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Diskretion—bitte!

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Wenn wir Menschen schon miteinander leben müssen, so wollen wir es uns nicht noch ichwerer machen, als es ohnehin ist. Die Eigenarten eines Mitbürgers, die Sonderlichkeiten und Absonderlichkeiten eines Nachbarn, die geliebten Fehler und die gehaßten Vorzüge der Verwandten — all das konkrete und individuelle Leben des Du geht uns irgendwann einmal auf die Nerven. Kommt das nicht letztlich daher, weil wir dieses Kreuz aus Einsamkeit und Gemeinschaft so mühsam zusammenhalten müssen, und uns davon kreuzigen zu lassen, der Sinn unseres Erdenlebens ist? Also sollten wir einander nicht noch mehr kreuzigen, als es unabdingbar notwendig ist. Um miteinander leben zu können, brauchen wir gewisse Formen. Zwischen Gott und den Menschen gibt es einen liturgischen Ritus : geformte Bewegung, feste Formeln, objektiv gestaltete Worte und Gesten, die in das Hin und Wider zwischen Gott und den Menschen eine Ordnung schaffen. Diese Ordnung ist uns dann gemeinsam. Das rituelle Gebet hindert keineswegs das persönliche und eigenste Gebet des Herzens: die Sprache des Herzens fährt am sichersten auf den Riten der Gemeinschaft aufs hohe Meer der Gottheit hinaus. Wir müssen nur mit dem innigen Eifer die Süßeren Riten erfüllen.

Aehnlich ist es unter uns Menschen. Auch zwischen uns gibt es Riten — festgelegte Formen, die unsere Gemeinschaftsordnung erträglich machen und uns gegenseitig vor den An-und Uebergriffen der mitmenschlichen Verrücktheiten schützen. Diese menschlichen Riten der Gesellschaft sind die Konventionen. Viele unserer Zeitgenossen (und leider sind es die jüngeren und aktiveren Zeitgenossen) meinen, sich über Konventionen hinwegsetzen zu dürfen. Sie begründen ihre Benimmlosigkeit damit, daß die konventionellen Formeln Lüge und Heuchelei seien. Halt-lä! So einfach ist es nicht, über angestammte Traditionen hinwegfahren zu dürfen, wie über eine glattgewichste Autostraße. Natürlich ist es blöde, wenn man zu einer Dame sagt: „Küß die Hand, gnädige Frau!“ — es aber weder meint noch gar tut. Ebenso unsinnig ist es, „Grüß Gott!“ zu sagen, wenn man Atheist aus Ueberzeugung oder Praxis ist. Selbstverständlich kann man darüber streiten, was sinnvoller ist; den Menschen, den man bevorzugt und ehrt, zuerst oder zuletzt durch eine Türe gehen zu lassen: läßt man ihn zuletzt gehen, sagt man: das Bessere komme immer zum Schluß; läßt man ihm den Vortritt, so folgt man unserer gegenwärtigen Konvention. Also hätte beides seine Berechtigung. Konventionen sind Uebereinkünfte der Menschen, wie sie am reibungslosesten und erträglichsten miteinander umgehen wollen. Die Formen sind an sich vertauschbar, denn sie sind Ueberein-kunft; die Formen sind auch „formal“, das heißt nichts anderes als äußeres Benehmen: ein äußeres Nehmen und Geben, wenn wir einander irgendwo begegnen. Mehr sollen diese Konventionen auch nicht aussagen.

Aber wir können sie mit Geist erfüllen, wie wir die rituellen Gebete mit dem Heiligen Geist erfüllen können. Wenn Konventionen nicht mehr sind als allgemeine Verkehrsregeln: rote, orange, grüne Lichtsignale — ist scnon viel gewonnen; denn dann werden die meisten Unglücke verhütet. So auch mit den gesellschaftlichen Konventionen: sie verhüten wenigstens die ärgsten Karambolagen, den unangenehmsten Aufeinanderprall der Menschen — beim Bäcker, in einem Büro, in der Universität, in der täglichen Familie. Das ist zwar noch nicht viel Geist, aber Verhinderung des wirklichen und wirkenden Ungeistes, des Hasses zwischen den Menschen. Liebe unter den Menschen sieht anders aus. Dazu müßten wir die Konventionen nicht als Unglücksverhinderung, sondern als Glücksvermehrung ansehen und betreiben.

