mehr erblicken kann. Der Umsatz dürfte auch in diesem Jahr befriedigend sein, aber schließlich ist er ja nicht die einzige sittliche Idee, die uns noch geblieben ist, und so kommt denn die Feststellung vielleicht nicht zu spät, daß wir auf dem besten Weg sind, eine der wenigen Einrichtungen, die noch aus der nivellierenden Flut eines totalen Massendaseins herausragen, um ihren Sinn zu bringen und damit zu zerstören.

Der motorisierte Weihnachtsmann, die straff eingeteilte Brigade der Christengel, der Stern von Bethlehem als Gipfel der Beleuchtungskunst, die Krippe im Schaufenster, die Heiligen Drei Könige als Geschäftsreisende, Öchslein und Eselein mit Textilwaren beladen, das Zweite Kapitel des Lukas-Evangeliums im Lautsprecher, die ganze funkelnde Installation der Verkaufszeiten und die frohe Botschaft, daß die Preise erschwinglich sind, das alles drängt sich in wenige Wochen zusammen, die für den Handel von großer Bedeutung sind. Aber je lauter an unsere Bedürfnisse appelliert wird, je geräuschvoller die Einladung, neue Bedürfnisse zu empfinden, in unser Ohr dringt, um so mehr wird das Fest zum Zwang. Wie ein Zwang wirkt die Steigerung des Jahres zum Höhepunkt, wie ein Zwang plagt uns die ehemals freie tust des Schenkens, wie ein Zwang legt sich die Gelegenheit, einige Tage ohne Beschäftigung zu verbringen, auf unsere abgehetzten Sinne. Das Christgeschenk nimmt den Charakter einer sozialen Forderung an, Gratifikationen werden ausgehandelt, Zulagen werden umstritten, die „Sozialpartner“ treten sich ganz ohne Lichterglanz gegenüber. Es geht • ja nicht um Lebkuchenmänner, es geht um Löhne und Gehälter und um die Gelegenheit, sich im Kampf um „die Gabe unter dem Lichterbaum“ ein Verdienst zu erwerben.

So ist das Weihnachtsfest, an dessen verschneites Wintergeheimnis fast nur noch die Gratulationskarten erinnern, zum größten Vorwand des Jahres geworden, dessen kommerzielle Bedeutung auch vor dem Kindergemüt nicht mehr haltmachen kann. Denn welche Familie wäre in ihren vier Wänden noch imstande, mit dem mechanischen Zauber der Schaufenster zu wetteifern? Was die Eltern auch an Mühe und Erfindungsgabe aufwenden mögen, um die Bescherung mit magischem Glanz zu umgeben, die Kinder werden zu Hause niemals das finden, was ihnen das nächste Kaufhaus wochenlang in seinen Auslagen an weihnachtlichen Tricks vorgeführt hat.

Es wäre freilich verfehlt, der Geschäftswelt eine Art übernatürliche Gewalt zuschreiben zu wollen, die den Menschen um seine intime Sphäre prellt, damit die Ware an den Mann gebracht werde. Das hieße, den Handel gewissermaßen dämoni-sieren und aus den Werbefachleuten Verführer der Menschheit machen. Nein, der Mensch wird nirgendwo von seinem ureigenen Feld verdrängt, wo er nicht selbst aus freien Stücken den Rückzug angetreten hätte. Wir bringen einfach nicht mehr die Intensität auf, die dazu gehört, um einer Einrichtung Respekt zu verschaffen, die einst zu den heiligsten Reserven des Privatlebens gehörte. Wo der Einzelne nicht mehr die Kraft hat, ein Fest mit Leben zu füllen, da fällt es eben der Organisation anheim, ob diese nun im Dienste der Politik oder des Absatzes stehe. Mag schon das Verblassen der religiösen Symbole ein unaufhaltsame

Verhängnis sein, das mit dem seelischen Schwund Schritt hält, so ist die Unfähigkeit des Menschen, die Feste des Jahres nocR auf sich zu beziehen, erst recht ein Teil seiner Unlust sich selbst gegenüber. Genau wie die Ferien des modernen Menschen zu Massenveranstaltungen entarten, deren Leitung in fremden Händen liegt, so lassen wir uns das Weihnachtsfest entwinden, weil wir es nicht festzuhalten verstehen. Vom Feierlichen bleibt schließlich nur noch die Plage, vom Schenken die Leistung, vom Ruhetag die Langeweile.

