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NAHER ABSCHIED - NEUES JAHR

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Wenn sich ein Jahr dem Ende zuneigt, bereitet sich in uns, euch ohne daß wir es wollten, eine Rückschau vor über alles, was uns sein Ablauf an Bereicherung unseres Lebensgefühls wie an Enttäuschungen und Verlusten gebracht hat. Mit nachdrücklicherem Dank als sonst gedenken wir aller positiven Werte, die uns zugewachsen sind, und nehmen wehmütig noch einmal Abschied von so manchem, was nicht bei uns bleiben konnte. Deutlicher auch wird uns die Umformung bewußt, die die Welt in einem Jahr erfahren hat, und zusammenhängend damit die Veränderungen des Weltbildes, wie wir es, mannigfach uns bestimmend, in unserem Inneren tragen. Aber während sich unsere Gedanken noch also zurückwenden, drängt unser Gefühl stärker schon wieder nach vorwärts. Übermächtig geht es über alle Genugtuung und Trauer hinweg und sammelt unsere Hoffnungen über dem neuen Jahr, das aller Möglichkeiten so voll und unseren Erwartungen gegenüber stets wieder so sicher erscheint. Und auch, wenn es um uns dunkel ist. über ihm liegt wieder ein Glanz, der uns anzieht. Die Hoffnung, eines der göttlichen Lieblingskinder, muß in dieser Zeit ihren Geburtstag haben, so jung tritt sie uns wieder entgegen, mit voll geschwellten Segeln, von einer langen Fahrt, die ins Unbekannte führt.

Es ist ein nur zu begreifliches Verlangen, wenn wir vor Antritt einer solchen Reise die Route kennenlernen wollen, in der wir uns bewegen werden, die Weite und Art der Linien, die ihr bestimmt sind, sei es, daß sie geradeaus führen, auf langem oder kurzem Weg, sei es, daß sie breit ausladen oder sich noch mehr verengen, daß sie klar an ein Ziel führen oder in Wirrnisse uns verstricken. Der menschliche Spieltrieb und sein Aberglaube haben auch für diesen Wunsch etwas erfunden, das sich als Silvesterbrauch schon lange erhält, das Bleigießen. Die Hand, die die fügsame Materie in einem Löffel zum Schmelzen bringt, fühlt sich stolz, als gehörte sae einem Meister über das Leben am, uralter Zauber der Alchimie liegt über dem Raum, denn es ist ja immer eine goldene Zukunft, von der wir träumen. Aufzischend stürzt das geschmolzene Blei ins Wasser, der kurze Wahn, als wären wir die Herren des Schicksals, ist jäh abgerissen, und wir starren auf Formen, die wir als Abdruck unseres künftigen Lebensweges nehmen. Doch auf welche Weise immer wir uns unterfangen, ein Kommendes zu bestimmen, es bedarf unserer menschlichen Auslegung, um es zu fassen. Und auch hier ist es wieder die Hoffnung, die uns führt. Sie läuft über die Linien hin. bettet sich in gelegene Stellen und klammert sich an die fragwürdigen Enden des Gusses. Sie gibt uns die Sicherheit, einem unentschiedenen Eindruck bestimmte Worte zu geben, sie setzt uns unter das Hochgefühl intuitiver Voraussicht, und eine sich etwa einschleichende Bangigkeit, ob nicht in der unseren Augen hingestreuten Zukunft auch für uns eine schwarze Kugel mitgelaufen ist, erscheint höchstens als vorübergehende Verbeugung vor dem Neid alles Schicksals.

Wie sich am goldenen Bande der Hoffnung ein Jahr in das andere hinüberzieht, so werden wir mit zunehmendem Alter auch gewahr, daß sich allmählich das Objekt aller Hoffnung verwandelt und sie übergeht von einer Generation in die nächste. Je weiter unsere Rückschau greift und mit reicher Last uns belädt, desto dünner wird die Hoffnung über unserem Haupt, und wir sammeln ihren erhellenden Schein über unseren Kindern, durch die •wir übergehen in die Unendlichkeit der Jahre. Es ist eine Weitergabe, die uns nicht ärmer macht und die wir als Glück empfinden, wie ja Selbstlosigkeit für uns immer auch eine Entlastung bedeutet, ein Freierwerden in einer höheren und reineren Luft.