Werden Konventionen nicht negativ, sondern positiv gehandhabt, so heißen sie D i s-k r e t i o n. Dann ist das Benehmen von Mensch zu Mensch mit Liebe gefüllt, mit dem Geist der Liebe „gehandhabt“.

Dazu ist notwendig, daß wir einander sehen. Daß wir einander nicht wie Dingen und Gegenständen und Widerständen begegnen, sondern wie Menschen: Persönlichkeiten, die voreinander Achtung haben. Wir müssen aufeinander achtgeben; wir müssen schauen, w e r da vor uns steht: ein Mensch, einmalig in seiner Gestalt und Art, unwiederholbar mit Name und Antlitz ausgezeichnet, von Gott gerufen als ein Geschöpf, vom himmlischen Vater berufen zum Reiche Gottes, von unserem Herrn Jesus Christus mit Blut und Leben erlöst und geliebt vom Heiligen Geiste, der in diesem uns begegnenden Menschen innewohnt. Wenn wir dies alles bei einer Begegnung einrechnen — es achten und darauf achten ohne Verkrampfung, sondern aus innerer Gewohnheit des Geistes —, dann haben wir Ehrfurcht voreinander. Der erste Schritt aus der bloßen Konvention in die Diskretion ist die Ehrfurcht. Hier „unterscheiden“ wir bereits: die Menschen sind uns nicht mehr ein bloßes Einerlei, ein komisches göttliches Eintopfgericht, in dem wir selbst uns allein wichtig nehmen wie eine Speckschwarte, die darin verborgen ist; wir unterscheiden den einen vom anderen und lassen ihn in seiner Be-sonderung gelten.

Sodann müssen wir diesem neuen Menschen, der täglich der gleiche und doch jedesmal ein neuer ist, Raum lassen. Jeder braucht seinen Raum zu seinem eigenen Leben. Wie wir eine-Pflanze nicht hemmen sollen, wie wir ein Tier nicht verbilden dürfen durch Zucht und Dressur, so sollen wir den Blumen, den Vögeln und den Mitmenschen Raum lassen. Daß jeder sich so entwickeln kann, wie es ihm guttut und wie es für ihn nötig ist.

Ferner wäre erforderlich, daß wir jedem Menschen das lassen und geben, was er vielleicht gar nicht will: seine Einsamkeit. Ein schlechter Freund, der seinen Freund auffrißt: der ihn so gefangennimmt, daß der andere kein eigenes Leben mehr führen kann und nicht „zu sich kommt“! Ein schlechter Liebhaber, der die Geliebte erziehen will: er liebte sie ja so, wie sie war, als er ihr begegnete, und er wird sie sicher nicht mehr lieben, wenn sie anders würde — selbst anders durch seine Erziehungskünste. So gibt es viele Menschen, die ihre eigene Einsamkeit nicht haben und leben wollen; die zu feige oder zu faul sind, sich dem inneren Leben, dem eigensten Rufe Gottes antwortend auszusetzen. Nimmt einer dem anderen diese Einsamkeit ab, so ist sicher keine Diskretion mehr da: die Unterscheidung der Einsamkeiten, die Gott sich in einem jeden persönlichen Menschenherzen schuf und eifersüchtig bewacht. Aus eigener Einsamkeit müssen wir einander die Einsamkeit kultivieren helfen: pflegen, was noch ungepflegt ist, fördern, was-noch ungekonnt ist. Aber niemals aus Liebe die Ehrfurcht verletzen — jene wundersame Unterscheidung der Geister und Herzen! Sonst sind wir durch die Konvention gerade in die Masse getaucht und keiner wird uns mehr davon erlösen — es sei denn, Gott locke die Einsamkeit mit anderen Mitteln aus uns heraus. So darf keiner der Einsamkeit des anderen im Wege stehen. Praktisch würde das heißen: es gibt Dinge, Geschehnisse, Geheimnisse im Leben unseres Mitmenschen, an die wir nicht rühren dürfen; auch nicht mit der sorgendsten und besorgtesten Liebe. Wir müssen sogar (wie der Vater des verlorenen Sohnes) zusehen können, wie einer viele Umwege macht und die elenden tausend vergeblichen Schritte um sich selbst. Für viele Menschen ist der objektive Umweg doch nur der persönliche direkte Weg. Es ist sogar wichtig, daß wir uns einmal sagen: es gibt Lebensgeheimnisse im Mitmenschen, an die zu denken schon gegen die Diskretion geht. Nicht einmal mit einem Gedanken sollen wir den anderen stören wollen oder in sein Geheimnis neugierig einzubrechen versuchen. Nicht der Wille, immer und überall zu helfen, ist schon der Wille der Liebe. Erst wenn die Ehrfurcht und das Raumlassen und die Pflege der Einsamkeit, wenn die Diskretion, die Unterscheidung der Geister zum Hilfewillen hinzukommt, ist der Wille Liebe geworden.

