Zu Beginn des Jahrtausends
Aus dem Schreiben "Novo millennio ineunte" Papst Johannes Pauls II. zum Abschluss des Jubiläumsjahres.
Aus dem Schreiben "Novo millennio ineunte" Papst Johannes Pauls II. zum Abschluss des Jubiläumsjahres.
Apostolisches Schreiben NOVO MILLENNIO INEUNTE Seiner Heiligkeit Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe, den Klerus, die Ordensleute und an die Gläubigen zum Abschluss des Großen Jubiläums des Jahres 2000.
1. Zu Beginn des neuen Jahrtausends, während das Große Jubiläum zu Ende geht, in dem wir die zweitausend Jahre zurückliegende Geburt Jesu gefeiert haben, und sich für die Kirche ein neuer Wegabschnitt eröffnet, hallen in unserem Herzen die Worte wider, mit denen einst Jesus, nachdem er vom Boot des Simon aus zur Volksmenge gesprochen hatte, den Apostel aufforderte, zum Fischen auf den See hinauszufahren: "Duc in altum!" (Lk 5,4). Petrus und die ersten Gefährten vertrauten dem Wort Christi und warfen ihre Netze aus. "Das taten sie und fingen eine große Menge Fische" (Lk 5,6).
[...]
3. Vor allem, liebe Brüder und Schwestern, müssen wir uns auf die Zukunft hin ausrichten, die auf uns wartet. Viele Male haben wir in diesen Monaten auf das neue Jahrtausend geblickt, das sich vor uns öffnet. So haben wir das Jubiläum nicht nur als Erinnerung an die Vergangenheit gelebt, sondern als Prophezeiung der Zukunft. Jetzt gilt es, die empfangene Gnade zu beherzigen und sie in eifrige Vorsätze und konkrete Maßstäbe zum Handeln umzusetzen. Zu dieser Aufgabe möchte ich alle Ortskirchen einladen. [...]
I. Die Begegnung mit Christus, das erbe des grossen Jubiläums [...]
Reinigung des Gedächtnisses 6. Um einen klareren Blick für die Betrachtung des Geheimnisses zu bekommen, war dieses Jubiläumsjahr stark von der Bitte um Vergebung gekennzeichnet. Das galt nicht nur für die Einzelnen, die sich in Bezug auf ihr eigenes Leben befragten, um Erbarmen zu erflehen und das besondere Geschenk des Ablasses zu erhalten, sondern für die ganze Kirche, die an die Treulosigkeiten erinnern wollte, mit denen viele ihrer Söhne und Töchter im Laufe der Geschichte Schatten auf ihr Antlitz als Braut Christi geworfen hatten.
Auf diese Gewissensprüfung haben wir uns lange vorbereitet. Dabei waren wir uns bewusst, dass die Kirche, die in ihrem eigenen Schoß Sünder umfasst, "zugleich heilig ist und stets der Reinigung bedürftig". [...]
Die Zeugen des Glaubens 7. Das lebendige Bewusstsein der Buße hat uns jedoch nicht daran gehindert, den Herrn für das zu preisen, was er in allen Jahrhunderten und besonders in dem Jahrhundert, das wir soeben hinter uns gelassen haben, dadurch gewirkt hat, dass er seiner Kirche eine große Schar von Heiligen und Märtyrern zugesichert hat. Für einige von ihnen war das Jubiläumsjahr auch das Jahr der Selig- oder Heiligsprechung. Die Heiligkeit, die Päpsten mit geschichtlichem Ruf oder einfachen Laien und Ordensleuten zuerkannt wurde, ist mehr denn je als die Dimension offenkundig geworden, die das Geheimnis der Kirche am besten zum Ausdruck bringt. Als beredte Botschaft, die keiner Worte bedarf, stellt sie auf lebendige Weise das Angesicht Christi dar.
Viel ist sodann anlässlich des Heiligen Jahres geschehen, um die kostbaren Erinnerungen an die Glaubenszeugen des 20. Jahrhunderts zu sammeln. Ihrer haben wir gemeinsam mit den Vertretern der anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften am 7. Mai 2000 am Kolosseum gedacht, einem eindrucksvollen Schauplatz und Symbol der alten Christenverfolgungen. Es ist ein Erbe, das nicht verloren gehen darf, das einer ständigen Dankespflicht und einem erneuerten Vorsatz zur Nachahmung anvertraut werden muss. [...]