Wie aber jeder Aufschwung eben des Schwingens wegen Ruhepunkte braucht, wo er seine Kräfte sammelt und sich aller Energien besinnt, um nach einem tiefen Einatmen in stärkerem

Schwung wieder aufzuschnellen, so ist jedes Jahresende ein solches Ausruhen, in dem die allmählich nachlassende Bewegung einen Moment lang auch ausläßt, bevor sie verjüngt wieder empordrängt. Dieses ruckweise Vorwärtsgehen unseres inneren Lebens macht die Jahresabschnitte, in denen wir Abschied nehmen, um neu zu beginnen, zu Stationen der Besinnung und Sammlung. Wir erinnern uns auf lange Jahre zurück solcher Stunden an Silvesterabenden, wo wir unseren unmittelbarsten Angelegenheiten tiefer und ruhiger ins Auge schauten, erinnern uns mancher Neujahrsgänge, an denen Entschlüsse reiften, die unser Leben bestimmt haben. Da aber jede Bewegung in uns bald auch eine Gegenbewegung auslöst, so haben wir das Bedürfnis, uns gleichzeitig nach außen hin so ausgelassen als nur möglich zu zeigen. Worin immer wir sonst eingeschlossen sind, in unsere Häuslichkeit oder die Rücksichten einer Stellung, in Zufriedenheit oder Stolz, wir brechen aus den Pflichten wie der Gewohnheit unserer Tage und tauchen in einer Stunde des Jahres unter in dem Jungbrunnen gemeinsamer Laune. Das geht so weit, daß es in vielen Ländern Sitte ist, um Mitternacht trotz Winterkälte die FensteT zu öffnen, sich von Haus zu Haus zuzurufen oder auf die Gasse hinunterzueilen. Die Leute stehen auf den Baikonen und drängen sich in den Fenstern, zwischen ihnen und den Passanten auf der Straße gibt es keine Mauern und Stockwerke mehr. Die in der Einsamkeit unseres Herzens vor sich gegangene innere Schau wurde abgelöst von einem unbändigen Drang, sich unter Menschen zu mischen und in ihrer Menge unterzugehen. Die Straße wird in diesen Städten zur Szene allgemeiner Ausgelassenheit, und wer sich in seine Besonderheit verkriechen oder in dem vorhergegangenen Ernst sich versteifen wollte, wird zur Zielscheibe des Spottes. Wo immer Kinder sind, in diesen Tagen des Übergangs von einem Jahr in das nächste, stehen sie in der Mitte unseres Beisammenseins.

Unwillkürlich denken wir dann auch selber in die Zeit zurück, in der wir solche Kinder waren und so unendlich viele Tage vor uns wähnten, daß wir den Anbruch einer neuen Reihe von ihnen aber auch schon gar nicht bedrückend empfanden und uns froh nur dem festlichen Vorwand überließen. Teure Schatten stehen wieder vor uns auf, und wir fühlen uns von ihrer Liebe wie einst umhütet, unbesorgt sehen wir uns als Glieder eines großen Kreises, der seiner Schäfchen nicht vergessen wird. Während wir der uns vertrauten Gestalten gedenken, die unser Gedächtnis in der Fröhlichkeit einer solchen Stunde bewahrt hat, kommen wir immer auch auf einen wunden Punkt von damals, einen mißlaunigen Gast, der nicht mittun wollte und für die anderen eine Gefahr bedeutete, zu der man nur ängstlich zu schielen wagte Da war es ein böser Onkel, der auf kein freundliches Wort antwortete und höchst ungesellig in seinem störrischen Trotz verharrte, dort wieder eine Tante, die von irgendeinem harmlosen Worte beleidigt worden war oder sich nur nicht genügend geschätzt glaubte und die gute Laune der übrigen durch einen Mißton verdarb. Man munkelte von diesem oder jenem Anlaß zu dem unliebsamen Ereignis und wandte alle Vorsicht daran, es zu keinem lauten Ausbruch kommen zu lassen. Heute, wo der Druck des Augenblicks längst,von solchen Stunden gewichen ist, erkennen wir, wie auch da blpß ein einsames Herz gelitten hat und sich glaubte verhärten zu müssen, um-seinen Jammer nicht zu verraten und in Tränen, die ihm ganz nahestanden, vor glücklicheren Mitmenschen auszubrechen. Halten wir uns nur das Bild solcher Menschen deutlich vor Augen, lernen wir sie begreifen als die, die das Leben einmal nicht anders hat werden lassen, und wir werden vielleicht selber davor bewahrt, unter solcher Maske vor unseren Lieben zu erscheinen.

