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Merkblatt für Jen Reiseteufel

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Der Reiseteufel zitterte, als er vor seinen Vorgesetzten geführt wurde. Auch in der Hölle gibt es Säuberungen.

Der Vorgesetzte begann falsch-freundlich: „Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?“ und fuhr sodann strenger fort: „Wir hatten Ihnen die Abteilung Reisen zur Bearbeitung übergeben. Was Sie dort seit einigen Jahrtausenden zuwege gebracht haben, ist unzureichend und dilettantisch: Ungeziefer in Gasthäusern, überfordernde Wirte, schlechte Straßen, Taschendiebe, Wegelagerer, Wirbelstürme, Moskitos — das sind schülerhafte Einfälle, die an der Sache so wenig ändern wie die Schiffsmuscheln an der Seefahrt.

Sie verlieren sich in Kleinigkeiten, und darüber das Ziel unserer Aktion aus den Augen. Um was handelt es sich? Die Menschen sehen heute aus Mangel an Phantasie ihr größtes Glück im Reisen; ihrer Alltagsfesseln ledig, hoffen sie dabei zu werden, was sie nicht mehr sind: Dichter. Sie bewundern die angebliche Schönheit der Schöpfung, aber auch Museen, ja sogar Kirchen, und das kann für uns die ärgsten Folgen haben.

Sie, junger Mann, der noch gar nicht begriffen, daß wir uns niemals direkt gegen etwas wenden, vielmehr gerade jene Kräfte, die gegen uns sind, unmerklich für unsere konträren Ziele einspannen. Denken Sie an die Erfolge, die wir beim Weihnachtsfest erzielt haben! Was könnte uns zuwiderer sein als dessen Anlaß? Aber nun sehen Sie, wie genial Ihr Kollege eine Nebenerscheinung von Weihnachten, nämlich das liebevolle Schenken, zur Hauptsache gemacht hat. Er hat es erreicht, daß eine gebieterische Aufforderung zum Geschenkekaufen bereits drei Monate vor dem Termin einsetzt. Durch psychologische Anpeitschung nimmt das endlich die Dimension einer allgemeinen Schenk- und Kaufhysterie an, so daß (1) kein Mensch mehr an das bedauerliche Geschehnis denkt, welches dazu den Anlaß gab, und (2) die Erwachsenen über diese kostspielige Plage so verstört sind, daß alle aufatmen, wenn das Fest mit seinen Magenverstimmungen vorüber ist. Eine im besten Sinne diabolische Taktik: das Fest nicht abschaffen, nicht bekämpfen, sondern durch unmerkliche Zentralisierung einer Nebensache um seinen Sinn bringen.

Doch zur Sache. Wir haben Ihnen hier ein Merkblatt ausgearbeitet, das, im Vertrauen gesagt, von höchster Stelle gnädig approbiert wurde.

Grundsätzlich ist festzuhalten, daß das Reisen von nun an nicht bekämpft, sondern möglichst gefördert werden soll! Es ist dahin zu wirken, daß alle Menschen alle Jahre überallhin reisen, denn dann wird man schon sehen . . . Solange es ein Idyll gibt, das nicht Parkplatz geworden ist, dürfen wir unsere Aufgabe noch nicht als erfüllt betrachten. Deshalb sind alle Aufschreie über Verkehrstote und Straßenverstopfung glatt zu ignorieren, vielmehr die Fabriken anzuspornen, unermüdlich noch mehr Autos in die Welt zu schicken, weil Autos zur Reise ja fast zwingen. Des Absatzes wegen haben sich die Autos nach der Mode zu richten wie die Damenhüte: heute z. B. müssen sie vier Glotzaugen und Heuschrecken-Ellenbogen haben. Sie müssen alle Straßen, Plätze, Waldwege, Aussichtspunkte und Meeresstrände überziehen wie eine Insekteninvasion, wie eine Prozession von Milliarden Blechmilben, jedoch so, daß auch die Luft durch Auspuffgase infiziert und die Stille durch Motorgeräusch, Lautsprecher und Türenklappen übertönt wird. „Ohne das freut uns d' ganze Holl' nimma!“, wie mir neulich ein oberbayrischer Teufel mitteilte. Und es sei kein Stück Waldmoos oder Meeressand ohne Butterbrotpapier. ,

Wichtigeres Hilfsmittel hierzu ist die Propaganda: den Menschen muß eingeredet werden, daß ihr Leben kein Leben sei, solange sie nicht aus dem Waggonfenster blicken oder „im Sande dösen“ können. Der Normalmensch, der das täglich zu lesen bekommt, muß endlich reisen. Es müssen ihm von allen Wänden Plakate vor die Nase gehalten werden mit lachendem Himmel, krebsrotem Alpenglühen, waschblauem Meer und überhaupt nicht der geringsten Uebereinstim-mung mit der Wirklichkeit, besonders da ja die Lautsprecher nicht aufs Plakat kommen.