Die jungen Menschen 9. Zu den zahlreichen Jubiläumsbegegnungen haben sich die verschiedensten Personengruppen eingefunden, eine wahrhaft eindrucksvolle Beteiligung, die den Einsatz sowohl der kirchlichen als auch der zivilen Organisatoren und Animatoren mitunter auf eine harte Probe gestellt hat. Ich will diesen Brief dazu benutzen, um allen meinen ganz herzlichen Dank auszusprechen. Was mich aber, abgesehen von den Pilgerzahlen, immer wieder tief ergriffen hat, war die Ernsthaftigkeit des Gebets, der Reflexion und der Gemeinschaft, die bei diesen Begegnungen zum Ausdruck kam.
Und sollte man sich nicht besonders an das ebenso fröhliche wie begeisternde Treffen der Jugendlichen erinnern? Wenn es ein Bild des Jubiläumsjahres 2000 gibt, das uns lebendiger als andere im Gedächtnis bleiben wird, so ist es sicherlich jenes Bild von der Masse von Jugendlichen, mit denen ich an dem Faden einer gegenseitigen Sympathie und eines tiefen Einvernehmens eine Art privilegierten Dialog anknüpfen konnte. [...]
Die ökumenische Dimension 12. [...] Besondere Beachtung hatte ich in der Programmplanung des Jubiläumsjahres auch für die ökumenische Dimension verlangt. Welche günstigere Gelegenheit als die gemeinsame Feier der Geburt Christi könnte es geben, um für den Weg zur vollen Gemeinschaft Mut auszusprechen? Zu diesem Ziel wurden viele Anstrengungen unternommen; die ökumenische Begegnung am 18. Januar 2000 in der Basilika St. Paul vor den Mauern strahlt weiter. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde eine Heilige Pforte gemeinsam vom Nachfolger Petri, vom anglikanischen Primas und von einem Metropoliten des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel in Anwesenheit der Vertreter von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften aus der ganzen Welt geöffnet. Auf dieser Linie bewegten sich auch einige wichtige Begegnungen mit orthodoxen Patriarchen und Häuptern anderer christlicher Konfessionen. [...]
Die Wallfahrt ins Heilige Land 13. Und sollte ich mich etwa nicht an mein persönliches Jubiläum auf den Straßen des Heiligen Landes erinnern? Ich hätte es gern in Ur in Chaldäa begonnen, um mich gleichsam handgreiflich auf die Spuren Abrahams, unseres ÈVaters im GlaubenÇ (vgl. Röm 4,11-16) zu begeben. Doch musste ich mich mit einer lediglich geistlichen Etappe zufrieden geben. Es war die gehaltvolle "Wortgottesfeier", die am 23. Februar in der Aula Paul VI. stattfand. Unmittelbar danach folgte eine wahre und eigentliche Pilgerfahrt, die dem Ablauf der Heilsgeschichte nachging. So hatte ich die Freude, am Berg Sinai innezuhalten - dem Schauplatz der Übergabe des Dekalogs und des ersten Bundesschlusses. Einen Monat später nahm ich den Weg wieder auf. Ich pilgerte zum Berg Nebo und begab mich daraufhin an dieselben Orte, die der Erlöser bewohnt und geheiligt hat. [...]
An jenen Orten, die noch immer so geplagt sind und auch in jüngster Zeit von Gewalt heimgesucht werden, habe ich nicht nur vonseiten der Kinder der Kirche, sondern auch vonseiten der israelischen und palästinensischen Gemeinschaften eine außergewöhnliche Aufnahme erfahren dürfen. Tief ergriffen war ich, als ich an der Klagemauer betete und die Gedenkstätte Yad Vaschem besuchte, eine grauenvolle Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Jene Pilgerfahrt war ein Augenblick der Brüderlichkeit und des Friedens, den ich als eine der schönsten Gaben des Jubiläums bewahren möchte. [...]