Jahresende der Einsamen. Nie kommt dem Alleinstehenden oder dem einsam Gewordenen der Schmerz seiner Verlassenheit so deutlich zum Bewußtsein wie in dieser Zeit, die die Familie in ihre eigene Welt zusammenschließt und sie ihrer Zusammengehörigkeit sich erfreuen läßt. Wen ein solches Glück aber verlassen hat, oder der es in seinem Leben nicht hat finden können, der braucht sich deshalb von der Welt nicht ausgeschlossen zu glauben und in seinem Schmerz verschlossen sich zu verstocken, andere Zusammenhänge stehen für ihn offen, und er kann sich in sie lösen. Auch auf ihn wartet eine Welt, die ihn braucht und ihm zu danken vermag. Die Welt der Schönheit, wenn ihm Sinn dafür gegeben ist, die Menschenliebe, wenn er zu schenken bereit ist, und die alles erst noch umfassende Welt des Glaubens, die für jeden eine Tür offen hat. Dann wird auch in diesen Tagen die Hoffnung nicht mit leeren Händen vor ihm stehen, und er mag, wie er in seiner nahen Welt nicht gebunden ist, in der Weite menschlicher Bemühung, die nur ihm so frei überlassen ist, sein gehörig Teil an Glück finden. Er banne nur die Scheu aus seinem Herzen und halte sich den Stimmen offen, dde ihn von überallher rufen, und die ihn nicht mehr verlassen werden, sobald er sie nur einmal gehört hat.

Bitterer noch steht die Armut vor dem Tor eines neuen Jahres. Sie, die von härteren Schmerzen gezeichnete Stiefschwester der Einsamkeit, ist in die Ordnung der Welt, die sonst so reichlich an Ersatz denkt und ihn gibt, nicht so leicht wieder zu fügen, und es bleibt ein trauriger Rest, der nicht mehr aus den eigenen Beständen zu ersetzen ist, und der Mithilfe aller bedarf. So ist es gerade die Zeit, in der ein Jahr in das andere übergeht wo uns auch der Zusammenhang aller Menschen und Dinge fühlbarer als sonst wird und wir von dem Gedanken an ein solches Ineinanderwirken der Schöpfung förmlich gedrängt werden, auch für den Nächsten einzustehen und ihn nach unseren Kräften weiterzubringen. Aber auch für den in Armut Gefallenen kann es oft eine Linderung bedeuten, wenn er nicht so sehr auf das sieht, was ihm genommen wurde odeT versagt ist, sondern auf jenes, das ihm trotz allem noch geblieben, und wären es auch nur kleine Freuden, gehäuft werden sie für ihn vielleicht doch ein Halt und damit auch Anlaß zu neuer Hoffnung sein.

Dieses Zuendegehen eines JahTes und seine Erlösung in den wiederaufsteigenden Tagen hat auch die Dichter immer wieder angezogen, sie haben darin ein Gleichnis für unser Leben gefunden und es vielseitig ausgedeutet. Seinen umfassendsten Sinn und größten Ausdruck hat wohl Goethe in seinem Gedicht „Selige Sehnsucht“ des Westöstlichen Diwans zu sagen vermocht, mit dem berühmten: „Und solange du das nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“ Auch über dem Jahr selbst liegt einmal das Mysterium deT Schöpfung, das nur unseren Sinnen nicht faßbar ist und sie höchstens in Augenblicken berührt.

Am dem von Imt von Tobtsclt herausgegebenen NacMaS Erhard Buchbecks, ..JMimn Amtrtaatt'. erschienen Im Verlag „Du Bergland-Bnch', Salzburg — Stuttgart

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