Glücklich die Menschen, die dieser Verödung zu widerstehen vermögen. Es sind dieselben, die noch den Schauer der längsten Nacht spüren, und denen die Weihnachtsgeschichte des Evangeliums keine leeren Worte sind. Auf sie setzen wir unsere Hoffnung, daß sie helfen werden, den totalen Ausverkauf unserer Bräuche und frommen Gewohnheiten zu verhindern. Denn dieser Ausverkauf kann sich nur deshalb so erschreckend ausbreiten, weil er auf einen immer geringeren Widerstand stößt, ja, weil er eigentlich kaum noch gefühlt wird. In ihm gehen die Schönheiten unserer alten Städte und Landschaften unter, um in den Dienst der Verkehrswerbung oder des Films zu treten; er verschlingt die wenigen Volksbräuche und Traditionen, die uns geblieben sind. Mit Unbehagen sehen wir alljährlich dem Karneval entgegen, dessen anstrengende Humorlosigkeit gerade noch ausreicht, um den Absatz von Speisen und Getränken zu gewährleisten. Aus dem organischen Ablauf des christlichen Jahres wird ein Glied nach dem anderen herausgelöst, weil wir es nicht festhalten, und in die Maschine ,einer kommerziellen Organisation geschleudert, in der es sich in neue Bedürfnisse äußerer Art verwandelt. Die Weihnachtsglocken läuten wie im Rundfunk, die alten Städtchen schlummern unter der Schneelast wie im Film, die Engel schweben durch den Raum, und die Fenster der Dorfkirche leuchten zur Mette wie im Schaufenster. Was ist Wirklichkeit, und was ist Arrangement? Wir wissen es selbst nicht mehr, wir spüren nur unsere Müdigkeit und die stets unerfüllte Sehnsucht, das nächste Mal mehr Kraft aufzubringen und der

Stimme unseres Gemütes zu lauschen, die uns vielleicht doch noch etwas zu sagen hat.

Wenn Weihnachten vorüber ist, dürfte der rechte Augenblick gekommen sein, darüber nachzusinnen, warum wir das bezauberndste aller Feste mit einem Aufatmen verabschieden. Nicht die natürliche Übermüdung geplagter Familienhäupter macht sich hier fühlbar, sondern die Entfremdung des Menschen von sich selbst. Da war er sich einige stille Tage ganz überlassen aber es zeigte sich, daß die Stille oft nur Leere war. Der Lärm der Einkaufstage, das Hasten im Gedränge und die Betäubung durch das Übermaß an Glühbirnen, Glitzerwatte und Tannenzweigen, dieser ganze Ansturm auf den Menschen als Verbraucher hat mit einem Schlage aufgehört, und nun zeigt sich, wie klein und kärglich der private Bezirk geworden ist. Immer ist der Einzelne nur ein Objekt, erst zerrt die Werbung an ihm, dann die Forderungen der Mitmenschen, denen die Gaben zustanden, und nun ist wieder Alltag da. Wir betrachten die Ernte des Festes und stellen fest, daß unser Lebensstandard, „verglichen mit dem Vorjahr“, sich abermals gehoben hat. Aber was hat sich sonst noch gehoben? Die Maschine ist bereit — Anruf genügt —, uns das Kopfzerbrechen darüber, wie wir zu schönen Festen kommen, zu ersparen. Diese Maschine ist allerdings keine Gottheit, wir haben sie selbst geschaffen und können ihrer Gefräßigkeit Einhalt gebieten. Aber wollen wir es? Sind wir nicht schon zu apathisch geworden, um in uns selbst hineinzuhorchen? Gewiß, was da klingt, ist verworren und nicht immer harmonisch, aber es spricht doch wenigstens von uns selbst und erinnert uns an unsere Fähigkeit, unser Jahr selbst zu gestalten.

Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, daß böse Männer am Werke seien, um den Kern unserer Person zu zerstören. Nein, wir selbst sind damit beschäftigt. Werbung, Organisation, Wirtschaft und Absatz sind ja keine Formen einer bewußten Verschwörung gegen die Heiligkeit der privaten Sphäre, sondern Produkte unseres eigenen Geistes. Im wirtschaftlichen Bereich ist der Mensch von jeher ein Gegenstand, dessen Willen gemindert oder gelenkt werden soll. Das liegt in der Natur der Sache. Es kommt daher nicht darauf an, gegen die Organisation als den eigentlichen Feind zu wettern, sondern uns selbst zu prüfen und unsere Willfährigkeit zu tadeln.

Der Baum der Erkenntnis ist geplündert, der Glitzerschnee der Illusionen ist stumpf geworden, aber auch die echten Leitsterne sind erloschen. Wir sind ja so unendlich gescheit geworden und gefallen uns darin, unsere eigene Abdankung als ge-schichtsphilosophische Notwendigkeit zu definieren. Der geplünderte Baum wirft wenig Schatten, seine Kahlheit ist unser Werk. Wir haben ein Jahr Zeit, um die Beschämung darüber, daß das frömmste und stillste Fest des Abendlandes zu einer lärmenden und anstrengenden Veranstaltung geworden ist, nicht einschlafen zu lassen. •

Wenn wir unserer Machtlosigkeit bis dahin nicht Herr werden, wird es sich empfehlen. Weihnachten und Karneval zusammenzulegen und den Abstieg des Menschen zum Endverbraucher als Sieg des Gemeinsinns über sentimentale Eigenbrötelei zu feiern. ,

Aus „Die Lust am Untergang“, Rowohlt-Verlag.

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