Die internationale Verschuldung 14. Das Jubiläum war auch - anders konnte es gar nicht sein - ein großes Ereignis der Nächstenliebe. Schon in den Vorbereitungsjahren hatte ich eine größere und tätigere Beachtung der Probleme der Armut gefordert, die noch immer die Welt plagen. Besondere Bedeutung hat in diesem Szenarium die Frage der internationalen Verschuldung der armen Länder gewonnen. [...] Ich freue mich festzustellen, dass in letzter Zeit die Parlamente vieler Gläubigerstaaten über einen grundsätzlichen bilateralen Schuldenerlass für die ärmsten und am ärgsten verschuldeten Länder abgestimmt haben. Ich wünsche von Herzen, dass die betreffenden Regierungen diese parlamentarischen Beschlüsse bald in die Tat umsetzen. Als problematischer hat sich dagegen die Frage der multilateralen Schulden erwiesen, die von den ärmsten Ländern bei den internationalen Finanzorganen aufgenommen worden waren. [...]
Ein neuer Dynamismus 15. [...] Jetzt müssen wir nach vorn blicken, "hinausfahren auf den See", getreu dem Wort Christi: Duc in altum! Was wir in diesem Jahr getan haben, darf nicht als Rechtfertigung für ein Gefühl der Selbstzufriedenheit dienen. Noch weniger darf es uns dazu verleiten, die Hände in den Schoß zu legen. Im Gegenteil: Die Erfahrungen, die wir machen durften, sollen in uns einen neuen Dynamismus wecken, indem sie uns dazu anspornen, den erlebten Enthusiasmus in konkrete Initiativen einzubringen. Jesus selbst ermahnt uns: "Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes" (Lk 9,62) Wenn es um das Himmelreich geht, ist keine Zeit dafür, zurückzublicken und noch weniger, sich in Faulheit zu betten. Vieles wartet auf uns, und deshalb müssen wir anfangen, ein wirksames seelsorgliches Programm für die Zeit nach dem Jubiläum aufzubauen. [...]
II. DAS ANTLITZ, DAS ES ZU BETRACHTEN GILT 16. "Wir wollen Jesus sehen" (Joh 12,21). Diese Bitte wurde von einigen Griechen, die als Pilger zum Paschafest nach Jerusalem gekommen waren, an den Apostel Philippus gerichtet. In diesem Jubiläumsjahr ist sie auch uns geistig in den Ohren geklungen. Wie jene Pilger vor zweitausend Jahren, so bitten die Menschen unserer Zeit, wenn auch nicht immer bewusst, die heutigen Gläubigen, nicht nur von Christus zu "reden", sondern ihnen Christus zu zeigen, ihn gleichsam "sehen" zu lassen. Ist es etwa nicht Aufgabe der Kirche, das Licht Christi in jeder Epoche der Geschichte widerzuspiegeln, sein Antlitz auch vor den Generationen des neuen Jahrtausends erstrahlen zu lassen?
Unser Zeugnis wäre jedoch unerträglich armselig, wenn wir nicht zuerst Betrachter seines Angesichtes wären. Das Große Jubiläum hat uns sicherlich geholfen, tiefer in diese Betrachtung hineinzufinden. Während wir nach Abschluss des Jubiläums den gewöhnlichen Weg wieder aufnehmen und dabei den Reichtum der in diesem ganz besonderen Jahr erlebten Erfahrungen im Herzen tragen, bleibt der Blick mehr denn je auf das Antlitz des Herrn gerichtet.
[...]
III. NEU ANFANGENBEI CHRISTUS 29. "Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20). Diese Gewissheit, liebe Brüder und Schwestern, hat die Kirche zweitausend Jahre lang begleitet und wurde jetzt durch die Feier des Jubiläums in unseren Herzen neu belebt. Wir sollen daraus einen neuen Aufschwung im christlichen Leben schöpfen. Ja, das Jubiläumsjahr soll die inspirierende Kraft unseres Weges werden. Im Wissen darum, dass der Auferstandene unter uns gegenwärtig ist, stellen wir uns heute die Frage, die an Petrus, der soeben seine Pfingstpredigt auf dem Platz in Jerusalem gehalten hatte, gerichtet wurde: "Was sollen wir tun?" (Apg 2,37). [...]
Vor uns liegt also das Werk der pastoralen Wiederbelebung: Eine Arbeit, die begeistert und uns alle einbezieht. Ich möchte jedoch zur allgemeinen Ermutigung und Orientierung auf einige pastorale Prioritäten hinweisen, die gerade die Erfahrung des Großen Jubiläums besonders eindringlich vor meinem Auge hat erstehen lassen.