Das ist aber noch nicht das Eigentliche. Wenn die verheißungsvolle Anlockung „Lift im Hause“ nicht mehr zieht, so hilft dann nichts und es ruft: „Kruzitürken umanand — Beethoven im Hause.'“, wie ein Satiriker schon vor Jahren festgestellt hat. Jeder Bürgermeister sucht seinem Stadtsäckel durch etwas aufzuhelfen, was Festival genannt wird: ein Ekelwort, welches zum älteren Ekelwort prominent paßt, indem zu einem Festival natürlich Prominente engagiert werden. Ein sagenhafter Max Reinhardt hatte damit den Anfang gemacht, indem er Mysterienspiel und Religion für den Fremdenverkehr einspannte, damals, als in Salzburg

„Ehre sei Gott in der Höhe der Preise“ war, wie jener selbe Satiriker feststellte. Jedes Buxtehude feiert heute seinen Buxtehude in einem Festival, worauf dann die erzielten Uebernach-tungen gezählt werden. Wichtig ist auch, daß die Reisenden zu Tausenden, und womöglich gruppenweise, durch die Kunstgalerien gehetzt werden. Jeder Kunstsachverständige weiß, daß, um auch nur ein Bild kennen und lieben zu lernen, dazu Zeit gehört. Welch eine Freude, diese Unglücklichen an 3000 Meisterwerken vorüberrasen zu sehen, sich selbst und die Bilder damit schändend! Museen haben Orte des Entsetzens zu sein.

Ein unvergeßliches Vorbild für unsere Bestrebungen werden stets jene „Schlachtfelder-Rundfahrten im Auto!“ bleiben, die 1921 von Basel aus nach den Entsetzensorten von Verdun veranstaltet wurden (Verpflegung inbegriffen): „Gefallen zur Hebung des Fremdenverkehrs“. Sehen Sie, in England leben heute die stolzesten Herzogsschlösser nur noch davon, daß sie von Touristen gegen Entree besichtigt werden: einige Herzöge verkaufen dazu noch Erfrischungen mit Coca-Cola. Das ist der Idealzustand, in den durch Reisepropaganda alles zu bringen ist, bis schließlich jeder Mensch für den anderen Menschen eine bezahlte Sehenswürdigkeit, Kellner und Portier geworden ist. Die Dinge und Menschen müssen dermaßen kaputt gepriesen werden, daß sie bis ins Innerste nur noch Reiseeindrücke geworden sind, zum Beispiel die Akropolis. Wie jammerschade, daß ein gewisses Festival in Oberammergau nicht jedes Jahr stattfindet! Daß da mehrjährige Piusen eingelegt wurden, war für uns ein herber Schlag, ich sag's Ihnen offen. Aber stellen Sie sich vor, daß das jede Woche gespielt wird ... mit Gethsemane und Kreuzigung und allem anderen ... zur Hebung des Fremdenverkehrs... gegen Entree ... ( Na, es ist noch nicht aller Ueber-nachtungen Abend. Die völlige Prostituierung einer Epoche nimmt halt Zeit, das ist es.

InderSächsischenSchweiz (übrigens ein famoser Reisename!) gab es einen Wasserfall, der nur gegen Einwurf einer Geldmünze mit elementarer Wucht zu stürzen begann — hier ist das Prinzip zum Symbol gesteigert! Begreifen Sie, daß lediglich das Massenreisen solches verwirklichen läßt? Nur eine Invasion von hunderttausend Blechmilben, die die Schönheit einer Landschaft zerstottert, kann es fertigbringen, daß diese Schönheit auch noch geistig verkauft wird. Es muß sein, als ob die Schöpfung den silbernen Maloja-See im Hinblick auf den Fremdenverkehr geschaffen hat. Alles, was da ist, vom Schmetterling bis ■ zum Hochaltar, werde nach seiner Anziehungskraft für Touristen eingeschätzt. Deine Augen sollen nur noch Sehenswürdigkeiten erblicken, alle Aussichten seien „lohnend“, vor jeden Gletscher werde ein Teleskop eingeschraubt, die Heimat werde zur Ansichtskarte und die Welt zu einem Reiseprospekt, kurz, die Kultur gehe im Tourismus auf — es lebe den Kultourismus!

Das Geniale an der Sache ist, daß man sie nicht merkt. Was kann unschuldiger sein als Reisen, als Festspiele? Doch das wächst, bis endlich der Prozeß des Zeigens in seiner Bedeutung dem, was gezeigt wird, die Balance hält. Und plötzlich ist dann alles umgekehrt: die Werte sind nur noch da, um vorgezeigt zu werden. Die Bolschewiken z. B. waren so naiv,. Gottlosenvereine zu, gründen. Aber sowas tut man doch nicht... Um Teufels willen, alles ruhig stehen lassen: alles i s t, und ist dabei doch nicht, sondern nur noch wegen des Fremdenverkehrs — so wie ein Stuhl, der innerlich von Termiten ausgefressen ist, bloß deshalb nicht zu Staub zerfällt, weil diese das Tageslicht scheuen.

So, nun haben Sie, hoffe ich, die Bedeutung des Massenreisens begriffen: wo lauter Zuschauer kommen, ziehen sich die Einheimischen Volkstrachten an und beginnen womöglich zu tanzen. Das Reisen ist nicht mit lächerlichen Moskitos zu stören, sondern mit allen Mitteln zu fördern. Wenn Sie das jetzt noch nicht begriffen haben, junger Mann, könnte unsere Direktion Sie selber auf Reisen schicken, unstet und flüchtig, in eine sehr heiße Gegend, verstanden!..

Zitternd verließ der Reiseteufel seinen Chef und machte sich zitternd an die Arbeit. Aber da sieht man wieder, wie unoriginell solche Burschen sind: ihm ist wirklich nichts Besseres eingefallen, als sämtliche Punkte des Programms mit geradezu sklavischer Genauigkeit durchzuführen!

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