Oder soll der Gatte in seiner Gattin nicht deren Geheimnis des unvergänglichen Mädchen-tums bewahren, indem er ihr gestattet (durch Haltung und Diskretion gestattet), auch noch dies Mädchen zu bleiben, das sie einmal war? Ohne dieses Mädchentum, ohne die Brautschaft ist eine Gattin eine schlechte Gattin; und ist sie nicht auch die verschwenderische Geliebte, so wird sie auch nicht die Mutter der Kinder sein können. Aber dazu gehört dies innere Gespür des Gatten, diese seine Frau nicht in einem Aergernis der Ehe zugrunde zu richten. — Oder ist es nicht eine Indiskretion, wenn sich einer in die seelische, religiöse Entwicklung, in die geheimsten Gebete eines anderen Mensdhen einschleicht und ihm das Gottgeheimnis raubt? Es gehört viel behutsames Gespür dazu, daß wir einander nicht nur nicht stören, sondern einander helfen. Eine anspruchslose Achtung gehört zum Leben der Menschen untereinander. Wer an seinen Mitmenschen irgendwelche persönlichen oder materiellen Ansprüche stellt, geht ins Reich der Gerechtigkeit, bleibt nicht im Bereich der Liebe.

Ist's denn so eilig, das Leben? Haben wir nicht sehr viel Zeit: Zeit zu leben und leben zu lassen? Zeit, uns zu entwickeln und die Entwicklung anderer zusehend zu fördern? Wir haben immer so viel Zeit, als wir uns Zeit nehmen: zu leben, zu essen, zu arbeiten, zu allem, was der Tag und die Ewigkeit uns ins Erdenreich liefern. Wir können beruhigt langsam leben. Und je langsamer wir leben, um so mehr Zeit haben wir; je mehr Zeit wir haben, um so mehr Diskretion bringen wir auf; je mehr Diskretion wir haben, um so aufrichtiger werden die Konventionen des täglichen mitmenschlichen Lebens.

Es ist leicht, sich über Konventionen hinwegzusetzen — aber wie sollen wir dann erträglich miteinander leben? Wollen jvir aber wieder in ein gutes und menschliches Verhältnis zueinander kommen, wollen wir wirklich Frieden schaffen untereinander, dann müssen wir anfangen mit Konventionen, die durch Diskretionen lebendig sind: wir sollten die äußeren Liebereinkünfte zum erträglichen Leben in der menschlichen Gesellschaft mit dem Geist der Unterscheidung anfüllen: mit Ehrfurcht und Raumgeben, mit Pflege der alleinigen Einsamkeiten auf göttlichen Inseln, mit Anspruchslosigkeit und einem heiteren Degagement. Also: .Diskretion - bitte!“ Wir Menschen können nicht vornehm genug miteinander umgehen!

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