Die Heiligkeit 30. Ohne Umschweife sage ich vor allen anderen Dingen: Die Perspektive, in die der pastorale Weg eingebettet ist, heißt Heiligkeit. Liegt darin nicht auch der letzte Sinn des Jubiläumsablasses, jener besonderen Gnade, die Christus anbietet, damit das Leben eines jeden Getauften gereinigt und aus der Tiefe heraus erneuert werde?
Ich wünsche mir, dass unter denen, die am Jubiläum teilgenommen haben, sich viele dieser Gnade erfreuen und sich dessen bewusst sind, dass die Gnade anspruchsvoll ist. Nach dem Jubiläum beginnt wieder der ordentliche Weg, doch der Hinweis auf die Heiligkeit bleibt mehr denn je ein dringendes Desiderat der Pastoral. [...]
Das Gebet 32. Für diese ÈPädagogik der HeiligkeitÇ braucht es ein Christentum, das sich vor allem durch die Kunst des Gebets auszeichnet. Das Jubiläumsjahr war ein Jahr intensivsten persönlichen und gemeinschaftlichen Betens. Aber wir wissen sehr wohl, dass auch das Gebet nicht ÈautomatischÇ vorausgesetzt werden kann. Beten muss man lernen, indem man diese Kunst immer aufs Neue gleichsam von den Lippen des göttlichen Meisters selbst abliest. So haben es die ersten Jünger getan: "Herr, lehre uns beten!" (Lk 11,1). Im Gebet entwickelt sich jener Dialog mit Christus, der uns zu seinen engsten Vertrauten macht: "Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch" (Joh 15,4). Diese Wechselseitigkeit ist der eigentliche Kern, die Seele des christlichen Lebens und die Voraussetzung für jede echte Seelsorge. [...]
IV. EINE ZUKUNFT DER LIEBE [...]
Eine Spiritualität der Gemeinschaft 43. Die Kirche zum Haus und zur Schule der Gemeinschaft machen, darin liegt die große Herausforderung, die in dem beginnenden Jahrtausend vor uns steht, wenn wir dem Plan Gottes treu sein und auch den tiefgreifenden Erwartungen der Welt entsprechen wollen. [...]
44. Auf dieser Grundlage werden wir uns im neuen Jahrhundert mehr denn je dafür einsetzen müssen, jene Bereiche und Hilfsmittel zu erschließen und zu entwickeln, die gemäß den großen Richtlinien des II. Vatikanischen Konzils dazu dienen, die Gemeinschaft zu stützen und zu sichern. Muss man da nicht vor allem an die besonderen Dienste an der Gemeinschaft denken, wie etwa das Petrusamt und, in enger Beziehung zu ihm, die bischöfliche Kollegialität? [...]
Auch was die Reform der Römischen Kurie, die Organisation der Synoden und die Arbeitsweise der Bischofskonferenzen betrifft, ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil viel geschehen. Aber es bleibt sicherlich noch viel zu tun, um die Möglichkeiten dieser Werkzeuge der Gemeinschaft besser zum Ausdruck zu bringen. Sind diese doch heute besonders notwendig, da man unverzüglich und wirkungsvoll auf die Probleme antworten muss, mit denen sich die Kirche in den sich überstürzenden Veränderungen unserer Zeit auseinanderzusetzen hat.
45. Die Räume der Gemeinschaft müssen im gesamten Leben jeder Kirche Tag für Tag auf allen Ebenen gepflegt und ausgeweitet werden. Hier muss die Gemeinschaft zum Strahlen kommen in den Beziehungen zwischen Bischöfen, Priestern und Diakonen, zwischen Hirten und dem ganzen Volk Gottes, zwischen Klerus und Ordensleuten, zwischen kirchlichen Vereinigungen und Bewegungen. Zu diesem Zweck muss man die vom Kirchenrecht zur Mitarbeit in der Teilkirche vorgesehenen Organe, wie die Priester- und Pastoralräte, immer besser zur Geltung bringen. Sie folgen zwar bekanntlich nicht den Kriterien der parlamentarischen Demokratie, weil ihre Arbeit Beratungs-und nicht Entscheidungscharakter hat, doch verlieren sie deshalb nicht an Bedeutung. Theologie und Spiritualität der Gemeinschaft bewirken nämlich ein wechselseitiges Zuhören zwischen Hirten und Gläubigen. Dadurch bleiben sie einerseits in allem, was wesentlich ist, a priori eins, und andererseits führt das Zuhören dazu, dass es auch in den diskutierbaren Fragen normalerweise zu ausgewogenen und gemeinsam vertretbaren Entscheidungen kommt.
Zu diesem Zweck müssen wir uns die alte pastorale Weisheit zu eigen machen, welche die Hirten, ohne jegliche Schmälerung ihrer Autorität, dazu ermutigte, das ganze Volk Gottes so weit wie möglich anzuhören. Bezeichnend ist, woran der heilige Benedikt den Abt des Klosters erinnert, wenn er ihn auffordert, auch die jüngsten Mitglieder zu befragen: "Der Herr offenbart oft einem Jüngeren, was das Bessere ist". Und der heilige Paulinus von Nola mahnt: "Wir wollen an den Lippen aller Glaubenden hängen, weil in jedem Gläubigen der Geist Gottes weht". [...]
Der ökumenische Einsatz 48. Was soll man sagen über die Dringlichkeit einer Förderung der Gemeinschaft in dem heiklen Bereich des ökumenischen Bemühens? Die traurige Hinterlassenschaft der Vergangenheit verfolgt uns noch über die Schwelle des neuen Jahrtausends hinaus. Die Feier des Jubiläums hat einige wahrhaft prophetische und ergreifende Zeichen gesetzt; aber es steht uns noch ein weiter Weg bevor.
Indem das Große Jubiläum unseren Blick auf Christus hinlenkte, hat es uns die Kirche als Geheimnis der Einheit wieder bewusster gemacht. "Ich glaube die eine Kirche": Was wir im Glaubensbekenntnis sprechen, hat seine letzte Grundlage in Christus (vgl. 1 Kor 1,11-13), in dem die Kirche nicht geteilt ist. Insofern die Kirche in der vom Geschenk des Geistes her gewirkten Einheit sein Leib ist, ist sie unteilbar. Die Wirklichkeit der Spaltung ist ein Ergebnis der Geschichte und eine Sache der Beziehung unter den Söhnen und Töchtern der Kirche, eine Folge der menschlichen Gebrochenheit im Hinblick auf die Annahme des Geschenks, das ständig von Christus, dem Haupt, in den mystischen Leib fließt. Jesus hat im Abendmahlssaal gebetet: "Alle sollen eins sein. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein" (Joh 17,21). Diese Bitte ist Offenbarung und Anrufung zugleich. Sie offenbart die Einheit Jesu Christi mit dem Vater als Quelle der Einheit der Kirche und immerwährendes Geschenk, das die Kirche in ihm auf geheimnisvolle Weise bis zum Ende der Zeiten empfängt. Diese Einheit, die sich trotz der dem Menschlichen eigenen Grenzen in der katholischen Kirche konkret verwirklicht, wirkt in verschiedenem Maß auch in den vielen Elementen der Heiligung und Wahrheit, die sich in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften finden. Diese Elemente sind der Kirche Jesu Christi eigene Gaben und drängen die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften unablässig zur vollen Einheit.
Das Gebet Jesu Christi erinnert uns, dass dieses Geschenk immer mehr angenommen und noch tiefer erfasst werden muss. Die Anrufung "ut unum sint" ist zugleich Imperativ, der verpflichtet, Kraft, die trägt und heilsamer Tadel für unsere Trägheit und Enge des Herzens. Nicht auf unseren Fähigkeiten, sondern auf dem Gebet Jesu fußt das Vertrauen, dass wir auch in der Geschichte zur vollen und sichtbaren Gemeinschaft mit allen Christen gelangen können.
Aus dieser Sicht eines nach dem Jubiläumsjahr erneuerten Weges blicke ich mit großer Hoffnung auf die Kirchen des Ostens und wünsche mir, dass jener Austausch von Gaben wieder voll einsetzen möge, der die Kirche des ersten Jahrtausends bereichert hat. Möge die Erinnerung an die Zeit, in der die Kirche mit "zwei Lungen" atmete, die Christen im Osten und im Westen anspornen, einen gemeinsamen Weg zu gehen in der Einheit des Glaubens und in der Achtung vor den legitimen Unterschieden, indem sie sich gegenseitig als Glieder des einen Leibes Christi annehmen und unterstützen.
Mit ähnlichem Engagement muss man den ökumenischen Dialog mit den Brüdern und Schwestern der anglikanischen Gemeinschaft und der aus der Reformation hervorgegangenen kirchlichen Gemeinschaften pflegen. Die theologische Gegenüberstellung über wesentliche Punkte des Glaubens und der christlichen Moral, die Zusammenarbeit in der Liebe und vor allem der großartige Ökumenismus der Heiligkeit werden mit Gottes Hilfe in Zukunft ihre Früchte tragen. Inzwischen setzen wir voll Zuversicht unseren Weg fort, während wir den Augenblick herbeisehnen, da wir zusammen mit allen Jüngern Christi ohne Ausnahme aus voller Kehle singen können: "Seht doch, wie gut und schön ist es, wenn Brüder miteinander in Eintracht wohnen" (Ps 133,1).
Auf die Liebe setzen 49. [...] Es ist sicher nicht zu vergessen, dass niemand von unserer Liebe ausgeschlossen werden darf. Denn "der Sohn Gottes hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt". Wenn wir uns aber an die unmissverständlichen Worte des Evangeliums halten, dann ist in den Armen Christus in besonderer Weise gegenwärtig, was der Kirche eine vorrangige Option für sie auferlegt. Durch diese Option wird die Art der Liebe Gottes, seine Fürsorge und sein Erbarmen, bezeugt. Außerdem werden in die Geschichte gewissermaßen jene Samenkörner des Gottesreiches ausgesät, die Jesus selbst in das Erdreich seines Lebens gelegt hat, indem er denen entgegenkam, die sich wegen aller möglichen geistigen und materiellen Nöte an ihn wandten. [...]
Die heutigen Herausforderungen 51. Wie könnten wir uns abseits halten angesichts eines voraussichtlichen ökologischen Zusammenbruchs, der weite Gebiete des Planeten unwirtlich und menschenfeindlich macht? Oder im Hinblick auf die Probleme des Friedens, der immer wieder durch den Alptraum katastrophaler Kriege bedroht ist? Oder angesichts der Verachtung der menschlichen Grundrechte gegenüber so vielen Personen, besonders den Kindern? Es gibt so viele Dringlichkeiten, die den Christen nicht kalt lassen dürfen.
Ein besonderes Engagement muss einigen Aspekten der Radikalität des Evangeliums gelten, die oft so wenig verstanden werden, dass sie die Intervention der Kirche unpopulär machen, die aber deshalb in der kirchlichen Agenda der Liebe nicht weniger präsent sein dürfen. Ich beziehe mich auf die Verpflichtung, sich für die Achtung des Lebens eines jeden Menschen von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Hinscheiden einzusetzen. In gleicher Weise erlegt uns der Dienst am Menschen auf, ob gelegen oder ungelegen auszurufen, dass alle, die von den neuen Möglichkeiten der Wissenschaft, besonders auf dem Gebiet der Biotechnologien, Gebrauch machen, niemals die grundlegenden Forderungen der Ethik miss-achten dürfen, selbst wenn dies unter Berufung auf eine fragliche Solidarität geschehen sollte, die in Geringschätzung der jedem Menschen eigenen Würde letztlich zwischen Leben und Leben unterscheidet. [...]
52. Das alles wird man natürlich in einem spezifisch christlichen Stil realisieren müssen: Bei diesen Aufgaben sollen vor allem die Laien in Erfüllung ihrer eigenen Berufung auf den Plan treten, ohne aber jemals der Versuchung nachzugeben, aus den christlichen Gemeinden Sozialagenturen zu machen. Besonders das Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft wird so gestaltet werden müssen, dass man deren Autonomie und Kompetenzen entsprechend den von der Soziallehre der Kirche aufgestellten Richtlinien Rechnung trägt.
Die Anstrengung ist bekannt, die das kirchliche Lehramt vor allem im zwanzigsten Jahrhundert unternommen hat, um die soziale Wirklichkeit im Licht des Evangeliums zu deuten und auf immer treffendere und eingehendere Weise ihren Beitrag zur Lösung der sozialen Frage, die inzwischen zu einem weltweiten Problem geworden ist, anzubieten. [...]
Dialog und Mission 54. Ein neues Jahrhundert, ein neues Jahrtausend öffnen sich im Lichte Christi. Doch nicht alle sehen dieses Licht. Wir haben die wunderbare und anspruchsvolle Aufgabe, sein Widerschein zu sein. [...]
Das ist eine Aufgabe, die uns bangen lässt, wenn wir auf die Schwachheit blicken, die uns so oft glanzlos macht und Schatten auf uns wirft. Doch die Aufgabe ist lösbar, wenn wir uns dem Licht Christi aussetzen und es fertigbringen, uns der Gnade zu öffnen, die uns zu neuen Menschen macht.
55. In dieser Sichtweise steht auch die große Herausforderung des interreligiösen Dialogs, für den wir uns auch noch im neuen Jahrhundert auf der vom Zweiten Vatikanischen Konzil angegebenen Linie einsetzen werden. In den Jahren der Vorbereitung auf das Große Jubiläum hat die Kirche auch durch Begegnungen von bemerkenswerter symbolischer Bedeutung versucht, ein Verhältnis der Öffnung und des Dialogs zu Vertretern anderer Religionen aufzubauen. Der Dialog muss weitergehen. In der Situation eines immer ausgeprägteren kulturellen und religiösen Pluralismus, wie man in der Gesellschaft des neuen Jahrtausends voraussehen kann, ist dieser Dialog auch wichtig, um eine sichere Voraussetzung für den Frieden zu schaffen und das düstere Gespenst der Religionskriege zu vertreiben, die viele Epochen der Menschheitsgeschichte mit Blut überzogen haben. Der Name des einzigen Gottes muss immer mehr zu dem werden, was er ist, ein Name des Friedens und ein Gebot des Friedens.
56. Der Dialog kann jedoch nicht auf den religiösen Indifferentismus gegründet sein. So haben wir Christen die Pflicht, ihn so zu entwickeln, dass wir das volle Zeugnis der Hoffnung, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15), vortragen. Wir brauchen uns nicht zu fürchten, dass das eine Beleidigung für die Identität des anderen sein könnte, was frohe Verkündigung eines Geschenkes ist: eines Geschenkes, das für alle bestimmt ist und das allen mit größter Achtung der Freiheit eines jeden angeboten werden soll. Es ist das Geschenk der Verkündigung des Gottes, der Liebe ist und "die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn hingab" (Joh 3,16). Das alles kann, wie es auch kürzlich von der Erklärung Dominus Iesus hervorgehoben wurde, nicht Gegenstand einer Art von dialogischer Verhandlung sein, so als ginge es für uns um eine bloße Meinung: Die Verkündigung dieses Geschenkes ist jedoch für uns eine Gnade, die uns mit Freude erfüllt, und eine Nachricht, die wir zu verkünden verpflichtet sind.
Deshalb kann sich die Kirche der missionarischen Tätigkeit gegenüber den Völkern nicht entziehen. So gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der missio ad gentes die Verkündigung, dass die Menschen die Fülle des religiösen Lebens in Christus finden, der "Weg, Wahrheit und Leben" ist (Joh 14,6). [...]
Im Licht des Konzils 57. Welchen Reichtum, liebe Brüder und Schwestern, bergen die Weisungen, die uns das Zweite Vatikanische Konzil gegeben hat! Deshalb habe ich bei der Vorbereitung auf das Große Jubiläum die Kirche um eine Prüfung bezüglich der Annahme des Konzils ersucht. Was ist daraus geworden? [...] Zum Abschluss des Jubiläums fühle ich mich mehr denn je dazu verpflichtet, auf das Konzil als die große Gnade hinzuweisen, in deren Genuss die Kirche im 20. Jahrhundert gekommen ist. In ihm ist uns ein sicherer Kompass geboten worden, um uns auf dem Weg des jetzt beginnenden Jahrhunderts zu orientieren.
Schluss Duc in altum!
58. Gehen wir voll Hoffnung voran! Ein neues Jahrtausend liegt vor der Kirche wie ein weiter Ozean, auf den es hinauszufahren gilt. Dabei zählen wir auf die Hilfe Jesu Christi. Der Sohn Gottes, der aus Liebe zum Menschen vor zweitausend Jahren Mensch wurde, vollbringt auch heute sein Werk. [...]
Aus dem Vatikan, am 6. Januar, dem Hochfest der Erscheinung des Herrn, des Jahres 2001, im 23. Jahr meines Pontifikates, Johannes Paul II.